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1957 bis 1958 – San Francisco, Kalifornien
Ich hatte Mrs. Katsulis nie so außer sich gesehen.
Sie war seit acht Jahren bei mir tätig und hatte sich in dieser ganzen Zeit nie anders als zuverlässig, standfest und vernünftig gezeigt, Eigenschaften, derentwegen ich sie überhaupt erst eingestellt hatte.
Mrs. Katsulis war die Gesellschafterin von Iris, eine diplomierte Krankenschwester mit Erfahrung im Umgang mit entwicklungsgestörten Erwachsenen. So nannten es die westlichen Ärzte, sie sagten, meine Tochter sei »entwicklungsgestört«. Chinesische Ärzte sprachen davon, daß der Fluß zwischen ihren neunundfünfzig Meridianen gehemmt sei. Gideon hörte auf die westlichen Ärzte und wollte, daß Iris Medikamente mit Unglück verheißenden Namen wie Methylphenidat und Chlorpormazin ausprobierte. Aber ich beruhigte das Blut meiner Tochter und glättete ihr chi mit Aufgüssen von Chrysanthemen, Frauenschuh und fossilem Drachenbein. In ihr Schlafzimmer legte ich mit Lavendel gefüllte Kissen und stellte Schalen mit Orangenblüten auf. Ich entfernte alle Spiegel, in denen man ihr Bett sah, damit ihr Geist sich nicht erschreckte, wenn sie schlief und er seinem eigenen Bild begegnete. An die Wände malte ich acht Glückssymbole in Türkis, der Farbe des Nordostens, die selbst auch ein Glückssymbol ist. Im Lauf der Zeit fand der wurzellose Geist meiner Tochter zu einer gewissen Ruhe. Wenn sie nicht mit ihren riesigen, komplizierten Puzzlespielen beschäftigt war, die sie mit verblüffender Geschwindkeit zusammensetzte, konnte sie lange Zeit still auf dem Dach, im Garten oder am Swimmingpool sitzen. Dabei machte sie einen ganz normalen Eindruck, und wer sie zum ersten Mal sah, glaubte lediglich, sie sei schüchtern.
Und dann begann sie eines Tages zu wandern. Ich ließ an allen Türen neue Schlösser anbringen, aber es war wie mit den Rätselkästchen und Puzzlespielen: Es gab kein Schloß, das Iris am Ende nicht doch aufbekommen hätte. Aus diesem Grund schlief Mrs. Katsulis jetzt bei ihr im Zimmer. Meine Tochter war eine schöne junge Frau geworden, und Männer, die sie nicht kannten, hielten ihr Verhalten für Spielerei, eine Aufforderung zur Verführung.
Woher dieser plötzliche Trieb zu wandern kam, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Vision sie von zu Hause fortlockte, aber es schien, als halte sie nach etwas Ausschau. Einmal, als sie in diesem Zustand war, folgte ich ihr und merkte, daß sie sich wie jemand bewegte, der sich verirrt hat und nach Wegweisern sucht, die nach Hause führen. Als ich sie an der Ecke anhielt, lächelte sie nur und kam mit mir zurück. Aber ich fragte mich, wie weit sie sonst wohl gegangen wäre, bis sie das gesehen hätte, bei dem sie hätten denken können: Nun bin ich angekommen.
Ich hatte keine anderen Kinder. Mr. Lee hatte mir kein Baby schenken können, und nach seinem Tod konnten Männer nur noch Freunde für mich sein. Mein Herz gehörte Gideon Barclay, der immer der einzige Mann bleiben würde, den ich liebte, und Iris war das Kind dieser Liebe. Das genügte mir. Vielleicht krampfte sich manchmal mein Herz zusammen, wenn ich an Enkel dachte oder die Enkel anderer Frauen meines Alters sah, denn Iris konnte niemals heiraten und ich – neunundvierzig Jahre und unverheiratet – wußte, daß ich keine Kinder mehr bekommen würde. Richard Barclays Linie endete mit meiner Tochter.
