9
Don Carlos
»Die Leute werden denken, wir haben eine Affäre«, sagte Bobbie York. »All diese spontanen Besuche. Ich beklage mich nicht. Ich bin sehr diskret.«
»Danke, Bobbie«, sagte ich, ohne auf seinen Scherz einzugehen. »Sie sind schließlich mein Betreuer. Da ist es ganz normal, wenn ich Sie um Rat bitte.«
»Aber ja doch. Natürlich ist es das. Aber was soll ich einem raten, der schon so gut beraten ist wie Sie?«
Ich hatte Bérangères Stunde verschoben, damit ich ihn gleich am Morgen aufsuchen konnte. Ich wollte verhindern, dass er mich wieder mit Whisky abfüllte.
»Ich muss mit jemandem reden, der mir etwas über die britischen Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg sagen kann. MI5, MI6 und so weiter. SIS, COE, BSC. Sie wissen schon.«
»Tjaaaa«, sagte Bobbie. »Nicht gerade meine starke Seite. Ich spüre, dass Lord Mansfield angebissen hat.«
Sosehr Bobbie versuchte, den liebenswerten Trottel zu geben: Er war kein Dummkopf.
»Stimmt«, sagte ich. »Ich treffe ihn am Freitag, in seinem Club. Ich hab nur das Gefühl, dass ich mich noch ein bisschen kundig machen muss.«
»Eijeijei, das wird ein Drama. Sie müssen mir alles erzählen, Ruth. Ich bestehe darauf. Das scheint ein wahrer Reißer zu werden.«
»Schon versprochen«, sagte ich. »Ich tappe selbst ein bisschen im Dunkeln, um ehrlich zu sein. Sobald ich etwas weiß, werden Sie’s erfahren.«
Bobbie ging an seinen Schreibtisch und wühlte in einem Papierstapel. »Einer der wenigen Vorteile von Oxford ist, dass man einen Experten für beinahe jedes Thema vor der Nase sitzen hat. Von mittelalterlichen Astrolabien bis hin zu Teilchenbeschleunigern – wir können mit fast allem dienen. Ah, hier ist der Mann. Fellow im All Souls College. Timothy Thoms heißt er.«
»Timothy Thoms?«
»Ja. Thoms mit Th. Ich weiß, er klingt wie eine Kinderbuchgestalt oder eine Dickens-Figur, aber er ist garantiert hundertmal klüger als ich. Genauso wie Sie natürlich. Er wird sich also mit Ihnen vertragen wie der sprichwörtliche Hund mit der Katze. Ah, da ist er: Dr. T. C. L. Thoms. Bin ihm ein paarmal begegnet. Anständiger Kerl. Ich mache Ihnen einen Termin.« Er griff zum Telefon.
Bobbie sorgte dafür, dass ich Dr. Thoms zwei Tage später aufsuchen konnte. Ich ließ Jochen bei Veronica und Avril und ging ins All Souls, wo man mich zum Treppenaufgang von Dr. Thoms wies. Der Nachmittag war von einer drückenden Schwüle, die Sonne schien von einem schwefligen Dunstschleier umgeben. Ihr merkwürdig bedrohliches gelbes Licht verstärkte das Gelb der Ziegelmauern, und einen Moment lang glaubte ich – hoffte ich –, dass es ein Gewitter geben würde. Der Rasen im Innenhof hatte die Farbe von Wüstensand.
Als ich an Dr. Thoms’ Tür klopfte, öffnete mir ein kräftiger junger Mann mit Jeans und T-Shirt – ich schätzte ihn auf Ende zwanzig –, jedenfalls hatte er lockiges braunes Haar, das sich bis auf seine Schultern wellte, dazu einen fast schon peinlich korrekt getrimmten Bart, der eigentlich nur aus Ecken und Kanten bestand.
»Ruth Gilmartin«, sagte ich. »Ich suche Dr. Thoms.«
»Sie haben ihn schon gefunden. Kommen Sie herein.« Er hatte einen starken Yorkshire- oder Lancashire-Akzent – die konnte ich nie auseinanderhalten.
