Die Geschichte der Eva Delektorskaja

London 1940

Es war schon August, als Eva Delektorskaja endlich zum Rapport über den Prenslo-Zwischenfall einbestellt wurde. Sie fuhr zur Arbeit wie gewohnt, verließ ihre Wohnung in Bayswater und bestieg den Bus, der sie zur Fleet Street brachte. Sie saß auf dem Oberdeck, rauchte die erste Zigarette des Tages und blickte hinaus auf die sonnigen Wiesen des Hyde Park, bewunderte die hübschen silbrigen Sperrballons, die am blassblauen Himmel schwebten, und fragte sich, ob man sie nicht dort lassen sollte, wenn der Krieg zu Ende ging – falls das jemals geschah. Besser als irgendein Obelisk oder Kriegerdenkmal, dachte sie und stellte sich ein Kind im Jahr 1948 oder 1956 vor, das seine Mutter fragte: »Mummy, wozu sind diese großen Luftballons da?« Romer meinte, ohne den Kriegseintritt der Amerikaner werde der Krieg noch mindestens zehn Jahre dauern. Allerdings, das musste sie zugeben, hatte er diese Voraussage im Mai in Ostende getroffen, im Zustand des Schocks und der Verbitterung, während sie mit ansahen, wie der deutsche Blitzkrieg durch Holland, Belgien und Frankreich raste. Zehn Jahre … 1950. Dann ist Kolja elf Jahre tot, dachte sie, und diese grausame Tatsache bedrückte sie – sie dachte ständig an ihn, nicht mehr jeden Tag, aber noch immer viele Male in der Woche. Werde ich auch 1950 noch so oft an ihn denken? Ja, sagte sie sich mit einem gewissen Trotz, ja, das werde ich.

Sie schlug die Zeitung auf, als der Bus zum Marble Arch kam. Wieder zweiundzwanzig feindliche Flugzeuge abgeschossen; Winston Churchill besucht Munitionsarbeiter; neue Bomber mit einer Reichweite bis nach Berlin und darüber hinaus. Sie fragte sich, ob das eine Falschmeldung der AAS war – es sah ganz danach aus. Langsam wurde sie so etwas wie eine Expertin für diese Dinge. Die Story klang realistisch und glaubhaft, aber auch auffallend vage und unbelegbar. »Der Sprecher des Luftfahrtministeriums wollte nicht in Abrede stellen, dass die RAF bald über solche Kapazitäten verfügen würde …« Alle Anzeichen trafen zu.

Sie stieg in der Fleet Street aus dem Bus, als er an einer Ampel hielt, und lief durch die Fetter Lane bis zu dem unscheinbaren Gebäude, in dem der Assekuranz- und Abrechnungsservice Ltd. untergebracht war. In der vierten Etage drückte sie die Klingel und wurde in ein schäbiges Vorzimmer eingelassen.

»Morgen, meine Liebe«, sagte Deirdre und hielt ihr einen Packen Zeitungsausschnitte hin, während sie mit der anderen Hand in einer Schreibtischlade wühlte.

»Morgen«, erwiderte Eva und nahm die Ausschnitte entgegen. Deirdre, eine hagere Kettenraucherin um die sechzig, war Herz und Seele des AAS – sie lieferte Ausrüstung und Material, Fahrkarten und Pässe, Medikamente und Auskünfte darüber, wer da war und wer nicht, wer krank war und wer »auf Reisen«, aber vor allem entschied sich an ihrer Person, ob man Zugang zu Romer erhielt oder nicht. Morris Devereux behauptete im Scherz, sie sei in Wirklichkeit Romers Mutter. Ihre raue, monotone Stimme untergrub weitgehend die Wirkung der liebevollen Anredeformen, mit denen sie alle und jeden bedachte. Sie drückte auf den Türsummer, und Eva konnte den dunklen Korridor betreten, in dem die Büros des Teams lagen.

Sylvia war schon da, wie sie sehen konnte; Blytheswood und Morris Devereux auch. Angus Woolf arbeitete bei Reuters, und Romer selbst bekleidete einen neuen Leitungsposten beim Daily Telegraph, hatte aber ein wenig benutztes Büro im Stockwerk darüber behalten, das man über eine enge, unbequeme Wendeltreppe erreichte und von dessen Fenster man in der Ferne den Holborn Viaduct sehen konnte. In ihren Büros versuchten die Mitarbeiter, die Agentur in Ostende mithilfe von verschlüsselten Telegrammen fortzuführen, die an einen belgischen Agenten mit dem Decknamen »Guy« gesendet wurden. Auch gewisse Kennwörter, die der AAS in ausländischen Meldungen platzierte, waren für »Guy« bestimmt, der die betreffenden Artikel dann an die Agenturkunden im besetzten Belgien weiterleitete – sofern es sie noch gab. Ob das System überhaupt funktionierte, war nicht klar; Evas Meinung nach betrieben sie einen wahrhaft beeindruckenden Scheinaufwand an Nachrichtenbeschaffung und -Versendung, von dem jeder für sich wusste, dass er bestenfalls unbedeutende, schlimmstenfalls gar keine Wirkungen erzielte. Die Arbeitsmoral sank täglich, und nirgends wurde das augenfälliger als in der Laune ihres Chefs: Romer war sichtlich angespannt, oft reizbar, verschlossen und grüblerisch. Es war nur eine Frage der Zeit, so flüsterten sie sich zu, dass AAS Ltd. geschlossen und sie alle versetzt wurden.

