Die Geschichte der Eva Delektorskaja

New Mexico 1941

In der Santa Fe Station von Albuquerque stieg Eva Delektorskaja schnell aus dem Zug. Es war acht Uhr abends, und sie kam einen Tag später an als geplant – aber dafür in Ruhe und Sicherheit. Sie beobachtete, wer alles ausstieg, etwa ein Dutzend Leute, und wartete, bis der Zug nach El Paso weiterfuhr. Keine Spur von den zwei Krähen, die sie in Denver abgeschüttelt hatte. Trotzdem lief sie eine Weile durch die Straßen des Bahnhofsviertels, um sich zu vergewissern, dass sie ohne Verfolger war, bevor sie das erstbeste Hotel betrat – The Commercial – und für ein Einzelzimmer, drei Nächte, sechs Dollar im Voraus zahlte. Das Zimmer war klein, hätte sauberer sein können und bot einen wunderbaren Blick auf den Luftschacht, war aber ausreichend für ihren Zweck. Sie stellte ihren Koffer ab, ging zum Bahnhof zurück und ließ sich von einem Taxi ins Hotel de Vargas fahren, ihrem eigentlichen Ziel, wo sie ihren ersten Kontaktmann treffen sollte. Das de Vargas lag nur zehn Minuten entfernt im Geschäftsviertel, aber nach der Aufregung in Denver brauchte sie ein Schlupfloch. Eine Stadt: zwei Hotels – Grundwissen aus Lyne.

Das de Vargas machte seinem prätentiösen Namen alle Ehre: Es war überladen, hatte hundert Zimmer und eine Cocktail-Lounge. Sie steckte einen Ehering auf den Finger, bevor sie an die Rezeption ging, und erklärte, ihr Gepäck sei in Chicago zurückgeblieben, die Bahn würde es nachschicken. Kein Problem, Mrs Dalton, sagte der Mann, wir geben Ihnen Bescheid, sobald es ankommt. Das Zimmer ging auf einen nachgemachten Pueblo-Hof mit plätscherndem Springbrunnen. Sie machte sich frisch, begab sich in die dunkle, so gut wie menschenleere Cocktail-Lounge und bestellte bei der dicken Serviererin, die ein kurzes orangefarbenes Kleid trug, einen Tom Collins. Aber an Entspannung war nicht zu denken; in ihrem Kopf arbeitete es viel zu sehr. Sie knabberte Erdnüsse, trank ihren Cocktail und überlegte, was als Nächstes zu tun war.

Von New York war sie nach Chicago gefahren, wo sie die Nacht verbrachte, nachdem sie den Anschluss nach Kansas City absichtlich verpasst hatte. Die Fahrt durch Amerika verlief wie ein Steinwurf: erst westwärts, dann im Bogen abfallend Richtung New Mexico. Am nächsten Tag reiste sie nach Kansas City weiter, verpasste wieder den Anschluss nach Denver und wartete im Bahnhof drei Stunden auf den nächsten Zug. Sie kaufte eine Zeitung und fand auf Seite neun ein paar Meldungen über den Krieg. Die Deutschen näherten sich Moskau, aber der Winter behinderte ihren Vormarsch. Darüber, was in England los sein mochte, erfuhr sie gar nichts. Beim nächsten Abschnitt ihrer Reise, kurz vor Denver, machte sie einen Routinegang durch die Waggons. Die beiden Krähen entdeckte sie im Panoramawagen. Sie saßen zusammen, ein dummer Fehler, eine Schlamperei. Wären sie getrennt gewesen, hätte sie vielleicht nichts bemerkt, aber diese zwei anthrazitgrauen Anzüge hatte sie schon in Chicago gesehen, genauso diese zwei Krawatten – die eine bernstein-, die andere kastanienfarben. Die kastanienfarbene hatte das gleiche Rautenmuster wie die Krawatte, die sie Kolja einmal zu Weihnachten geschenkt hatte – er trug sie mit einem blassblauen Hemd, wie sie sich erinnern konnte. Er hatte ihr versprechen müssen, dass dieser Schlips sein »Lieblingsschlips« sein würde, und er legte einen feierlichen Schwur ab – der Schlips der Schlipse, hatte er gesagt und dabei versucht, ernst zu bleiben. Wie kann ich dir jemals danken? Und wegen dieser Geschichte waren ihr die zwei Krähen im Gedächtnis geblieben. Der Jüngere hatte ein vorstehendes Kinn, der Ältere war grauhaarig mit Schnauzbart. Sie ging an ihnen vorbei, setzte sich und schaute hinaus auf die vorbeiziehende Prärie. In der reflektierenden Scheibe sah sie, dass sich die beiden sofort trennten. Das Kinn verschwand nach unten, der Schnauzbart tat, als läse er die Zeitung.

Von Denver hatte sie direkt nach Santa Fe und Albuquerque weiterfahren wollen, aber da nun klar war, dass sie beschattet wurde, musste sie die beiden erst abschütteln. Nicht zum ersten Mal war sie dankbar für ihre Ausbildung in Lyne: Fahrtunterbrechungen machten es immer leichter, Beschatter aufzuspüren. Niemand sonst würde so reisen wie sie – Zufälle konnten also ausgeschlossen werden. Und es würde nicht schwer sein, die beiden Krähen loszuwerden – sie waren entweder unfähig oder nachlässig oder beides.