Wir setzten uns in sein Arbeitszimmer; sein Angebot einer Tasse Tee oder Kaffee lehnte ich ab. Mir fiel auf, dass ein Monitor auf seinem Schreibtisch stand, der aussah wie ein Fernseher. Er hatte – das wusste ich von Bobbie – über Admiral Canaris und die Infiltration seiner Abwehr durch die MI5 im Zweiten Weltkrieg promoviert. Jetzt schrieb er für »gewaltige Geldsummen« an einem »gewaltigen Buch«, das die Geschichte des britischen Geheimdiensts von 1909 bis zur Gegenwart behandelte. »Ich glaube, er ist Ihr Mann«, hatte Bobbie gesagt, nicht ohne Stolz auf seine guten Verbindungen.
Thoms fragte, wie er mir helfen könne, also erzählte ich ihm so behutsam und vage, wie es nur ging – schließlich war ich in diesen Dingen nicht sehr bewandert –, dass ich vorhätte, einen Mann zu interviewen, der während des Krieges eine ziemlich hohe Position beim Geheimdienst innehatte. Ich sei auf einige Hintergrundinformationen angewiesen, insbesondere zu der Frage, was sich 1940 und 1941 in Amerika abgespielt hatte – vor Pearl Harbor.
Thoms bemühte sich gar nicht erst, sein erwachtes Interesse vor mir zu verbergen.
»Ach wirklich«, sagte er. »Da muss er ein hohes Tier bei der British Security Coordination gewesen sein.«
»Ja«, bestätigte ich. »Aber ich habe den Eindruck, dass er so etwas wie ein Freiberufler war – sein eigenes kleines Kommando hatte.«
Jetzt stutzte Thoms erst richtig. »Da gab es ein paar … Irreguläre, aber die wurden im weiteren Kriegsverlauf alle aus dem Verkehr gezogen.«
»Ich kenne eine Quelle, die für diesen Mann gearbeitet hat.«
»Verlässlich?«
»Ja. Diese Quelle hat für ihn erst in Belgien gearbeitet, dann in Amerika.«
»Verstehe«, sagte Thoms beeindruckt und musterte mich fasziniert. »Ihre Quelle könnte auf einer Goldmine sitzen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er könnte ein Vermögen mit seiner Geschichte machen.«
Er. Interessant. Lassen wir’s dabei, dachte ich mir. Und an Geld hatte ich überhaupt noch nicht gedacht.
»Wissen Sie über den Prenslo-Zwischenfall Bescheid?«
»Ja. Ein Desaster. Hat eine riesige Lücke gerissen.«
»Die Quelle war dort.«
Thoms sagte nichts, nickte nur mehrere Male. Seine Erregung war mit Händen zu greifen.
»Haben Sie von einer Organisation namens AAS Ltd. gehört?«, fragte ich.
»Nein.«
»Sagt Ihnen der Name ›Mr X‹ etwas?«
»Nein.«
»Transoceanic Press?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wer 1941 ›C‹ war?«
»Ja, natürlich«, erwiderte er jetzt. »Diese Namen kommen jetzt hoch -jetzt, wo die ganze Enigma- und Bletchley-Park-Geschichte enthüllt ist. Die alten Agenten reden – oder drücken sich so aus, dass man zwischen den Zeilen lesen kann. Aber«, er beugte sich vor, »das Aufregende ist – und deshalb bricht mir ein bisschen der Schweiß aus, um ehrlich zu sein: Was der SIS in der Anfangszeit in den USA gemacht hat beziehungsweise die BCS in seinem Namen, ist noch immer die graueste aller Grauzonen. Niemand will darüber reden. Ihre Quelle ist die erste, von der ich höre – eine, die wirklich im Operationsgebiet war.«
»Es war für mich ein Glücksgriff«, sagte ich vorsichtig.