Eva hängte ihren Hut und die Gasmaske an den Türhaken, setzte sich an den Schreibtisch und schaute durch das schmutzige Fenster auf die triste Dachlandschaft hinaus. Ein Schmetterlingsstrauch spross aus der Dachrinne des Hofgebäudes gegenüber; drei kränkliche Tauben hockten auf einem Schornstein und putzten sich. Eva breitete die Ausschnitte auf dem Schreibtisch aus. Etwas aus einer italienischen Zeitung (ihre Story über die gesundheitlichen Probleme des Marschall Pétain), ein Hinweis auf die mangelnde Kampfmoral der Luftwaffenpiloten in einem kanadischen Magazin (Romer hatte »mehr« darübergekritzelt) und Fernschreiben von zwei amerikanischen Nachrichtenagenturen über die Enttarnung eines deutschen Spionagerings in Südafrika.

Blytheswood klopfte an und fragte, ob sie eine Tasse Tee wolle. Er war ein großer, kräftiger Blonder Mitte dreißig, mit zwei roten Flecken auf jeder Wange, als wäre er immer kurz davor, über und über zu erröten. Tatsächlich war er sehr schüchtern, und Eva mochte ihn, denn er verhielt sich ihr gegenüber stets nett. Sein Metier waren die Sendeanlagen des AAS, und Romer bezeichnete ihn als Funkgenie: Er brauche nichts als eine Autobatterie und eine Stricknadel, um Nachrichten in alle Kontinente zu versenden.

Während sie auf ihren Tee wartete, begann Eva eine Story über »Geisterschiffe« im Mittelmeer in die Maschine zu tippen, aber sie wurde von Deirdre unterbrochen.

»Hallo, meine Süße, Ihre Lordschaft wünscht dich zu sprechen. Keine Sorge, deinen Tee trinke ich.«

Eva erklomm die Wendeltreppe zu Romers Büro und versuchte, den Geruch im Treppenhaus zu ergründen – eine Mischung aus Pilzen und Ruß, altem Staub und Moder, befand sie. Romers Tür stand offen, sie trat ein, ohne zu klopfen oder sich höflich zu räuspern. Er wandte ihr den Rücken zu und starrte hinüber zum Holborn Viaduct, als wäre in den stählernen Bögen eine verschlüsselte Nachricht für ihn verborgen.

»Morgen«, sagte Eva. Sie waren nun seit vier Monaten wieder in England, und in dieser Zeit hatte sie Romer ihrer Schätzung nach nicht länger als insgesamt anderthalb Stunden zu Gesicht bekommen. Von dem vertrauten Ton, der sich in Belgien zwischen ihnen entwickelt hatte, war mit dem Zusammenbruch der Agentur und den unverändert schlechten Nachrichten nach Kriegsbeginn nichts mehr zu spüren. In England wirkte Romer steif und verschlossen (und das nicht nur ihr gegenüber, wie die anderen versicherten, als sie sich über seine froideur beklagte). Es mehrten sich die Gerüchte, dass der neue Chef des SIS plane, alle »irregulären« Einrichtungen zu schließen. Romers Tage seien gezählt, behauptete Morris Devereux.

Romer wandte sich vom Fenster ab.

»C will Sie sprechen«, sagte er. »Es geht um Prenslo.«

Sie wusste, wer C war, und bekam einen gelinden Schreck.

»Warum mich?«, fragte sie. »Sie wissen genauso viel.«

Romer erklärte ihr, dass die Querelen wegen des Prenslo-Zwischenfalls noch immer andauerten. Einer der zwei entführten britischen Agenten war der Stationschef des SIS in Holland, und der andere leitete das niederländische Netzwerk »Z«, einen nebengeordneten konspirativen Nachrichtendienst. Die zwei wussten so ziemlich alles über die britischen Spionagenetzwerke in Westeuropa, und nun waren sie in den Händen der Deutschen, die sie gnadenlosen Verhören aussetzten, da konnte es keinen Zweifel geben.