Auf dem Bahnhof von Denver ließ sie ihren Koffer in einem Schließfach, dann ging sie in die Stadt und betrat das erste große Kaufhaus, das am Weg lag. Sie schaute hier und da und bewegte sich durch die Stockwerke nach oben, bis sie fand, was sie suchte: einen Lift nahe einer Treppe in der dritten Etage. Langsam lief sie ins Parterre zurück, auf dem Weg dorthin kaufte sie sich einen Lippenstift und eine Puderdose. Am Lift verharrte sie und ließ andere vorbei, während sie den Wegweiser studierte, dann, in letzter Sekunde, schlüpfte sie hinein. Der Schnauzbart hatte sie im Blick, war aber zu weit entfernt. »Fünf, bitte«, sagte sie zum Fahrstuhlführer, stieg in der dritten Etage aus und stellte sich hinter einen Kleiderständer neben dem Treppenaufgang. Sekunden später kamen der Schnauzbart und das Kinn die Treppe heraufgehetzt, warfen einen Blick in die Etage, sahen den Lift nach oben fahren und rannten weiter die Treppe hinauf. Eva lief hinunter und stand eine Minute später auf der Straße. Sie wechselte die Richtung, machte wieder kehrt, aber die beiden Krähen waren verschwunden. Sie holte ihren Koffer und nahm den Bus nach Colorado Springs, das vier Stationen weiter an der Strecke nach Santa Fe lag, und verbrachte die Nacht in einem Hotel am Bahnhof.

Vorher rief sie von einem Münztelefon in der Lobby in New York an. Sie ließ es dreimal klingeln, legte auf, ließ sich noch einmal verbinden, legte nach dem ersten Klingeln erneut auf und rief ein drittes Mal an. Sie wollte Romers Stimme hören, nichts sonst.

»Transoceanic.« Es war Morris Devereux.

Sie verbarg ihre Enttäuschung und war wütend auf sich, weil sie so enttäuscht war.

»Du weißt, auf welcher Party ich bin?«

»Ja.«

»Es waren zwei ungeladene Gäste da.«

»Das ist merkwürdig. Hast du eine Ahnung, wer sie waren?«

»New Yorker Krähen, würde ich sagen.«

»Noch merkwürdiger. Bist du sicher?«

»Absolut. Aber ich bin sie los. Kann ich mit dem Chef sprechen?«

»Ich furchte, nein. Der Chef ist nach Hause gefahren.«

»Nach Hause?« Das bedeutete England. »So plötzlich?«

»Ja.«

»Ich wollte wissen, was ich tun soll.«

»Wenn’s keine Probleme gibt, würde ich einfach weitermachen wie gewohnt.«

»Ist gut. Bye.«

Sie legte auf. Es war unlogisch, aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich nicht mehr sicher, seit sie wusste, dass Romer abberufen worden war. Wenn’s keine Probleme gibt, einfach weitermachen wie gewohnt. Es gab keine Probleme. Eine ganz normale Standardoperation. Sie fragte sich, woher die beiden Männer kamen – FBI? Romer hatte gesagt, dass das FBI wegen der zunehmenden britischen Aktivitäten unruhig wurde. Vielleicht waren das die ersten Anzeichen der Infiltration … Für alle Fälle stieg sie auf der Fahrt nach Albuquerque noch zweimal um, was ihre Ankunft zusätzlich verzögerte.

Sie seufzte und bestellte noch einen Cocktail. Ein Mann kam an ihren Tisch und fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe, aber er benutzte keines der Losungswörter, also wollte er sie nur abschleppen. Sie erzählte ihm, sie sei auf Hochzeitsreise und warte auf ihren Mann. Der Mann verzog sich und hielt Ausschau nach lohnenderer Beute. Sie trank aus und ging ins Bett, doch sie fand keine Ruhe und schlief sehr schlecht.

Am nächsten Tag bummelte sie durch die Altstadt, besuchte die Kirche auf der Plaza, machte einen Spaziergang durch den Rio Grande Park mit seinen hohen Pappeln, blickte auf den breiten, schlammigen Fluss und die violett schimmernden, dunstigen Berge im Westen und fragte sich wie schon so oft, was sie ausgerechnet hierher verschlagen hatte, an diesen Ort, zu dieser Zeit, in dieser Phase ihres Lebens. Sie aß zu Mittag im de Vargas, und als sie danach durch die Lobby ging, empfahl ihr der Mann an der Rezeption eine Besichtigung der Universität – die Bibliothek dort sei »großartig«. Sie dankte und erwiderte, sie werde ein andermal dorthin gehen. Stattdessen fuhr sie mit dem Taxi ins andere Hotel, legte sich auf das harte Bett und las einen Roman – Manhattan Transfer von Dos Passos –, auf den sie sich den ganzen Nachmittag zäh konzentrierte.

Gegen sechs Uhr abends saß sie wieder an ihrem Platz in der Cocktail-Lounge und schlürfte gerade einen trockenen Martini, als sich ein Mann auf den Stuhl gegenüber setzte.

»Hallo. Schön, Sie so erholt zu sehen.« Er hatte ein schwammiges Gesicht, auf seiner Krawatte sah man Fettflecken. In der Hand hielt er eine Lokalzeitung, und er trug einen verschlissenen Strohhut, den er nicht abnahm.

»Ich hatte gerade zwei Wochen Urlaub«, sagte sie.