Darum war ich, als Mrs. Katsulis händeringend zu mir kam, das Gesicht so weiß wie die Wolken über der Bucht, vollkommen verwirrt, als sie mir berichtete, was sie über Iris herausgefunden hatte. Zuerst war ich zornig und empört gewesen, daß jemand es gewagt hatte, meine kostbare Tochter anzutasten, und ich schämte mich, weil Schande auf uns gefallen war. Dann aber dachte ich: Iris ist schwanger, und es ist nicht wichtig, wer der Mann ist, weil die Blutlinie, die mit Richard und Mei-ling begann, nun doch nicht ausstirbt.
Natürlich sagte ich es Gideon, der wie erwartet voller Zorn war. Als Iris’ Vater wollte er den Täter finden und Strafe für ihn fordern. Aber wir hatten keine Möglichkeit, denn Iris hatte eines Nachts, ohne daß Mrs. Katsulis wachgeworden war, ihr Zimmer verlassen, und wir hatten sie dann am nächsten Morgen schlafend in der Laube auf dem Dach gefunden. Alle dachten, sie sei nur dort hinaufgegangen, um die Sterne anzuschauen. Nun wußte ich, daß sie auch auf die Straße hinausgelaufen war. Allein ihrem Glück und dem wachsamen Schutz der Göttin Kwan Yin verdankte es meine Tochter, daß ihr nicht noch Schlimmeres zugestoßen war.
Gideon wollte zur Polizei gehen. Das war seine Art, etwas zu erledigen, auf dem offiziellen Weg, so wie die Amerikaner es taten. Aber es gab auch den Weg der Familie, mit solchen Dingen umzugehen, die chinesische Art. Ich mußte die Ehre meiner Tochter schützen.
»Ich werde mit ihr nach Hawaii reisen«, sagte ich Gideon. »Dort ist sie vor neugierigen Augen sicher und kann in Ruhe ihr Kind zur Welt bringen. Nach unserer Rückkehr werde ich allen erzählen, daß sie geheiratet hat und der junge Mann bei einem Unfall gestorben ist.«
»Harmonie«, sagte Gideon so sanft, daß ich mich danach sehnte, von ihm umarmt zu werden. »Kein Mensch wird das glauben.«
»Ich weiß. Aber alle werden höflich sein und das Gefühl haben, sie müßten helfen, die Ehre meiner Tochter zu wahren. Es wird ein offenes Geheimnis sein, das alle kennen, so daß keiner darüber tuscheln muß.«
Es gab viele Vorbereitungen zu treffen, bevor ich mit Iris nach Honolulu fuhr, denn ich hatte immer noch die alleinige Kontrolle über meine Gesellschaft für Naturheilmittel, die jetzt als »Haus der Harmonie« firmierte. Die Fabrik in Daly City war mehrfach erweitert und renoviert worden, und auf Gideons Rat hatte ich auch endlich auf automatische Maschinen umgestellt. Ich hatte inzwischen gelernt, daß es vorteilhaft sein konnte, auf den Rat anderer zu hören, denn als ich der Empfehlung des jungen Mr. Sung folgte, den Mitarbeitern unsere Produkte gratis anzubieten, verbesserte sich die Qualität, wie von ihm vorhergesagt, zusehends, weil niemand wußte, aus welcher Produktion er etwas bekommen würde. Wir hatten nie wieder ein Problem, und mein Unternehmen wuchs stetig weiter. 1949 wurden Importe aus der Volksrepublik China mit einem Embargo belegt, das den Nachschub an Kräutern einschneidend minderte. Von da an ließen wir uns über Hongkong beliefern, und zwar über unsere eigene Niederlassung, der Harmonie-Barclay Ltd. Das Wachstum hielt an. Als die Leute gesundheitsbewußter wurden und besser über die Bedeutung von Vitaminen und Kräutern Bescheid wußten, begannen die Rezepte meiner Mutter auch außerhalb von Chinatown populär zu werden und in Drugstores, Märkten und einer neuartigen Sorte Geschäft, den sogenannten Reformhäusern, aufzutauchen.
Während ich damit beschäftigt war, ausführliche und detaillierte Anweisungen für mein Aufsichtspersonal zu entwerfen, denn immerhin rechnete ich damit, fast ein Jahr abwesend zu sein, bekam ich unerwarteten Besuch.