»Alles ist zerstört«, sagte Romer, »entweder enttarnt oder unsicher oder unbrauchbar. Davon müssen wir ausgehen. Und was ist uns geblieben? Lissabon, Bern … Madrid ist auch futsch.« Er blickte sie an. »Ich weiß nicht, warum Sie zum Rapport müssen, um ehrlich zu sein. Vielleicht denken die, Sie haben etwas gesehen, etwas, woraus sie schließen können, wie es zu diesem unglaublichen Schlamassel kam.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er das Ganze für Zeitverschwendung hielt. Er schaute auf die Uhr. »Wir können zu Fuß gehen«, sagte er. »Wir müssen zum Savoy Hotel.«

 

Eva und Romer liefen The Strand entlang zum Savoy. Ein Spätsommermorgen in London wie jeder andere, dachte Eva, abgesehen von den Sandsäcken vor gewissen Hauseingängen und den vielen Uniformierten unter den Passanten. Aber während sie diese Beobachtung registrierte, fiel ihr auf, dass sie noch nie einen Spätsommermorgen in London erlebt hatte und ihr Vergleich daher jeder Grundlage entbehrte. Vielleicht hatte London vor dem Krieg völlig anders ausgesehen. Sie fragte sich, wie es wäre, jetzt in Paris zu sein. Das wäre wirklich ein Unterschied gewesen. Romer war nicht zu Gesprächen aufgelegt, er wirkte missmutig.

»Erzählen Sie ihnen einfach alles – so wie mir. Seien Sie vollkommen ehrlich.«

»Zu Befehl. Die ganze Wahrheit und so weiter.«

Er warf ihr einen scharfen Blick zu. Dann folgte ein dünnes Lächeln, und er ließ für einen Moment die Schultern hängen.

»Es steht eine Menge auf dem Spiel«, sagte er. »Eine neue Operation für den AAS. Ich habe das Gefühl, dass einiges davon abhängt, welche Figur Sie heute machen.«

»Spreche ich nur mit C?«

»O nein. Ich glaube, es sind alle da. Sie sind die einzige Zeugin.«

Eva sagte nichts und versuchte, ganz unbeschwert dreinzublicken, als sie in den Savoy Court einbogen und aufs Hotelportal zusteuerten. Der uniformierte Portier setzte die Drehtür in Bewegung, aber Eva blieb stehen und bat Romer um eine Zigarette. Er gab ihr Feuer, sie nahm einen tiefen Zug und musterte die Leute, die hier ein und aus gingen. Frauen mit Hut und Sommerkleid, ein Blumenbote brachte ein riesiges Bukett, Chauffeure mit glitzernden Kraftwagen. Für manche Leute brachte der Krieg kaum Änderungen mit sich, stellte sie fest.

»Warum treffen wir uns in einem Hotel?«, fragte sie.

»Die lieben so etwas. Neunzig Prozent aller geheimdienstlichen Treffs finden in Hotels statt. Gehen wir.«

Sie trat ihre halb gerauchte Zigarette aus und folgte ihm hinein. An der Rezeption wurden sie von einem jungen Mann empfangen, der sie zwei Treppen hinauf und durch einen langen, verwinkelten Korridor zu einer Suite führte. Sie wurden gebeten, in einer Art Flur mit Sofa Platz zu nehmen, und bekamen Tee angeboten. Dann tauchte ein Mann auf, der Romer kannte. Sie stellten sich in eine Ecke und tuschelten miteinander. Der Mann trug einen grauen Nadelstreifenanzug, hatte ein Menjoubärtchen und glattes rotblondes Haar. Als er ging, setzte sich Romer zurück zu ihr aufs Sofa.

»Wer war das?«, fragte sie.

»Ein kompletter Arsch«, flüsterte er, sein Mund dicht an ihrem Ohr. Sie spürte seinen warmen Atem an der Wange und bekam sofort Gänsehaut am Arm und an der ganzen Seite.

»Miss Dalton?« Der junge Mann von vorher winkte sie durch eine Tür.

Der Raum, den sie nun betrat, war groß und düster, sie spürte die Weiche und Dicke des Teppichs unter ihren Füßen. Romer trat hinter ihr ein, wie sie bemerkte. Sessel und Sofas waren an die Wände geschoben worden und die Vorhänge waren wegen der Augustsonne halb zugezogen. Drei Tische waren aneinandergereiht worden, dahinter saßen vier Männer und schauten auf einen einfachen Stuhl, der in der Mitte des Raums stand. Eva wurde zu dem Stuhl geleitet und aufgefordert, sich zu setzen. Zwei weitere Männer sah sie im Hintergrund stehen, an eine Wand gelehnt.

Ein älterer, vital wirkender Mann mit silbrigem Schnurrbart begann. Niemand wurde vorgestellt.