»Waren Sie in den Bergen?«

»Ich fahre lieber an die See.«

So weit, so gut, dachte sie und sagte dann: »Haben Sie etwas für mich?«

Er legte die Zeitung mit bedeutsamer Geste auf den Nachbarstuhl. Typisch BSC, eine Zeitung hinzulegen, dachte sie. Eine Zeitung kann jeder haben. Und wir lieben es unkompliziert.

»Fahren Sie nach Las Cruces. Ein Mann namens Raul wird Sie kontaktieren. Im Alamogordo Inn.«

»Wie lange soll ich dort bleiben?«

»Bis Raul sich meldet. War nett, mit Ihnen zu reden.« Er stand auf und ging. Sie nahm sich die Zeitung vor. Darin lag ein brauner, mit Klebstreifen verschlossener Umschlag. Oben in ihrem Zimmer beäugte sie den Umschlag zehn Minuten lang, bevor sie ihn öffnete und ihm eine Karte von Mexiko mit dem Aufdruck LUFTVERKEHRSNETZ VON MEXIKO. HAUPTLINEN entnahm.

 

Sie rief bei Transoceanic an.

»Hallo, Salbei.« Das war Angus Woolf – sie war überrascht, seine Stimme zu hören.

»Hallo. Fährst du Sonderschichten?«

»Gewissermaßen. Wie läuft die Party?«

»Interessant. Ich hatte Kontakt, aber mein Geschenk ist besonders aufregend. Minderwertige Ware, würde ich sagen.«

»Ich hole mal den Manager.«

Devereux kam an den Apparat. »Minderwertig?«

»Nicht, dass man es sofort merkt, aber man braucht nicht lange.«

Die Karte hatte ein professionelles amtliches Aussehen und war zweifarbig bedruckt, rot und blau. Mexiko war in vier Gebiete aufgeteilt, Gau 1, Gau 2, Gau 3, Gau 4, und blaue Linien, die die Städte verbanden, stellten Fluglinien dar: von Mexico City nach Monterrey und Torreón; von Guadalajara nach Chihuahua und so weiter. Höchst ungewöhnlich waren die Linien, die über die Grenze Mexikos hinausreichten: eine südwärts »für Panama«, zwei nordwärts »für San Antonio, Texas« und »für Miami, Florida«. Die Absicht war einfach zu offensichtlich – wo steckte die Raffinesse? Aber noch ärgerlicher waren die Fehler. HAUPTLINEN statt

HAUPTLINIEN und »für« statt »nach«. Sie verkehrten den ersten Eindruck sehr schnell in sein Gegenteil. Die sprachlichen Fehler ließen sich vielleicht noch damit erklären, dass der Zeichner kein Deutscher gewesen war (vielleicht war die Karte in Mexiko gedruckt worden), aber die Fehler und die territorialen Ambitionen, die in den Fluglinien zum Ausdruck kamen, das war ihr zu viel – ein allzu plumper Versuch, die Botschaft zu vermitteln.

»Bist du sicher, dass das von uns ist?«

»Soviel ich weiß, ja.«

»Dann sag dem Chef, was ich davon halte. Ich rufe später noch mal an.«

»Wirst du weitermachen?«, fragte er.

»Mit der nötigen Vorsicht.«

»Wohin fährst du?«

»Der Ort heißt Las Cruces«, sagte sie unbedacht und dachte sofort: Warum bin ich so ehrlich? Zu spät.

Sie legte auf, ging zur Rezeption und fragte, wo sie ein Auto mieten konnte.

 

Die Straße nach Las Cruces zweigte südwärts vom Highway 85 ab und folgte etwa 220 Meilen dem alten Camino Real, der im Tal des Rio Grande bis Mexiko verlief. Es war eine zweispurige Teerstraße mit einigen betonierten Abschnitten, auf der sie schnell und stetig vorankam; sie fuhr einen hellbraunen Cadillac-Tourenwagen mit aufklappbarem Verdeck, das sie verschlossen ließ. Auf die Landschaft verschwendete sie kaum einen Blick, registrierte aber trotzdem die zerklüfteten Bergketten im Osten und Westen, die ranchitos mit ihren Melonen- und Maisfeldern, die sich an den Flussverlauf schmiegten, ab und zu sah sie von der Straße aus die felsigen Wüstenpartien und die Lavakrusten der berüchtigten Jornada del muerte -jenseits des Flusstals war das Land trocken und kahl.

Am späten Nachmittag erreichte sie Las Cruces und fuhr auf der Suche nach dem Alamogordo Inn die Main Street entlang. Diese kleinen Städte kamen ihr fast schon vertraut vor, nachdem sie auf ihrer Fahrt ein halbes Dutzend davon durchquert hatte, die alle gleich aussahen – Los Lunas, Socorro, Hatch – und zu einem uniformen Bild neumexikanischer Provinzialität verflossen. Nach den Lehmhütten der Bauern kamen die Tankstellen und die Autohändler, dann die schmucken Vororte, dann die Fuhrhöfe, die Getreidesilos und Mühlen. Jede Stadt hatte ihre breite Main Street mit protzigen Ladenfronten und schreienden Neonreklamen, Markisen und schattigen Gehwegen, staubigen Autos, die zu beiden Seiten der Straße quer geparkt waren. Las Cruces sah nicht anders aus; es gab ein Woolworth, einen Juwelierladen mit einem blinkenden, fußballgroßen Plastikedelstein über dem Eingang, Reklamen für Florsheim-Schuhe, Coca-Cola, Liberty-Möbel, einen Drugstore, eine Bank und am Ende der Straße, gegenüber einem kleinen Park mit schattenspendenden Pappeln, die kahle Betonfassade des Alamogordo Inn.

