21

Als Charlotte Wind und Regen entkommen und wieder ins Museum gelangt war, vergewisserte sie sich zuerst, daß die Tür abgeschlossen war, und eilte dann hinüber ins Büro, die Arme voller Schüsseln mit warmen Speisen.

»Irgend etwas Neues von unserem E-Mailer? Hat er seine kleine Überraschung schon preisgegeben?« fragte sie atemlos und stellte alles auf die Theke der Küchenecke.

»Bisher nicht. Vielleicht war es ja doch nur eine leere Drohung.«

»Und was ist mit dem Ephedrin?«

»Die Suche läuft.« Er tippte etwas in sein Laptop ein. Charlotte hörte das Modem wählen und sah ihn verblüfft an. »Gehst du ins Internet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich rufe nur jemanden an.« Er schaute auf seine Uhr. »Schlechte Nachrichten, Charlie. Während du in der Kantine warst, habe ich eine Übertragung von Knight abgefangen. Er hat ein Noteinsatzteam angefordert. Man wird euer gesamtes Computernetz beschlagnahmen.«

»Wieviel Zeit bleibt uns?«

»Hängt davon ab. Wenn Knight Washington angerufen hat, werden die Männer nicht vor morgen hier sein. Kommt das Einsatzteam aber aus Los Angeles …«

Auf seinem Laptop zeigte sich plötzlich ein Gesicht – ein Mann mit schütterem Haar und einer Drahtbrille. Er machte keinen glücklichen Eindruck. »Roscoe«, sagte Jonathan, »ich muß etwas über ein Noteinsatzteam des FDA wissen. Was kannst du mir darüber sagen?«

»Ich habe hier Probleme, Jonathan. Ein Eindringling hat die MCI- Schnittstelle in Dayton, Ohio, geknackt.«

»Mist.«

»Allerdings. Der Schweinehund hat tatsächlich fünfundzwanzig Prozent aller E-Mails nach Europa blockiert.«

Jonathan dachte einen Moment nach. »Klingt nach der Jaguarbande.«

»Das glauben wir auch. Tut mir übrigens leid mit dem Profil, John. Ich hatte noch keine Zeit, es durch unsere Computer laufen zu lassen. Wir drehen hier gerade durch.«

»Sitzt Pogo noch im Knast?«

»Er war der erste, den wir überprüft haben. Er hat Latrinendienst im Hochsicherheitstrakt. Aber wir schnappen sie uns schon«, fügte Roscoe Thorne mit mattem Lächeln hinzu. »Sie denken sich immer irgend etwas Neues aus, und wir erwischen sie dann doch.«

»Viel Glück«, sagte Jonathan und griff nach dem Handy.

Charlotte hob die Deckel von den dampfenden Speisen. »Ich hoffe, du ißt immer noch gerne in der Pfanne gebratene Shrimps und Klöße mit Schweinefleisch.«

»Keine Zeit zum Essen, Liebes. Sobald Knights Männer hier sind, werden wir vom System ausgesperrt.« Er hämmerte eine Nummer in sein Handy ein und preßte es mit der Schulter ans Ohr, während er von neuem in seinen Laptop tippte.

Sie sah, daß er wie früher ständig in Bewegung war, die Hände rastlos tätig, der Körper voll unerschöpflicher Energie. »Du mußt etwas zu dir nehmen.«

Er grinste. »Du hörst dich an wie deine Großmutter.«

»Ich höre mich an wie jedermanns Großmutter. Hat deine nicht auch darauf geachtet, daß du immer viel zu essen hattest? Hat sie dir nicht dauernd Kartoffelsuppe aufgenötigt?«

»Meine Oma brauchte mich nie zu nötigen, ihre Kartoffelsuppe zu essen!« lachte er. »Spezialagent Varner bitte«, sagte er in das Telefon.

»Jeden September, wenn du wiederkamst, hattest du kein anderes Gesprächsthema – Haggis hier und Scones da.«

Er legte die Hand über die Sprechmuschel. »Das ist nicht alles, worüber ich geredet habe.«

»Forellenangeln und Bergsteigen! Du hattest so tolle Sommer, und ich mußte zu Hause bleiben und lernen, wie man ein braves, respektvolles chinesisches Mädchen wird.«

»Bis ich in Tartan und Kilt erschien und dich wieder völlig verdorben habe.«

»Ich habe dich noch nie im Kilt gesehen.« Sie wandte sich ab.