»Es mag Ihnen zwar wie ein Tribunal vorkommen, Miss Dalton, aber bitte betrachten Sie es als zwangloses Gespräch.«

Die Absurdität dieser Feststellung sorgte dafür, dass die anderen drei Männer kurz auflachten und lockerer wurden. Einer trug eine Marineuniform mit vielen Goldstreifen an den Ärmeln. Die anderen zwei kamen ihr eher wie Bankiers oder Anwälte vor. Einer hatte einen steifen Kragen. Sie bemerkte auch, dass einer der Männer, die hinten standen, eine getupfte Fliege trug. Ein kurzer Blick nach hinten sagte ihr, dass Romer mit dem »kompletten Arsch« neben der Tür stand.

Papiere wurden hin und her geschoben, Blicke wurden gewechselt.

»Nun, Miss Dalton«, begann der Silberbart. »Erzählen Sie uns doch in Ihren Worten, was genau in Prenslo geschehen ist.«

Genau das tat sie, sie schilderte den ganzen Tag, Stunde um Stunde. Als sie fertig war, begannen die Männer, Fragen zu stellen, und konzentrierten sich dabei immer stärker, wie sie feststellte, auf Leutnant Joos und das doppelte Losungswort.

»Wer hat Ihnen den genauen Wortlaut des doppelten Losungsworts mitgeteilt?«, fragte ein hochgewachsener Mann mit feisten Wangen. Seine Stimme war tief und klang rau und schwerfällig, er sprach sehr langsam und gewählt. Er war der Mann, der neben der gepunkteten Fliege im Hintergrund stand.

»Mr Romer.«

»Sie sind sicher, dass Sie es korrekt wiedergegeben haben? Sie haben keinen Fehler gemacht?«

»Nein. Wir benutzen routinemäßig doppelte Losungswörter.«

»Wir?«, unterbrach sie der Silberbart.

»Im Team – alle, die mit Mr Romer arbeiten. Für uns ist das völlig normal.«

Blicke richteten sich auf Romer. Der Marineoffizier flüsterte dem Mann mit dem steifen Kragen etwas zu. Der setzte eine runde Schildpattbrille auf und nahm Eva näher in Augenschein.

Der Silberbart beugte sich vor. »Wie würden Sie die Reaktion von Leutnant Joos auf Ihre zweite Frage, ›Where can I buy French cigarettes?‹, beschreiben?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Eva.

Der Feistwangige meldete sich wieder zu Wort. »Kam Ihnen Leutnant Joos’ Antwort wie eine Erwiderung des Losungsworts vor, oder war es eine spontane Auskunft?«

Eva zögerte und dachte an diesen Augenblick im Café Backus zurück. Sie sah Joos’ Gesicht vor sich, sein verhaltenes Lächeln, er wusste genau, wer sie war. Er hatte sofort »Amsterdam« erwidert, ganz sicher, dass dies die erwartete Antwort war.

»Ich würde mit Gewissheit sagen, dass er überzeugt war, mir die richtige Erwiderung auf das zweite Losungswort gegeben zu haben.«

Ihr war, als würden alle Männer im Raum unmerklich aufatmen. Sie konnte nicht sagen, woran sie es merkte und was es zu besagen hatte, aber etwas in ihrer Antwort hatte zur Lösung eines komplexen Problems, zur Klärung einer strittigen Frage beigetragen.

Der Feistwangige trat vor, schob die Hände in die Hosentaschen. Das könnte C sein, mutmaßte sie.

»Wie hätten Sie sich verhalten, wenn Leutnant Joos das korrekte Losungswort genannt hätte?«

»Ich hätte ihn über meinen Verdacht betreffend die zwei Deutschen im Hinterzimmer informiert.«

»Sie hatten wirklich einen Verdacht gegen diese Deutschen?«

»Ja. Bedenken Sie, dass ich den ganzen Tag dort gewesen war, mit Frühstück und Mittagessen, drinnen und draußen. Die Deutschen hatten keinen Grund zur Vermutung, dass ich wegen des Treffens da war. Ich hatte den Eindruck, dass sie gereizt waren, verstimmt. Jetzt im Rückblick verstehe ich, warum.«

Der Mann mit der runden Brille hob den Finger. »Mir ist das noch nicht ganz klar, Miss Dalton. Wie kam es denn, dass Sie an dem Tag im Café Backus waren?«

»Das war Mr Romers Idee. Er wies mich an, am Morgen dorthin zu gehen und alles zu beobachten, so unauffällig wie möglich.«

»Es war also Mr Romers Idee.«

»Ja.«

»Vielen Dank.«

Sie stellten noch ein paar Fragen, der Form halber, über das Verhalten der zwei britischen Agenten, aber es war offenkundig, dass sie die Informationen hatten, die sie brauchten. Dann wurde sie gebeten, draußen zu warten.