Sie parkte auf dem Platz hinter dem Hotel und betrat die Lobby. Ein paar Deckenventilatoren fächelten die Luft, links ein abgewetztes Ledersofa, den Holzfußboden bedeckten abgetretene indianische Läufer. Ein Kaktus voller Spinnweben stand in einem Topf mit Sand, in dem Zigarettenkippen steckten, darüber ein Schild mit der Aufschrift: »Herumlungern verboten. Elektrisch Licht in allen Zimmern.« Der Portier, ein junger Mensch mit schwachem Kinn und einem Hemdkragen, der drei Nummern zu weit für seinen Hals war, musterte sie neugierig, als sie nach einem Zimmer fragte.

»Sind Sie sicher, dass Sie in diesem Hotel wohnen wollen?«, fragte er schüchtern. »Es gibt viel nettere außerhalb der Stadt.«

»Ich bin zufrieden, vielen Dank«, sagte sie. »Wo bekomme ich etwas zu essen?«

»Nach rechts geht’s zum Restaurant, nach links zum Imbiss«, sagte er. Sie entschied sich für den Imbiss und bestellte einen Hamburger. Das Lokal war fast leer; zwei grauhaarige Damen standen am Wasserspender, ein Indianer mit einem melancholischen Gesicht von strenger Schönheit fegte den Boden. Eva aß ihren Hamburger und trank eine Coca-Cola. Sie verspürte eine seltsame Form der Trägheit, eine fast greifbare Schwere, als hätte die Erde ihre Umdrehungen eingestellt, als würde die Zeit nur noch vom Fegegeräusch des Indianers markiert. Irgendwo in einem Hinterzimmer kam Jazz aus einem Radio, und Eva dachte: Was mache ich hier? Welcher speziellen Bestimmung folge ich? Ihr war, als könnte sie für alle Ewigkeit in diesem Imbisslokal von Las Cruces sitzen bleiben – der Indianer würde den Fußboden fegen, ihr Hamburger würde halb gegessen bleiben, die dünnen Jazzklänge würden immer weitergehen. Sie überließ sich dieser Stimmung, steigerte sich hinein, fand diesen spätnachmittäglichen Stillstand seltsam beruhigend, denn was immer sie als Nächstes tat, würde eine neue Kette von Ereignissen in Gang setzen, die sich ihrer Kontrolle entzogen. Lieber genoss sie diese seltenen Momente der Stille, in denen unangefochten die Apathie regierte.

Sie ging zum Telefon des Imbisslokals, in eine kleine Zelle neben einem Regal voller Büchsen, und rief Transoceanic an. Devereux meldete sich.

»Kann ich den Chef sprechen?«

»Leider nein. Aber ich habe ihn gestern Abend gesprochen.«

»Und was hat er gesagt?« Aus irgendeinem Grund war sie überzeugt, dass Romer bei Devereux im Zimmer stand – dann verwarf sie diesen Gedanken als absurd.

»Er sagt, es bleibt alles dir überlassen. Es ist deine Party. Wenn du abreisen willst, dann tu’s. Wenn du die Musik wechseln willst, dann tu’s. Vertrau deinen Instinkten, hat er gesagt.«

»Hast du ihm erzählt, was ich von meinem Geschenk halte?«

»Ja. Er hat die Sache geprüft. Es ist unser Produkt, also wollen sie es so haben.«

Sie legte auf und dachte nach. Alles blieb also ihr überlassen. Auf der Schattenseite der Straße ging sie langsam ins Alamogordo zurück. Ein großer Truck mit dicken Baumstämmen fuhr vorbei, gefolgt von einem ziemlich schicken roten Coupé mit einem Mann und einer Frau auf dem Frontsitz. Sie blieb stehen und blickte sich um: Ein paar Kinder standen da und sprachen mit einem Mädchen auf dem Fahrrad. Aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie beschattet wurde – was absurd war. Sie ging weiter, setzte sich für ein paar Minuten in den kleinen Park und las in ihrem Reiseführer, um die Gespenster aus ihrem Kopf zu vertreiben. Las Cruces – »Die Kreuze«: Der Ort war nach einem Massaker benannt, das Apatschen im achtzehnten Jahrhundert an einem Tross von Händlern verübt hatten – und nach den Kreuzen, die danach auf den Gräbern errichtet wurden. Sie hoffte, dass es kein böses Omen war.

Das kleine rote Coupé fuhr wieder vorbei – diesmal ohne Mann, die Frau saß am Steuer.

Nein, sie war schreckhaft, naiv, unprofessionell. Wenn sie derartige Befürchtungen hatte, gab es Methoden, sie auszuräumen. Es war ihre Party. Gebrauch deine Instinkte, hatte Romer gesagt. Allerdings, das würde sie tun.