»Kann ich Ihre Quelle treffen?«
»Nein, ich fürchte, nicht.«
»Weil ich eine Million Fragen habe, wie Sie sich denken können.« Ein seltsames Funkeln war jetzt in seine Augen getreten – der Jagdeifer eines akademischen Spürhunds, der frische Witterung aufnimmt, der erfährt, dass es da draußen eine unverwehte Spur gibt.
»Ich könnte aber etwas darüber aufschreiben«, schlug ich behutsam vor, »in groben Umrissen, damit Sie sehen, ob das für Sie überhaupt von Bedeutung ist.«
»Großartig. Ich stimme mit Freuden zu«, sagte er und lehnte sich zurück, als würde er die Tatsache, dass ich zum Beispiel eine Angehörige des weiblichen Geschlechts war und nicht einfach eine neue Informationsquelle, erst jetzt zur Kenntnis nehmen.
»Kommen Sie mit auf einen Schluck ins Pub?«, fragte er.
Wir überquerten die High Street, und in einem kleinen Pub nahe dem Oriel College gab er mir einen komprimierten Überblick über die Operationen von SIS und BSC vor Pearl Harbor, soweit er sie verstand, und ich begann meinerseits, ein wenig von dem Kontext zu begreifen, in der sich die Abenteuer meiner Mutter abgespielt hatten. Thoms sprach flüssig und mit ziemlichem Eifer über diese geheime Welt mit ihren verschwiegenen Netzwerken – mitten in Manhattan war offensichtlich ein kompletter britischer Sicherheits- und Geheimdienstorganismus etabliert worden, Hunderte von Agenten, die es darauf abgesehen hatten, Amerika zum Eintritt in den europäischen Krieg zu drängen, obwohl sich die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung nachdrücklich dagegen aussprach.
»Wirklich erstaunlich, wenn man sich das mal überlegt. Ohne Beispiel …« Er stockte plötzlich. »Warum schauen Sie mich so an?«, fragte er ein wenig verunsichert.
»Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«
»Ja, bitte.«
»Ich frage mich, ob sich die Frisur nicht mit dem Bart verträgt oder der Bart nicht mit der Frisur.«
Er lachte. Fast schien es, als hätte er Freude an meiner direkten Art.
»Normalerweise trage ich überhaupt keinen Bart. Ich brauche ihn für eine Rolle.«
»Eine Rolle?«
»Im Don Carlos, der Oper. Ich spiele den spanischen Edelmann Rodrigo.«
»Ist die nicht von Verdi? Und Sie können also singen.«
»Wir sind eine Amateurtruppe«, erklärte er. »Im Playhouse geben wir drei Aufführungen. Sie können gern kommen.«
»Warum nicht, wenn ich einen Babysitter finde«, sagte ich. Das schreckte sie normalerweise ab. Aber nicht Thoms, und mir schwante langsam, dass sich sein Interesse an mir nicht auf meine Kenntnisse über die BSC beschränkte.
»Dem entnehme ich, dass Sie unverheiratet sind.«
»Das stimmt.«
»Wie alt ist Ihr Kind?«
»Fünf.«
»Bringen Sie es mit. Für die Oper ist man nie zu jung.«
»Na, vielleicht«, sagte ich.