Sie nahm im Vorzimmer Platz und nickte, als ihr Tee angeboten wurde. Der Tee wurde gebracht, und als sie die Tasse entgegennahm, stellte sie mit Freude fest, dass ihre Hände kaum zitterten. Nach etwa zwanzig Minuten kam Romer heraus. Er war glücklich, das sah sie sofort – alles an seiner Erscheinung, sein wissender Blick, sein unbewegtes Gesicht ohne die Spur eines Lächelns, verriet ihr, dass er höchst zufrieden war.

Sie verließen das Savoy und blieben auf der Straße stehen, umbrandet vom Verkehr.

»Nehmen Sie den restlichen Tag frei«, sagte er. »Sie haben es sich verdient.«

»Wieso? Was hab ich denn getan?«

»Also – wie wär’s mit einem Essen heute Abend? Ich kenne ein Lokal in Soho – Don Luigi, Frith Street. Wir sehen uns um acht.«

»Heute Abend geht es nicht, fürchte ich.«

»Unsinn. Wir müssen feiern. Ich sehe Sie um acht. Taxi!«

Er rannte davon, um ins herbeigewinkte Taxi zu steigen. Eva stand da und überlegte. Don Luigi, Frith Street, acht Uhr. Was ging hier vor?

 

»Hallo, Miss Fitzroy. Man sieht Sie aber selten!«

Mrs Dangerfield trat einen Schritt zurück, um Eva einzulassen. Die füllige Blondine trug ein dickes, pudriges Make-up, fast so, als wäre sie im Begriff, auf die Bühne zu treten.

»Bin nur auf der Durchreise, Mrs Dangerfield. Ich hole ein paar Sachen ab.«

»Ich habe hier Post für Sie.« Sie nahm einen kleinen Stapel Briefe vom Korridortisch. »Alles ist bereit und in bester Ordnung. Soll ich das Bett aufschütteln?«

»Nein, nein, ich bleibe nur ein paar Stunden, dann geht’s wieder nach Norden.«

»Nichts wie weg von London, das kann ich Ihnen sagen!« Mrs Dangerfield zählte die Nachteile Londons zu Kriegszeiten auf, während sie Eva zu ihrer Bodenkammer in der Winchester Street 312, Battersea, hinaufgeleitete.

Eva schloss die Tür hinter sich zu. Sie schaute sich im Zimmer um und machte sich wieder mit ihm vertraut – fast fünf Wochen war sie nicht hier gewesen. Als Nächstes überprüfte sie die Spurenfallen: Natürlich hatte sich Mrs Dangerfield gründlich im Schreibtisch, dem Kleiderschrank und der Kommode umgesehen. Sie setzte sich auf das Dienstmädchenbett, breitete das halbe Dutzend Briefe auf der Überdecke aus und öffnete einen nach dem anderen. Drei warf sie in den Papierkorb, die restlichen legte sie in der Schreibtischschublade ab. Alle waren von ihr selbst abgeschickt worden. Die Ansichtskarte aus King’s Lynn stellte sie auf den Sims des Gaskamins; am vergangenen Wochenende war sie extra dorthin gefahren, um diese Karte abzuschicken. Sie drehte die Karte um und las:

 

Liebste Lily, hoffe,

es steht alles zum Besten im regenreichen Perthshire. Wir sind für ein paar Tage ans Meer gefahren. Der junge Tom Dawlish hat übrigens letzte Woche geheiratet. Montagabend sind wir wieder zurück in Norwich.

Alles Liebe

Mum und Dad

 

Sie stellte die Karte zurück auf den Sims und musste plötzlich an ihren Vater und seine Flucht aus Paris denken. Die letzte Nachricht besagte, dass er in Bordeaux war – irgendwie war es Irène gelungen, einen Brief an sie nach London zu schmuggeln. »Von erträglicher Gesundheit in dieser unerträglichen Zeit«, hatte sie geschrieben.

Während Eva so dasaß, merkte sie, dass sie vor sich hin lächelte – ein Lächeln der Verblüffung angesichts der merkwürdigen Lage, in der sie sich befand. Sie saß in ihrem Zufluchtsquartier in Battersea und gab sich als Lily Fitzroy aus. Was würde ihr Vater sagen, wenn er von ihrer Tätigkeit für die »britische Regierung« hörte? Was hätte Kolja gedacht?

Mrs Dangerfield wusste nur, dass Lily Fitzroy bei den »Funkern« war, fürs Kriegsministerium arbeitete, viel reisen musste und immer mehr Zeit in Schottland und Nordengland verbrachte. Die Miete erhielt sie drei Monate im Voraus, und diese Regelung fand sie ideal. In den vier Monaten seit ihrem Einzug hatte Eva nur sechsmal in der Winchester Street übernachtet.