Sie ging zurück ins Alamogordo, fuhr mit ihrem Wagen auf der Mesa Road zum State College und fand das neue Motel, das in ihrem Reiseführer angepriesen war – die Mesilla Motor Lodge. Sie mietete einen Bungalow am Ende eines Plankenwegs und versteckte die Mexiko-Karte im Kleiderschrank, hinter der Rückwand, die sie mit der Nagelfeile ablöste. Das Hotel war erst ein Jahr alt, hatte ihr der Page erzählt, als er sie zu ihrem Bungalow geleitete. Im Inneren herrschte immer noch der Geruch von Kreosot, Gips und Sägespänen vor. Der Bungalow war sauber und modern, die Möbel hell und schmucklos. Das halb abstrakte Gemälde eines Pueblos hing über dem Schreibtisch, der mit einer in Zellophan gehüllten Obstschale versehen war, einer winzigen Yucca im Tontopf und einer Schreibgarnitur mit Löschbuch, Briefpapier, Umschlägen, Postkarten und einem halben Dutzend Bleistifte mit dem Hotelsignet. »Das können Sie alles gratis benutzen, mit unserer Empfehlung«, sagte der Page. Sie sei sehr erfreut über das Arrangement, versicherte sie ihm. Als sie wieder allein war, nahm sie zweitausend Dollar aus dem Umschlag und steckte ihn mit dem restlichen Geld zur Landkarte hinter der Rückwand des Schrankes.

Sie fuhr zurück nach Las Cruces, parkte hinter dem Alamogordo und betrat die Lobby. Ein Mann mit blassblauem Baumwollanzug saß auf dem Sofa. Er hatte weißblondes Haar und ein ungewöhnlich gerötetes Gesicht. Ein Fast-Albino, dachte sie. Mit seinem blassblauen Anzug sieht er aus wie ein Riesenbaby.

»Hi«, sagte er beim Aufstehen. »Schön, Sie so erholt zu sehen.«

»Ich hatte gerade zwei Wochen Urlaub.«

»Waren Sie in den Bergen?«

»Ich fahre lieber an die See.«

Er schüttelte ihr die Hand. Seine Stimme klang heiser, aber angenehm.

»Ich bin Raul.« Er wandte sich an den Portier. »He, Sie, kriegen wir hier einen Drink?«

»Nein.«

Sie gingen hinaus und suchten fünf Minuten lang vergeblich nach einer Bar.

»Ich brauche jetzt ein Bier«, sagte er. Er betrat ein Spirituosengeschäft und kam mit einer Dose Bier heraus, die in einer braunen Tüte steckte. Sie liefen zurück zum Park, setzten sich auf eine Bank unter den Pappeln. Raul öffnete die Dose mit einem Büchsenöffner, den er in der Tasche hatte, und trank das Bier mit großen Schlucken, ohne die Dose aus der Tüte zu nehmen. Diesen kleinen Park in Las Cruces werde ich nie vergessen, dachte Eva.

»Sorry«, sagte er und ließ die Kohlensäure mit leisem Geräusch aus seinem Magen entweichen. »Ich kam fast um vor Durst.« Eva bemerkte, dass seine Heiserkeit deutlich nachgelassen hatte. »Wasser hilft bei mir nicht«, fügte er zur Erklärung hinzu.

»Es hat ein Problem gegeben«, sagte Eva. »Eine Verzögerung.«

»Ach ja?« Plötzlich wirkte er unruhig, verstimmt. »Mir hat keiner was gesagt.« Er stand auf, ging zum Abfallkübel und warf die Bierdose hinein. Danach stemmte er die Hände in die Hüften und blickte in die Runde, als wäre er nicht allein.

»Ich muss nächste Woche noch einmal kommen«, sagte sie. »Bis dahin soll ich Ihnen erst mal das hier geben.«

Sie öffnete die Handtasche und ließ ihn das Geld sehen. Er kam schnell zurück und setzte sich neben sie. Sie schob ihm das Bündel zu.

»Zweitausend. Den Rest nächste Woche.«

»Ja?«, sagte er, unfähig, seine Überraschung und seine Freude zu verbergen.

Er hat kein Geld erwartet, dachte sie. Was ging hier vor?

Raul stopfte das Bündel in seine Jackentasche.

»Wann nächste Woche?«

»Sie kriegen Bescheid.«

»Okay«, sagte er und stand auf. »Wir sehen uns.« Er schlenderte davon. Eva wartete fünf Minuten und hielt weiter Ausschau nach Beschattern. Dann ging sie die Main Street hinauf zu Woolworth, wo sie eine Packung Papiertaschentücher kaufte. Sie bog in eine schmale Straße zwischen der Bank und dem Häusermakler ein und kehrte sofort um, mit eiligem Schritt. Nichts. Sie versuchte noch ein paar andere Manöver, bis sie überzeugt war, dass niemand sie verfolgt haben konnte, ging zurück ins Alamogordo, räumte ihr Zimmer und checkte aus. – Geld zurück? Nein, sorry.

Sie fuhr zur Mesilla Motor Lodge. Es wurde Abend, die sinkende Sonne tauchte die östlichen Berggipfel in ein dramatisches, von dunklen Rissen durchzogenes Orange. Morgen würde sie nach Albuquerque fahren und ein Flugzeug nach Dallas nehmen und von dort aus zurückreisen -je eher, desto besser.

Im Hotelrestaurant aß sie ein Steak – zäh – mit Rahmspinat – kalt – und spülte mit einer Flasche Bier nach (»Wir servieren keinen Wein, Ma’m.«). Es saßen nur wenige andere Leute im Speisesaal, ein älteres Pärchen mit Reiseführern und Karten, ein dicker Mann hinter einer Zeitung, der niemals aufblickte, und eine gut gekleidete mexikanische Familie mit zwei stillen, sehr anmutigen kleinen Töchtern.