Olivia Barclay hatte seit dem Tag ihres Auszugs vor fünfzehn Jahren nie wieder einen Fuß in das Haus gesetzt. Ich hatte sie auch sonst kaum gesehen – einmal bei Margos und Adrians Hochzeit, zu der Gideon mich eingeladen hatte, und einmal in einem Krankenhaus, als er sich von einer Knieoperation erholte. Ich wußte von Gideon, daß sie, obwohl so reich und die Königin ihres gesellschaftlichen Kreises, obwohl eine Barclay und mit dem gutaussehenden Gideon verheiratet, keine glückliche Frau war. Anscheinend reichte ihr das alles nicht, denn ich hatte das Haus.
Das war natürlich auch der Grund für die Briefe, mit denen sie mich im Lauf der Jahre bombardiert hatte, Briefe voll zorniger, giftiger Worte, Drohungen, mich von Haus und Hof zu jagen, Versprechungen, mich wünschen zu lassen, ich wäre nie aus Singapur herausgekommen. Ich hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Gideon, und allmählich kamen sie seltener, wurden kürzer und weniger ausfallend, um dann am Ende ganz auszubleiben.
Ich führte Olivia in mein Wohnzimmer und wußte, was sie sah, als ihre Augen über Wände, Böden und Möbel wanderten. Sie sah eine Beleidigung, die Entweihung ihres Traums. Es gab nichts Viktorianisches mehr, aber auch von Olivias ultramoderner Welt war nichts übrig. Ich hatte mein neues Heim auf chinesische Art eingerichtet, so daß Olivia von geschnitzten Möbeln aus exotischem, dunklem Holz umgeben war, von schwarzgoldenen Wandschirmen aus Lack, Rollbildern an den Wänden und sparsam verteilten, bedeutsamen Kunstwerken wie dem kaiserlichen Drachen in Cloisonnéarbeit auf seiner Rosenholzkommode, den gewaltigen, mit Mandarinenten bemalten Melonenkruglampen vor rotem Hintergrund und dem Trio lebensgroßer Messingkraniche, die zwischen naturgetreu patiniertem Schilf und Bambus stehend den Raum beherrschten. Während ich in einem kobaltblauen, mit Schmetterlings- und Päonien-Motiven verzierten Cloisonnéservice Tee einschenkte, sah ich das unverstellte Urteil in Olivias Augen. Man hätte denken können, ich hätte das Haus mit Müll zugekippt.
»Es handelt sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch«, begann sie und rührte weder den Jasmintee noch meine Mandelsesamkekse an.
In einem Ton, der scharf war wie ein Schwert, fuhr sie fort: »Ich möchte gerne gleich zur Sache kommen.« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm zwei Briefumschläge heraus, von denen der eine versiegelt war. Sie gab mir den anderen. »Lesen Sie diesen zuerst.«
Noch mehr Briefe, dachte ich. Und so wichtig, daß sie sie persönlich überbringen muß.
Als ich den Umschlag öffnete und vorsichtig die Blätter herauszog, flatterte mein Herz ängstlich wie ein Vogel im Käfig. Ich wußte sofort, daß Olivia schlechte Nachrichten und Unglück gebracht hatte, denn der Brief stammte nicht von ihr. Die Absenderadresse war der Name einer Privatdetektei in Hongkong.
»Ich habe fünfzehn Jahre gebraucht, um diese Informationen zu erhalten«, erklärte sie, nahm eine Zigarette aus ihrem Etui und zündete sie an, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. »Ich habe nie geglaubt, daß Sie Richard Barclays Tochter sind, oder, falls doch, daß er jemals mit Ihrer Mutter verheiratet war. Es hat eine Menge Geld und Lauferei gekostet, bis ich erfuhr, was ich wissen wollte. Im Krieg sind viele Aufzeichnungen untergegangen, ebenso viele Menschen. Aber der Mann, den ich beauftragt habe, konnte doch endlich das Nötige herausfinden.«
Ich schaute nicht auf die Papiere, sondern in ihre Augen. »Und was ist das?« fragte ich sanft.