Sie klappte eine Ecke des Teppichs hoch, entnahm ihrer Tasche einen kleinen Schraubenzieher und hebelte ein paar lockere Nägel in den Dielen heraus. Unter dem losen Dielenbrett lag ein kleines, in Wachstuch gewickeltes Bündel, das den auf Lily Fitzroy ausgestellten Pass enthielt, eine Taschenflasche Whisky und drei Fünfpfundnoten. Sie fügte eine weitere Fünfpfundnote hinzu und stellte das Versteck wieder her. Dann legte sie sich aufs Bett, um ein Stündchen zu schlafen. Sie träumte, dass Kolja hereinkam und ihr die Hand auf die Schulter legte. Als sie mit einem Ruck hochfuhr, sah sie, dass sich ein schmaler Streifen Nachmittagssonne durch die Gardine stahl und ihren Nacken wärmte. Sie schaute in den Schrank, suchte ein paar Kleider aus und schob sie zusammengelegt in eine Tragetasche aus Papier, die sie mitgebracht hatte.

Beim Verlassen des Zimmers dachte sie über den Sinn oder gar die Notwendigkeit eines »sicheren« Quartiers nach. Es entsprach ihrer Ausbildung; so hatte sie es gelernt: eine sichere Bleibe zu unterhalten, ohne Verdacht zu erwecken. Der heimliche Unterschlupf – eine von Romers Regeln. Ihr Leben wurde mehr und mehr von diesen besonderen Verhaltensmaßregeln beherrscht. Sie schaltete das Licht aus und trat hinaus auf die Treppe – vielleicht lernte sie heute Abend noch ein paar neue.

»Bye, Mrs Dangerfield«, rief sie fröhlich. »Ich muss schon wieder los, für eine oder zwei Wochen.«

 

Am Abend kleidete sich Eva mit mehr Sorgfalt und Bedacht als sonst. Sie wusch ihr Haar, rollte die Spitzen ein und beschloss, Romer mit einer losen Frisur zu überraschen. Nach Art von Veronica Lake schob sie eine Locke über ihr Auge, entschied aber dann, dass dies zu weit ging. Schließlich wollte sie den Mann nicht verführen. Nein, sie wollte nur, dass er sie stärker zur Kenntnis nahm, sie auf eine andere Art wahrnahm. Mochte er denken, dass er nur eine seiner Untergebenen zum Essen ausführte, aber sie wollte ihm deutlich machen, dass nicht viele seiner Unterge benen so aussahen wie sie. Das war ausschließlich eine Frage des Selbstwertgefühls und hatte nicht das Geringste mit Romer zu tun.

Sie legte Lippenstift auf – einen neuen, der Tahiti Nights hieß –, puderte ihr Gesicht und tupfte Rosenwasser auf ihre Handgelenke und hinter die Ohren. Sie trug ein leichtes dunkelblaues Baumwollkleid mit gerafften maisgelben Einsätzen und einem Schärpengürtel, der ihre schlanke Taille betonte. Ihre Brauen waren zu makellosen Bögen gezupft und von perfektem Schwarz. Sie steckte Zigaretten, Feuerzeug und Börse in ihre Handtasche aus Binsengeflecht mit Muschelbesatz, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und entschied sich endgültig gegen Ohrclips.

Als sie die Treppe des Wohnheims hinabstieg, warteten ein paar der Mädchen vor der Telefonzelle im Foyer. Sie verbeugte sich, als sie ihr mit spöttischer Bewunderung nachpfiffen.

»Wer ist der Glückliche, Eve?«

Sie lachte. Romer war der Glückliche: Er hatte ja keine Ahnung, was für ein Glück er hatte.

 

Der Glückliche kam zu spät, um zwanzig Uhr fünfunddreißig. Eva war zum besten Tisch geleitet worden, an einem Erkerfenster, das auf die Frith Street blickte. Sie trank zwei Gin Tonic und vertrieb sich die Zeit damit, ein französisches Pärchen zwei Tische weiter zu belauschen, das sich mit nicht allzu gedämpfter Stimme stritt – vor allem ging es um die grässliche Mutter des Mannes. Als Romer erschien, brachte er weder eine Entschuldigung vor, noch machte er eine Bemerkung über ihr Aussehen, sondern bestellte sofort eine Flasche Chianti. »Der beste Chianti von London. Ich komme nur wegen des Chianti her.« Sein Hochgefühl war nach dem Verlassen des Savoy eher noch intensiver geworden, und während sie die Vorspeisen bestellten und verzehrten, sprach er wortreich und voller Verachtung über die »Zentrale«. Sie hörte nur halb zu und zog es stattdessen vor, ihm beim Trinken, Rauchen und Essen zu zusehen. Was sie mitbekam, war, dass die Zentrale mit der Idioten-Elite von London besetzt war, dass die Leute, mit denen er zu tun hatte, entweder abgehalfterte Beamte der indischen Kolonialbehörde waren oder sich aus den Herrenclubs der Pall Mall rekrutierten. Letztere verachteten die Ersteren als kleinbürgerliche Karrieristen, während Erstere die Letzteren als Wechselempfänger bezeichneten, die ihren Job nur dem Umstand verdankten, dass sie mit dem Chef in Eton gewesen waren.