Auf dem Weg zum Bungalow ließ sie den Tag Revue passieren und fragte sich, ob das, was ihr der Instinkt eingegeben hatte, Romers Beifall finden würde. Sie blickte zu den Sternen und spürte die Nachtkälte der Wüste auf der Haut. Irgendwo bellte ein Hund. Routinemäßig überprüfte sie die anderen Bungalows, bevor sie ihre Tür aufschloss: Es waren keine Autos hinzugekommen, alles war unter Kontrolle. Sie drehte den Schlüssel und stieß die Tür auf.

Der Mann saß auf ihrem Bett, mit gespreizten Schenkeln, sein Revolver zielte auf ihr Gesicht.

»Tür zu«, sagte er. »Dort rüber.« Sein Akzent war schwerfällig, mexikanisch. Er stand auf, ein großer, kräftiger Mann mit Schmerbauch. Er hatte einen dichten schwarzen Schnauzbart, sein Anzug war von einem stumpfen Grün.

Sie durchquerte das Zimmer, während er sie, den Revolver schwenkend, in Schach hielt; in ihrem Kopf überstürzten sich die Fragen, ohne Antwort zu finden.

»Wo ist die Karte?«, sagte er.

»Was? Wer?« Sie hatte »Wo ist der Kerl?« verstanden.

»Die Karte.« Er sprach das T überscharf aus. Speichel sprühte.

Das Zimmer und ihr Koffer waren durchsucht, wie sie mit schnellem Rundblick feststellte. In rasendem Tempo wie eine Rechenmaschine spielte sie die Erklärungsvarianten und möglichen Folgen dieser Begegnung durch. Fast sofort war ihr klar, dass es am besten war, dem Mann die Karte zu geben.

»Im Schrank«, sagte sie. Sie ging auf den Schrank zu und hörte hinter sich den Revolver klicken. »Ich bin unbewaffnet«, sagte sie und bat mit einer Geste um Erlaubnis, den Schrank zu öffnen. Auf sein Nicken griff sie hinter die lose Trennwand, holte die Karte und die verbliebenen dreitausend Dollar heraus und übergab sie dem Mexikaner. Sein Verhalten, die Art, wie er alles entgegennahm und prüfte, ohne sie aus den Augen zu lassen, ließ sie vermuten, dass er Polizist war, kein Geheimdienstler. Er war an diese Dinge gewöhnt, so etwas machte er alle Tage, er war völlig ruhig. Das Geld und die Karte legte er auf den Schreibtisch.

»Ziehen Sie sich aus«, sagte er.

Beim Ausziehen wurde ihr übel. Nein, nicht das, dachte sie, bitte nicht. Die entsetzliche Vorstellung: seine massige Körperlichkeit, sein kalter Professionalismus – er war nicht wie Raul oder der Mann in Albuquerque. Sie wollte auf der Stelle tot sein.

»Okay, stop.« Sie war ausgezogen bis auf ihren BH und den Slip. »Ziehen Sie sich wieder an.« Es war keine Lüsternheit in seiner Stimme.

Er ging ans Fenster und zog den Vorhang auf. Sie hörte, wie ein Auto startete, näher kam und vor dem Bungalow hielt. Eine Wagentür schlug zu, der Motor lief weiter. Also waren da noch mehr. Sie zog sich so schnell an wie noch nie in ihrem Leben. Bloß keine Panik, dachte sie, denk an deine Ausbildung, vielleicht will er nur die Karte.

»Stecken Sie die Karte und das Geld in Ihre Handtasche«, sagte er.

Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, und sie versuchte, nicht vorauszudenken, ganz im Hier und Jetzt zu bleiben, trotzdem war ihr klar, was diese Aufforderung zu bedeuten hatte. Nicht das Geld und die Karte wollte er, sondern sie. Sie war die Beute.

Sie ging an den Schreibtisch.

Warum hatte sie auf die Pistole verzichtet, die Romer ihr angeboten hatte? Nicht, dass es jetzt noch eine Rolle spielte. Ein einfacher Kurierjob, hatte er gesagt. Romer glaubte nicht an Waffen oder unbewaffneten Kampf- du hast Zähne und Klauen, hatte er gesagt, deine Instinkte. Aber sie brauchte mehr als das, um mit diesem dicken, selbstsicheren Mann fertig zu werden. Sie brauchte eine Waffe.

Während der Mexikaner zur Tür ging, steckte sie die Karte und die dreitausend Dollar in ihre Handtasche. Er hielt den Revolver auf sie gerichtet, öffnete die Tür und schaute hinaus. Ihr Körper machte eine kleine Bewegung. Sie hatte nur diese eine Sekunde Zeit, und die nutzte sie.

»Kommen Sie«, sagte er, während sie die Kämme zurechtschob, die ihr Haar zu einem losen Knoten bündelten. »Keine Zeitverschwendung.« Er hakte sie unter, die Mündung seines Revolvers bohrte sich in ihre Seite, und sie gingen zum Wagen. Drüben vor dem Nachbarbungalow sah sie die kleinen mexikanischen Mädchen auf der Veranda spielen – von ihr und ihrem Begleiter nahmen sie keine Notiz.

Er schob sie auf den Beifahrersitz und folgte ihr, so dass sie hinüberrutschen musste, hinters Steuerrad. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet. Von der Person, die den Wagen gebracht hatte, war nichts zu sehen.

»Sie fahren«, sagte er. Er hängte den Arm über die Lehne und drückte ihr den Revolver gegen die Rippen. Sie legte den Gang ein – die Schaltung befand sich an der Lenksäule – und fuhr langsam los.