»Daß ich recht hatte. Ihre Mutter und Richard Barclay waren nie gesetzlich verheiratet.«
»Nein. Nicht gesetzlich. Trotzdem waren sie Mann und Frau.«
»Nicht in irgendeiner Form, die vor Gericht standhalten würde. Mrs. Lee, Ihre Geburtsurkunde ist ebenso gefälscht wie Ihre Staatsangehörigkeit. Bestimmt würde ein Gericht sich dafür interessieren, daß Sie unter falschen Angaben in unser Land eingereist sind. Ich könnte mir vorstellen, daß man Sie nach Singapur zurückschickt.«
»Und das hier?« Ich sah auf den versiegelten Umschlag.
»Das hat mein Beauftragter seinem Brief beigelegt. Es ist an Sie persönlich adressiert.«
Wieso hatte sie es nicht aufgemacht, dieses lediglich mit Leim versiegelte Stück Papier, nachdem sie doch mein ganzes Leben so weit aufgerissen hatte? Der Umschlag enthielt einen langen Brief von Reverend Peterson, dem Mann, der meiner Mutter und mir vor vielen Jahren geholfen hatte.
»Vergeben Sie mir, Harmonie«, schrieb er. »Der Mann hat mich hereingelegt. Er gab vor, ebenfalls Geistlicher zu sein. Als ich dann herausfand, daß er mich betrogen und ich ihm Dinge anvertraut hatte, die keinen Fremden etwas angingen, suchte ich ihn auf und bat ihn, Ihnen wenigstens diesen Brief zukommen zu lassen, sofern es in seiner Macht stünde. Ich weiß nicht, wo Sie jetzt sind, Harmonie, aber der Klient dieses Detektivs muß es ja wissen, denn warum würde er sonst nach Ihrer Herkunft forschen? Weil ich diesem Mann nun die Wahrheit gesagt habe, muß ich sie um Ihretwillen auch Ihnen mitteilen, damit man sie nicht gegen Sie verwenden kann – eine Wahrheit, liebe Harmonie, die niemals preiszugeben ich einst geschworen habe.
Ihre Mutter ist in dem Jahr, als Sie nach Amerika aufbrachen, nicht gestorben.«
Den Rest nahm ich in Bildern wahr und nicht in Worten. Sie sprangen mir aus dem Papier entgegen wie Filmszenen auf einer Leinwand.
Meine Mutter, die von dem neuen Einwanderungsgesetz hörte, das in den Vereinigten Staaten verabschiedet werden sollte und selbst den Kindern amerikanischer Bürger die Einreise untersagte.
Meine Mutter, die Reverend Peterson um Hilfe bat.
Die beiden, die einen Plan ersannen, zu dem gehörte, daß mein Geburtsjahr geändert wurde, damit ich achtzehn statt sechzehn war und als Erwachsene reisen konnte.
Meine Mutter, die vorgab, krank und dem Tode nah zu sein, damit ich fortging und bei meinem Vater in Amerika ein neues Leben anfangen konnte.
»Ich erzählte diesem Betrüger«, schrieb Reverend Peterson, »von Mei-lings und meiner Täuschung und davon, daß wir amtliche Papiere gefälscht hatten. Das kann man gegen Sie verwenden, und ich bedaure es zutiefst. Aber ich bedaure nicht, daß ich mein Versprechen, das ich Ihrer Mutter gegeben hatte, gebrochen habe, denn weil ich Ihnen nun diese Unglückbotschaft senden muß, kann ich Ihnen gleichzeitig auch andere, erfreulichere Dinge mitteilen. Wie gesagt, ist Ihre Mutter damals, als Sie Singapur verließen, nicht gestorben, und sie starb auch nicht im nächsten oder übernächsten Jahr. Aber eines Tages, wenige Monate nach Ihrer Abreise, kam sie zu mir und erzählte mir eine erstaunliche Geschichte: ihr Vater war zu ihr gekommen. Er hatte sie in der Malay-Straße aufgesucht und ihr gesagt, dadurch, daß sie sich selbst verstoßen und als Unperson gelebt hätte, habe sie ihm Ehre gebracht, und er bitte sie, wieder nach Hause zurückzukehren.
Ich habe die beiden dort besucht. Wie lieblich war Mei-ling im Garten ihres Vaters, als sie uns Tee und die wunderbaren Kuchen, für die sie berühmt war, vorsetzte! Nie habe ich eine Frau so glücklich gesehen. Ich weiß auch, woher dieses Glück kam: weil Sie, Harmonie, Ihren Vater finden würden.