Wir plauderten noch ein bisschen, und ich versprach, ihn anzurufen, wenn ich mit meiner Aufzeichnung fertig wäre – es seien noch weitere Informationen zu erwarten. Er blieb im Pub sitzen, und ich lief durch die High Street zu meinem Wagen. Ein paar Studenten in schwarzen Umhängen kamen, singend und Champagnerflaschen schwenkend, aus dem University College. Lachend und schreiend zogen sie davon. Prüfungen bestanden, dachte ich, das Semester ist fast vorbei, und vor ihnen liegt ein heißer Feriensommer. Plötzlich kam ich mir steinalt vor, ich dachte an meine eigenen Prüfungsfeiern – eine Ewigkeit her, wie mir schien –, und der Gedanke bedrückte mich aus den üblichen Gründen. Als ich meine Abschlussprüfung hinter mir hatte, war mein Vater noch am Leben gewesen; er starb, drei Tage bevor ich meine Ergebnisse bekam – und so erfuhr er nicht mehr, dass seine Tochter mit der Bestnote abgeschlossen hatte. Auf dem Weg zum Auto grübelte ich mal wieder über seinen letzten Lebensmonat nach, in jenem Sommer, der nun schon sechs Jahre zurücklag. Er hatte gesund ausgesehen, mein immergleicher Dad, er war nicht krank, er war nicht alt, aber in den letzten Wochen seines Lebens hatte er begonnen, sich merkwürdig zu verhalten. Eines Nachmittags buddelte er die jungen Kartoffeln aus, etliche Kilo davon, eine ganze Furche, fünf Meter lang. Warum hast du das gemacht, Sean?, hatte ihn meine Mutter gefragt. Ich wollte nur sehen, ob sie schon fertig sind, war seine Antwort gewesen. Dann sägte er einen drei Meter hohen Lindenschössling ab, den er im Vorjahr gepflanzt hatte, zerkleinerte und verbrannte ihn. Warum, Dad? Ich hab’s nicht ausgehalten, dass er wächst, war seine einfache, verblüffende Antwort. Äußerst seltsam allerdings war ein Zwangsverhalten, das er in seiner, wie sich dann herausstellte, letzten Lebenswoche entwickelte, nämlich alle Lampen im Haus auszuschalten. Er lief durch die Zimmer, treppauf, treppab, forschte nach brennenden Glühlampen und knipste sie aus. Wenn ich die Bibliothek verließ, um mir Tee zu kochen, und zurückkam, war es dort dunkel. Ich erwischte ihn dabei, wie er darauf lauerte, in die Zimmer zu gelangen, die wir gerade verließen, damit er das Licht, das nun nicht mehr benötigt wurde, sofort ausschalten konnte. Meine Mutter und ich wurden immer wütender. Einmal schrie ich ihn an: Was zum Teufel soll der Unsinn? Und er antwortete mit ungewohnter Demut: Ich finde nur, das ist eine schreckliche Verschwendung, Ruth, eine schreckliche Verschwendung von Energie.
Heute glaube ich, dass es der nahende Tod war, den er spürte, und dass ihm dieses Wissen nur in entstellter oder unkenntlicher Form zugänglich war. Letzten Endes sind wir tierische Wesen, und tief in uns drinnen lauern die alten Tierinstinkte. Tiere scheinen in der Lage zu sein, die Signale zu verstehen, gegen die sich unser großes, superintelligentes Gehirn mit allen Kräften sträubt. Mein Vater, da bin ich mir ziemlich sicher, hat aus seinem Körper subtile Signale empfangen, die ihm sein bevorstehendes Ende ankündigten, den finalen Systemkollaps, aber er wurde von diesen Signalen verwirrt. Zwei Tage nachdem ich ihn wegen der Lampen angeschrien hatte, brach er im Garten zusammen und starb. Es war nach dem Mittagessen. Er köpfte Rosen – also keine anstrengende Tätigkeit – und war sofort tot, wie man uns sagte und was mich tröstete. Aber noch immer quälte es mich, an seine letzten, verwirrten, verschreckten Wochen der timor mortis zu denken.
Ich schloss den Wagen auf und setzte mich ans Steuer, fühlte mich traurig und vermisste ihn plötzlich sehr. Was hätte er wohl von den erstaunlichen Enthüllungen meiner Mutter, seiner Frau, gehalten?, fragte ich mich. Natürlich wäre es zu seinen Lebzeiten gar nicht dazu gekommen – es war also eine sinnlose Hypothese. Um mich von diesem bedrückenden Thema abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, wie Timothy Thoms ohne seinen spanischen Bart aussehen mochte. »Rodrigo« Thoms. Das gefiel mir schon besser. Vielleicht würde ich ihn Rodrigo nennen.