Als sie das Motel verließen und auf die Straße nach Las Cruces einbogen, war ihr, als hätte er jemandem, der im Schatten der Pappeln am Straßenrand stand, ein Zeichen gegeben – gewinkt, den Daumen gehoben. Sie riskierte einen Blick und glaubte zwei Männer zu sehen, die neben einem Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern warteten. Das Auto sah aus wie ein Coupé, aber es war zu dunkel, um die Farbe zu erkennen. Schon waren sie vorüber, und er befahl ihr, durch Las Cruces zu fahren und den Highway 80 zur texanischen Grenze zu nehmen.

Sie fuhren etwa eine halbe Stunde auf dem Highway 80. Als die Stadtgrenze von Berino in Sicht kam, musste sie auf eine Schotterstraße abbiegen, die dem Wegweiser zufolge nach Leopold führte. Die Straße war in schlechtem Zustand, das Auto ruckelte und polterte, der Revolver des Mexikaners stieß ihr schmerzhaft in die Seite.

»Langsamer«, sagte er. Sie drosselte das Tempo auf etwa zehn Meilen pro Stunde, und nach wenigen Minuten befahl er ihr zu halten.

Sie standen in einer scharfen Kurve, die Scheinwerfer beleuchteten Gestrüpp und steinigen Untergrund, dahinter öffnete sich, wie es aussah, eine tiefe schwarze Schlucht.

Eva saß da und spürte den Adrenalinstoß, der ihren Körper durchströmte. Ihr Kopf war bemerkenswert klar. Nach jeder vernünftigen Berechnung würde sie in wenigen Minuten tot sein, da gab es keinen Zweifel. Vertrau auf deine Instinkte. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte.

»Steigen Sie aus«, sagte der Mexikaner. »Wir treffen ein paar Leute.«

Das ist gelogen, dachte sie. Er will mich nur nicht wissen lassen, dass jetzt das Ende kommt.

Sie griff mit der linken Hand nach der Türverriegelung und schob gleichzeitig mit der rechten eine Haarsträhne hinters Ohr. Eine natürliche Geste, ein weiblicher Reflex.

»Licht ausschalten«, sagte der Mexikaner.

Sie brauchte das Licht.

»Hören Sie«, sagte sie. »Ich habe noch mehr Geld.«

Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand berührten das Radiergummi-Ende des Bleistifts aus der Mesilla Motor Lodge, den sie in ihren Haarknoten gesteckt hatte – einen der neuen, gut gespitzten Gratisstifte neben dem Briefpapier und den Postkarten auf dem Löschbuch –, in dem Moment, als der Mexikaner kurz aus der Tür geschaut hatte.

»Ich kann Ihnen noch zehntausend besorgen«, sagte sie. »Ganz leicht. In einer Stunde.«

Er lachte kurz. »Steigen Sie aus.«

Sie zog den Bleistift aus ihrem Haarknoten und stieß ihn in sein linkes Auge.

Der Stift glitt sofort und ohne Widerstand hinein, fast bis zu seiner vollen Länge von fünfzehn Zentimetern. Dem Mann stockte der Atem, sein Revolver fiel polternd zu Boden. Er versuchte, mit zitternden Händen an sein Auge zu greifen, wie um den Stift herauszuziehen, dann sank er gegen die Tür. Das Ende des Bleistifts mit dem Radiergummi ragte ein wenig aus dem zerstörten Glaskörper heraus. Es gab kein Blut. An seiner völligen Reglosigkeit erkannte sie sofort, dass er tot war.

Sie schaltete die Scheinwerfer aus und stieg aus dem Auto. Sie zitterte, aber nicht allzu sehr, und sie sagte sich, dass sie ihrem Tod wahrscheinlich sehr nahe gewesen war, dem Moment der Entscheidung zwischen Leben oder Tod, daher spürte sie keinen Schock, kein Entsetzen darüber, was sie diesem Mann angetan hatte. Sie zwang sich zur nüchternen Überlegung: Was nun? Einfach flüchten? Vielleicht war aus diesem Desaster noch etwas zu machen. Immer einen Schritt nach dem anderen. Gebrauch deinen Grips, sagte sie zu sich. Denk nach.

Sie stieg wieder ins Auto und fuhr es von der Straße hinunter, hinter ein dichtes Gebüsch. Im Dunkeln neben dem toten Mexikaner sitzend, ging sie systematisch ihre Möglichkeiten durch. Sie knipste das Licht über dem Innenspiegel an, hob den Revolver auf und benutzte dazu ihr Taschentuch, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Dann öffnete sie seine Jacke und schob den Revolver in sein Achselhalfter. Es floss noch immer kein Blut, kein einziger Tropfen, nur das Ende des Bleistifts ragte aus dem starren Auge heraus.

Sie durchsuchte seine Taschen und fand die Brieftasche mit seiner Karte: Vize-Inspektor Luis de Baca. Auch etwas Geld fand sie, einen Brief und einen Kassenbon von einem Eisenwarenladen in Ciudad Juárez. Sie schob alles zurück. Ein mexikanischer Polizist wäre beinahe ihr Mörder geworden. Aber welchen Sinn sollte das haben? Sie knipste das Licht aus und überlegte weiter. Für kurze Zeit konnte sie sicher sein, so viel war klar. Sie konnte sich auf die eine oder andere Weise zu ihren Leuten durchschlagen, aber erst mussten die Spuren beseitigt werden.