Er zeigte mit der Gabel auf sie – er aß, was die Speisekarte als Kalb Milanese auswies; sie hatte gepökelten Kabeljau mit Tomaten bestellt.

»Wie sollen wir eine erfolgreiche Firma betreiben, wenn der Aufsichtsrat so drittklassig ist?«

»Ist Mr X drittklassig?«

Er schwieg, und sie sah, wie es in ihm arbeitete, wie er überlegte, woher sie von Mr X wusste, bis es ihm klar war und er entschieden hatte, dass es in Ordnung war.

Bedächtig antwortete er: »Nein. Mr X ist anders. Mr X weiß, was der AAS wert ist.«

»War Mr X heute dabei?«

»Ja.«

»Welcher war es?«

Anstelle einer Antwort griff er zum Chianti und füllte beide Gläser nach. Es war schon die zweite Flasche.

»Trinken wir auf Ihr Wohl, Eva«, sagte er, und es klang beinahe aufrichtig. »Sie haben sich heute sehr gut geschlagen. Ich sage ungern, dass Sie unsere Haut gerettet haben, aber es ist so.«

Sie stießen an, und er zeigte ihr das strahlende Lächeln, das sie so selten an ihm sah. An diesem Abend merkte sie zum ersten Mal, dass er sie anschaute, wie ein Mann eine Frau anschaut: ihr blondes gewelltes Haar, ihre roten Lippen, ihre geschwungenen Augenbrauen, ihren schlanken Hals, die Wölbung ihrer Brüste unter dem blauen Kleid.

»Hm, ja«, sagte er unbeholfen. »Sie sehen sehr … schick aus.«

»Wieso habe ich Ihre Haut gerettet?«

Er schaute sich um; es war niemand in der Nähe.

»Die sind jetzt überzeugt, dass das Problem auf der holländischen Seite liegt, nicht auf der britischen. Die Holländer haben uns reingeritten – ein fauler Apfel in Den Haag.«

»Was sagen die Holländer?«

»Die sind natürlich mordswütend. Geben uns die Schuld. Schließlich wurde ihr Chef zwangspensioniert.«

Eva wusste, dass Romer gern im Nullcode sprach, wie das genannt wurde. Auch das gehörte zu seinen Regeln: Nullcode, wann immer möglich, keine Chiffren oder Verschlüsselungen, die waren entweder zu kompliziert oder zu leicht zu knacken. Nullcode konnte verstanden werden oder auch nicht. Und wenn nicht, weckte er keinen Verdacht.

Eva sagte: »Nun, es freut mich, wenn ich von Nutzen war.«

Diesmal erwiderte er nichts. Er lehnte sich zurück und schaute sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Sie sehen sehr schön aus heute Abend, Eva. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

Aber sein trockener und ironischer Ton sagte ihr, dass er es nicht ernst meinte.

»Ja«, erwiderte sie genauso trocken. »Hin und wieder.«

 

In der verdunkelten Finsternis der Frith Street mussten sie eine Weile auf ein Taxi warten.

»Wo wohnen Sie?«, fragte er. »In Hampstead, oder?«

»In Bayswater.« Sie fühlte sich ein wenig betrunken nach all dem Gin und Chianti. In einem Ladeneingang stehend, schaute sie Romer nach, der vergebens hinter einem Taxi herjagte. Als er zurückkam, schulterzuckend, ein wenig zerzaust, mit verzagtem Lächeln, spürte sie den plötzlichen, fast körperlichen Drang, mit ihm im Bett zu liegen, nackt. Sie erschrak ein wenig vor ihrer Sinnlichkeit, doch dann bedachte sie, dass es mehr als zwei Jahre her war, seit sie mit einem Mann geschlafen hatte, und ihr fiel Jean-Didier ein, ihr letzter Liebhaber, Koljas Freund, der traurige Musikant, wie sie ihn für sich nannte, zwei Jahre seit Jean-Didier, und jetzt plötzlich überkam sie dieses gewaltige Verlangen, wieder einen Mann in den Armen zu halten – seine nackte Haut an ihrem nackten Körper zu spüren. Es ging ihr nicht so sehr um Sex, eher um die Nähe, darum, jemanden zu umarmen, der größer und stabiler war als sie, um diese andersartige männliche Muskulatur, den andersartigen Geruch, die andersartige Kraft. Das war es, was ihr fehlte. Um Romer geht es gar nicht mal, sagte sie sich, als er auf sie zugelaufen kam – nur um einen Mann, um Männer. Romer war nur der einzige, der ihr momentan zur Verfügung stand.