Ich fragte sie, warum sie so getan hätte, als würde sie bald sterben, und sie antwortete, daß es das einzige Mittel gewesen wäre, Sie zur Abreise zu bewegen. Und wenn sie schon nicht mit dem Mann leben konnte, den sie liebte, dann sollte wenigstens ihre Tochter bei ihm sein.
Später, als wir beide allein und außer Hörweite anderer waren, erzählte mir Ihre Mutter etwas höchst Sonderbares. Sie sagte, bald nachdem sie in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt sei, habe sie Nachforschungen über Ihren Verbleib in Amerika angestellt. Sie mußte das ohne Hilfe ihres Vaters tun, denn Sie waren ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen ihnen, weil Sie, Harmonie, die Schande darstellten, die auf ihrer Familie lastete. Aber Mei-ling mußte wissen, ob es Ihnen gutging und Sie Ihren Vater gefunden hatten. Diese Fragen brannten in ihrem Herzen, als sie einen Brief nach dem anderen an eine Auskunftei in San Francisco schrieb und lange Wochen auf Antwort wartete. Endlich erhielt sie Nachricht – einen Zeitungsausschnitt, der Ihre Verlobung mit Gideon Barclay bekanntgab. Sie wollte Ihnen sofort schreiben.
Aber ihr Vater – Ihr Großvater – entdeckte ihre Absicht. Er erinnerte sie daran, daß sie durch die Verbannung ihrer unehelichen, von einem fremden Teufel gezeugten Tochter die Familienehre wiederhergestellt hatte. Diese Tochter nun nach Singapur zurückzuholen, hätte neuerliche Schande bedeutet. Mei-ling wußte nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht zu Ihnen nach Amerika fahren, weil die amerikanischen Gesetze die Einreise von Chinesen verboten. Und sie konnte Sie nicht bitten, zu ihr zu kommen.
Sie betete zu Kwan Yin und erhielt auf höchst merkwürdige Weise Antwort. Ihre Mutter erzählte mir, daß die Göttin mit der Stimme ihrer eigenen, Mei-lings, Mutter zu ihr gesprochen habe. Ihre Mutter war vor langer Zeit gestorben, als Mei-ling noch ein Kind war. Die Stimme sagte: ›Harmonie gehört nicht mehr hierher. Ihre Aufgaben liegen in der Neuen Welt. Laß sie ihrem Schicksal folgen.‹
Mei-ling schrieb Ihnen niemals, obwohl sie bei jedem Herzschlag unter der Trennung litt. Sie wußte, daß ihre Mutter weise gesprochen hatte, denn wenn sie Ihnen einen Brief geschickt hätte, wären Sie sofort gekommen und hätten dadurch zwei Leben zerstört.«
Ich las die Worte und war von der Weisheit meiner Mutter zu Tränen gerührt. Sie hatte recht gehabt. Hätte ich von ihr gehört, wäre ich nach Singapur zurückgekehrt. Aber selbst wenn ich es nicht getan und ihr nur geschrieben hätte – würde nicht jeder Brief von mir neue Schande und Unehre über sie gebracht haben, wenn er im Haus ihres Vaters eintraf?