Sie stieg wieder aus und ging umher, um nachzudenken, einen Plan zu fassen. Der Mond war nur eine schmale Sichel und spendete kein Licht, es wurde immer kälter. Als sich ein rumpelnder Lastwagen näherte, legte sie die Arme um ihren Körper und hockte sich hin, der Scheinwerferkegel strich über sie hinweg. Langsam nahm ein Plan Konturen an, sie zwang sich, weiterzugrübeln, Varianten zu überlegen, jedes Detail zu durchdenken, das Für und Wider abzuwägen. Sie öffnete den Kofferraum und fand einen Ölkanister, ein Seil und einen Spaten. Im Handschuhfach lagen eine Taschenlampe, Zigaretten und Kaugummi. Es schien sein eigenes Auto zu sein.

Sie lief die paar Schritte bis zur Kurve und stellte mithilfe der Taschenlampe fest, dass die Schlucht nur eine Flutrinne von etwa sechs Metern Tiefe war. Darauf ging sie zum Wagen zurück, startete, schaltete das Licht ein und fuhr bis zu der Stelle, wo die Straße abbog. Sie gab Gas, dass die Räder durchdrehten und der Schotter flog, verließ die Straße, fuhr langsam an den Rand der Schlucht und zog die Handbremse an. Nach einem letzten prüfenden Blick nahm sie ihre Tasche, stieg aus und löste die Handbremse. Das Auto rollte langsam los, sie rannte zum Heck und schob. Es kippte über den Rand der Schlucht, sie hörte das dumpfe Krachen und das Splittern der Frontscheibe, als es unten aufschlug.

Mit der Taschenlampe bahnte sie sich einen Weg hinunter zum Wrack. Ein Scheinwerfer brannte noch, die Motorhaube war verbogen und aufgesprungen. Es roch noch auslaufendem Benzin, das Auto war halb zur Beifahrerseite übergekippt. Es gelang ihr, die Fahrertür zu öffnen und den vierten Gang einzulegen. Luis de Baca war beim Sturz vornübergefallen und mit der Stirn gegen das Armaturenbrett geprallt. Ein kleines Rinnsal aus Blut floss nun aus seinem Auge in den Schnauzbart, von dem aus es auf sein Hemd zu tropfen begann. Sie zerrte ihn auf die Fahrerseite. Offenbar hatte er sich ein Bein gebrochen, es bildete einen unnatürlichen Winkel. Gut so, dachte sie.

Sie zog die Mexiko-Karte aus ihrer Tasche und riss sorgfältig eine Ecke ab, so dass man nur noch »LUFTVERK« lesen konnte und die Fluglinien nach San Antonio und Miami sah. Den Rest steckte sie in die Tasche zurück, dann nahm sie ihren Füller, breitete die abgerissene Ecke auf der Motorhaube aus und schrieb auf Deutsch: »Wo befinden sich die Ölreserven für den transatlantischen Verkehr?« und »Der dritte Gau scheint zu groß zu sein.«. Am Rand addierte sie ein paar Zahlen: 150.000 + 35.000 = 185.000, dazu kamen ein paar bedeutungslose Zahlen- und Buchstabenkombinationen – LBF/3, XPD 77. Sie wischte mit dem Papierfetzen über de Bacas blutbesudeltes Hemd, knüllte ihn zusammen und schob ihn unter den Schuh seines unversehrten Beins. Die dreitausend Dollar versteckte sie im Handschuhfach unter einer Straßenkarte und dem Bedienungshandbuch. Dann wischte sie mit dem Taschentuch ihre Fingerabdrücke weg, mit besonderer Sorgfalt am Lenkrad und am Ganghebel. Schließlich richtete sie de Baca auf und lehnte ihn ans Lenkrad, so dass sie sein Gesicht sehen konnte. Sie wusste, dass jetzt der härteste Teil der Arbeit kam, aber sie war so vertieft in die Fingierung des Unfalls, dass sie fast automatisch handelte, mit gut durchdachter Präzision. Sie verstreute ein paar Splitter der Frontscheibe über seiner Leiche, dann brach sie einen verbogenen Scheibenwischer ab und entfernte den Wischergummi.

Sie griff nach dem Ende des Bleistifts, der in seinem Auge steckte, und zog ihn heraus. Er ließ sich leicht bewegen, wie geölt, und mit ihm kam das Blut herausgesprudelt und ergoss sich über sein Gesicht. Schließlich stieß sie den abgebrochenen Scheibenwischer in die Wunde und stieg aus. Die Tür ließ sie offen. Eine letzte Prüfung mit der Taschenlampe, dann nahm sie ihre Tasche, kletterte aus der Schlucht und lief die Schotterstraße zurück Richtung Highway 80. Nach einer halben Meile etwa vergrub sie die restliche Karte, die Taschenlampe und den Bleistift unter einem Stein. Von ferne sah sie die Autoscheinwerfer auf dem Highway und die Lichter von Berdino. Sie wusste, was als Nächstes zu tun war: ein anonymer Anruf bei der Polizei, mit der Meldung eines Unfalls an der Straße nach Leopold. Ein Taxi würde sie zur Mesilla Motor Lodge zurückbringen. Sie würde ihre Rechnung bezahlen und noch in der Nacht Richtung Albuquerque abreisen. Sie hatte getan, was sie konnte, aber den einen Gedanken wurde sie nicht los, als sie zu einer Texaco-Tankstelle am Stadtrand von Berdino gelangte. Sie musste der Wahrheit ins Auge schauen: Jemand hatte sie verraten.