»Vielleicht sollten wir mit der U-Bahn fahren«, sagte er.

»Es wird schon ein Taxi kommen«, erwiderte sie. »Ich hab’s nicht eilig.«

Ihr fiel ein, was ihr eine Frau in Paris erzählt hatte. Eine Frau Mitte vierzig, mehrfach geschieden, elegant, ein wenig weltmüde. »Nichts ist leichter, als einen Mann zu einem Kuss zu verführen«, hatte diese Frau behauptet. »Ach, wirklich? Und wie macht man das?«, hatte Eva gefragt. »Man muss nur dicht bei ihm stehen, sehr dicht, so dicht es geht, ohne ihn zu berühren – und er wird Sie küssen, umgehend. Es funktioniert immer. Für Männer ist das wie ein Instinkt. Sie können nichts dagegen tun.«

Also stellte sich Eva im Ladeneingang auf der verdunkelten Frith Street dicht neben Romer, während er den vorbeifahrenden Autos zubrüllte und -winkte, in der Hoffnung, es könnte ein Taxi darunter sein.

»Wir haben einfach kein Glück«, sagte er, drehte sich zu ihr um und stellte fest, dass Eva sehr dicht neben ihm stand und zu ihm aufblickte.

»Ich hab es nicht eilig«, sagte sie.

Er griff nach ihr und küsste sie.

 

Eva stand nackt im engen Badezimmer der Wohnung, die Romer in South Kensington gemietet hatte. Auch ohne Licht erkannte sie sich im Spiegel, den bleichen, länglichen Umriss ihres Körpers mit den dunklen Rundungen ihrer Brustwarzen. Beinahe sofort nach dem Kuss hatten sie ein Taxi bekommen, waren hierhergefahren und hatten sich ohne viele Umstände und Worte geliebt. Beinahe sofort danach war sie ins Badezimmer gegangen, um zur Besinnung zu kommen, um zu verarbeiten, was passiert war. Sie betätigte die Spülung und schloss die Augen. Jetzt darüber nachdenken bringt gar nichts, sagte sie sich. Dafür ist später Zeit genug.

Sie schlüpfte zurück zu ihm ins Bett.

»Ich habe alle meine Regeln gebrochen, wie du merkst«, sagte Romer.

»Doch nur die eine, oder?« Sie schmiegte sich an ihn. »Die Welt wird schon nicht untergehen davon.«

»Tut mir leid, dass ich so schnell war«, sagte er. »Ich bin ein bisschen aus der Übung. Du bist verdammt schön und einfach zu aufregend.«

»Ich hab mich nicht beklagt. Komm, umarme mich.«

Er gehorchte, und sie drückte sich an ihn, fühlte seine muskulösen Schultern, die tiefe Furche, die sein Rückgrat war. Er schien so groß neben ihr, fast als wäre er von einer anderen Machart. Genau das habe ich gebraucht, sagte sie sich, das hat mir gefehlt. Sie drückte ihr Gesicht in den Winkel zwischen Hals und Schulter und atmete tief ein.

»Du bist nicht mehr Jungfer«, sagte er.

»Nein. Du etwa?«

»Ich bin schließlich viel älter als du.«

»Es gibt auch alte Jungfern.«

Er lachte, und sie strich ihm über die Seite, um ihn zu berühren. Er hatte drahtiges Brusthaar und einen flachen Bauch. In der losen Umklammerung ihrer Finger begann sein Penis zu schwellen. Er hatte sich seit dem Morgen nicht rasiert, sein Bart kratzte. Sie küsste seinen Hals, seine Brustwarzen und spürte das Gewicht seines Schenkels, als er sich ihr zuwandte und das Bein über sie legte. Das war es, was sie wollte: Gewicht, Muskelmasse, Kraft. Etwas, was mächtiger war als sie. Er drehte sie mit Leichtigkeit auf den Rücken, und sie ergab sich der Schwere seines Körpers.

»Eva Delektorskaja«, sagte er. »Wer hätte das gedacht.«

Er küsste sie zärtlich, sie öffnete ihre Schenkel, um ihn aufzunehmen.

»Lucas Romer«, sagte sie. »So, so …«

Er stützte die Arme auf und betrachtete sie von oben.

»Versprich mir, dass du es niemandem erzählst, aber …« Er ließ den Satz unbeendet, wie um sie auf die Folter zu spannen.

»Schon versprochen«, erwiderte sie und dachte: Wem soll ich es auch erzählen? Deirdre? Sylvia? Blytheswood? So ein Narr!

»Aber …«, fuhr er fort, »dir, Eva Delektorskaja, haben wir zu verdanken, dass wir alle in die USA gehen.«