Am Schluß seines Briefs hatte Reverend Peterson noch etwas hinzugefügt. Ich las es mit nassen Augen. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Ihre Mutter vor kurzem gestorben ist. Es war ein friedlicher Tod. Sie hat dreißig Jahre ruhig und zufrieden im Haus ihres Vaters gelebt, ihre Arzneien hergestellt, anderen Menschen geholfen. Als sie starb, hatte sie eine Flasche Goldlotuswein von Vollkommener Harmonie, mit dem schönen, blausilbernen Weidenetikett, in der Hand, die auf ihrer Brust ruhte. Sie war stolz auf das, was ihre Tochter erreicht hatte. Und ich weiß, daß kein Tag verging, an dem sie nicht an Sie und Ihr Leben im Haus Ihres Vaters, Richard Barclay, dachte.«
Ich ließ den Brief in den Schoß sinken und sah Olivia an. Sie war gekommen, um mir Angst zu machen. Statt dessen hatte sie mir das Leben meiner Mutter zurückgegeben. Sie wollte mir das Haus wegnehmen. »Tun Sie mit den Informationen Ihres Detektivs, was Sie wollen«, sagte ich. »Das Haus meines Vaters bekommen Sie nie.«
Am selben Abend, ich packte gerade unsere Koffer, stand Gideon vor der Tür. »Olivia ist eben nach Hause gekommen. Sie war furchtbar erregt und erzählte mir, sie sei bei dir gewesen. Was ist passiert? Warum kam sie zu dir? Was hat sie dir gesagt?«
Ich zeigte ihm Reverend Petersons Brief und weinte in den Armen meines Geliebten – aus Freude, aus Trauer, weil meine Mutter glücklich gewesen und weil sie tot war. In dieser Nacht blieb er bei mir, mein liebster Gideon blieb bei mir. Er ging kurz vor Tagesanbruch, als ich noch schlief.
Am nächsten Tag, als Iris, Mrs. Katsulis und ich gerade in die Pan-Am-Maschine nach Hawaii steigen wollten, sah ich Gideon durch die Menge auf uns zueilen. Ich dachte, er wollte uns auf Wiedersehen sagen, aber er trug einen Koffer.
»Ich habe Olivia gesagt, daß ich die Scheidung will. Ich komme mit dir und unserer Tochter nach Hawaii.«
Zehn Monate später kehrten wir mit Charlotte zurück. Sie war in Hilo zur Welt gekommen, einer ruhigen Stadt, in der uns niemand kannte. Wie ich vorausgesagt hatte, glaubte uns niemand zu Hause die Geschichte von dem jungen Mann, der Iris geheiratet hatte und kurz danach bei einem Tauchunfall gestorben war, aber jeder akzeptierte sie und hütete das Geheimnis.
In Hawaii hatten Gideon und ich uns unser neues gemeinsames Leben ausgemalt. Aber als wir wieder in San Francisco waren, wurde uns klar, daß wir keines haben würden.
Olivia verweigerte Gideon die Scheidung. Ich hatte es nicht anders erwartet. Warum sollte sie meinetwegen auf Haus und Ehemann verzichten? Aber es gab noch andere familiäre Schwierigkeiten, für die Gideons Kraft und Führung gebraucht wurden. Das schwerwiegendste Problem war, daß Margo nicht schwanger werden konnte.
Margo war nun seit sieben Jahre mit Adrian verheiratet und hatte immer noch kein Kind geboren. Sie wollte ein Waisenkind adoptieren, aber Olivia leistete Widerstand. Sie beharrte darauf, ihre Schwiegertochter zu einem Spezialisten zu schicken, der dann einen Weg finden sollte, den Barclays einen Erben zu schenken. Olivia wollte einen Barclay-Enkel. »Ich habe versucht, ihr zu erklären«, erzählte mir Gideon einmal, »daß wir selbst keine echten Barclays sind, daß Richard Barclay mich auch nur adoptiert hat. Aber das vergißt sie gerne und zwingt Adrian jedesmal einzugreifen, wenn Margo zu einem Anwalt oder einer Adoptionsvermittlung gehen möchte.«
Schwiegermutter und Schwiegertochter stritten sich inzwischen ständig. Mit der innigen Beziehung von einst, als Olivia noch im großen Haus gewohnt und der jungen Margo Stoffmuster für Vorhänge gezeigt hatte, war es vorbei. Adrian, der nun fast dreißig war und als Leiter des Harmonie-Barclay-Büros in San Francisco eine hohe Stellung bekleidete, saß zwischen allen Stühlen. Weil er nicht gleichzeitig seiner Mutter gehorchen und seiner Frau gefällig sein konnte, flüchtete er mehr und mehr in Yachtclubs, auf Golfplätze und, wie Gideon vermutete, in die Bordelle von Nevada.
Diese Nachrichten machten mir Sorgen, denn ich wußte, wie sehr auch Gideon sich nach Enkelkindern sehnte. Mißklänge wie diese mußten Margos innere Harmonie und ihr Gleichgewicht von Yin und Yang stören sowie den Fluß ihres chi hemmen, was ihre Chancen, überhaupt schwanger zu werden, deutlich verminderte. Gideon fragte mich, ob ich ihr helfen könnte, ob ich ein Heilmittel wüßte. Ich erinnerte ihn daran, daß meine Mittel nicht heilten, denn das war nicht der chinesische Weg. Sie gaben dem Körper nur Gleichgewicht und Harmonie zurück, damit er sich selbst helfen konnte. Genau das jedoch war es, was Margo brauchte – die Wiederherstellung ihrer inneren Harmonie.
Ich gab Gideon eine Flasche Goldlotuswein, den ich selbst seit Jahren nahm. Ich selbst war der Beweis für die ausgleichende Kraft meiner Medizin, denn obwohl ich fünfzig Jahre zählte, schätzten mich die meisten Leute zehn Jahre jünger. Die Flasche für Margo stammte aus meinem Privatvorrat und kam nicht aus der Fabrik. Ihren Inhalt stellte ich selbst in meiner Küche her, so wie es schon meine Mutter und vor tausend Jahren die Goldlotusdame getan hatte. Alle Bestandteile kamen in ein großes Tongefäß, das mit dem starken chinesischen Gao-liang-Schnaps gefüllt war. Es wurde gut verschlossen und die Mischung dann sechs Monate stehengelassen. Anschließend wurde sie gefiltert, mit noch mehr Gao-liang aufgefrischt, neu versiegelt und dann wieder weggestellt, um weitere sechs Monate durchzuziehen. Zu den kraftvollen Ingredienzien, die ich dabei verwendete, gehörten Engelwurz, die das Gleichgewicht des Monatsflusses reguliert, zerstoßener Seidenwurm, der das Blut besänftigt, und getrockenete menschliche Plazenta, allesamt starke Verjüngungs- und Fruchtbarkeitsmittel.
Margo mochte mich nicht und hatte kein Vertrauen in Naturheilmittel, auch wenn sie ihnen ihren ganzen Reichtum verdankte. Darum wußte ich, als mir Gideon sagte, sie trinke regelmäßig ihren Goldlotuswein und bitte um weitere Flaschen, daß ihr Wunsch nach einem Baby tief und echt war.
Zu Beginn des Frühjahrs 1958 entdeckte ich, daß Iris erneut schwanger war.
Diesmal fuhren wir nicht nach Hawaii, und ich sagte es auch Gideon nicht. Ich ließ Iris in ihren Schlafräumen und erzählte Gideon und allen Freunden, daß meine Tochter die Treppe heruntergefallen sei und eine vorübergehende Lähmung davongetragen habe, die sie ans Bett fessele. Ich stellte zwei weitere Krankenschwestern ein, die Mrs. Katsulis halfen, meine Tochter rund um die Uhr zu bewachen. Iris bekam so viele Puzzlespiele, wie sie brauchte, um beschäftigt zu sein. Und sieben Monate später, als das Kind kam, war ich zum zweitenmal die Hebamme für mein eigenes Enkelkind.
Ich wußte längst, was ich zu tun hatte. Nachdem ich den Säugling bei Licht sorgfältig untersucht und mich davon überzeugt hatte, daß er keinerlei chinesische Züge trug, nahm ich der schlafenden Iris das Baby weg, badete es und wickelte es in Decken. Dann klingelte ich mitten in der Nacht an Margos Tür. Ich sagte ihr, daß man mich zu einer Freundin gerufen hätte, deren Tochter in den Wehen gelegen habe. Die Tochter sei unverheiratet, und die Familie wolle das Baby nicht. Ich versprach Margo, wenn sie das Kind nehmen wollte, würde es unser Geheimnis bleiben. Mr. Sung, mein Freund und ein vertrauenswürdiger Mann, würde für Geburtsurkunde und Adoptionspapiere sorgen und der Sache damit einen rechtmäßigen Anstrich geben.
Margo nahm das Baby der Fremden mit Freuden auf. Als Olivia die Neuigkeit erfuhr, war sie nicht begeistert, konnte aber nichts mehr dagegen tun. Adrian war erleichtert, weil das Gezänk aufhörte. Niemand wußte, daß das adoptierte Kind Gideon Barclays Enkel war.
Sie nannten ihn Desmond.