Wußte er, wie schrecklich diese Zeiten ohne ihn für sie gewesen waren? Verstand er wirklich, was sie in jenem Sommer, als sie fünfzehn war und er sie allein und verletzlich zurückließ, erlebt hatte?

Während Jonathan kurz mit dem Spezialagenten sprach, füllte Charlotte dampfenden Reis in eine blaue Porzellanschale. »Hier, nimm«, sagte sie, sobald er aufgelegt hatte. »Es ist kein schottischer Räucherfisch, aber es muß reichen.«

»Nichts über dieses FDA-Eingreifteam.« Jonathan betrachtete stirnrunzelnd das Telefon.

Charlotte griff nach der Sojasoße und sah dabei zufällig nach oben auf den Überwachungsmonitor. Mr. Sung stand im Empfangsbereich der Vorstandsbüros und sprach mit Adrian. Desmonds Vater wirkte erregt und fuchtelte mit den Armen, während Mr. Sung ihn gleichmütig anhörte. »Ich möchte nur wissen, was er vorhin im Kontrollraum zu suchen hatte«, murmelte Charlotte.

Jonathan blickte auf. »Mr. Sung?«

»Er benimmt sich sonst nicht so geheimnisvoll.«

»Du hast gesagt, als du letztes Jahr aus Europa zurückgekommen bist, wäre er verändert gewesen.«

»Ich dachte eigentlich, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber irgend etwas an ihm ist tatsächlich anders.« Sie öffnete eine Schublade, schaute hinein, schloß sie und öffnete die nächste.

»Charlotte … er war ein enger Freund deiner Großmutter, Könnte es vielleicht mehr gewesen sein?«

Sie hob die Brauen. »Du meinst, ob er ihr Geliebter war? Das glaube ich nicht. Immerhin war sie zehn Jahre älter als Mr. Sung.« Außerdem, hätte sie am liebsten hinzugefügt, haben die Frauen meiner Familie bekanntlich immer Pech in der Liebe – meine Urgroßmutter, deren schöner Amerikaner nie zurückkehrte. Meine Großmutter, die sich in ihren Halbbruder verliebte. Meine Mutter, verwitwet, ehe ich noch auf der Welt war. Und ich selbst, verzweifelt verliebt in einen Jungen, der in meinem Leben nur eine kurze Gastrolle spielen wollte.

»Keine Gabeln.« Sie zog die letzte Schublade auf und förderte ein Paar Eßstäbchen zutage. »Geht das?«

»Ich denke schon«, entgegnete er mit einem Blick voller schmerzlicher Erinnerungen. »Ich hatte die beste Lehrerin.«

Charlotte legte mehrere Frühlingsrollen in den noch nie benutzten Mikrowellenherd und hatte dabei das Bild ihrer glatten Hände auf seinen rauhen, ungeschickten vor Augen – Eßstäbchenunterricht, damals, als schon die bloße Berührung mit Johnny sie völlig elektrisiert hatte. »Weißt du –«, sie benutzte die Worte dazu, die Erinnerung zu verdrängen, »daß meine Großmutter fast ein Jahr in diesem Büro gearbeitet und die Mikrowelle kein einziges Mal benutzt hat? Sie mißtraute der Technik. Ich habe ihr erklärt, daß ihr Essen aus der Mikrowelle nicht schaden würde, es sei nur bequemer, weil es schneller gar würde. Sie antwortete, zu schnell gekochtes Essen würde zu schnell verdaut und brächte das Gleichgewicht im Körper durcheinander.«

»Vielleicht hatte sie nicht einmal unrecht.«

Charlotte merkte, daß Jonathan sich benahm, als speise er mit der Königin. Sie mußte an die Tage denken, die sie in seinem Schlupfwinkel in dem großen Haus seines Vaters an der Jackson Street verbracht hatten. Es hatte etwas ganz und gar Exotisches für sie gehabt, aus der altmodischen, technikfeindlichen Welt ihrer Großmutter in Johnnys Welt der fortgeschrittenen Elektronik zu kommen, wo Fußboden, Bett und sämtliche anderen Oberflächen mit Schokoladenpapier, Colaflaschen und getrockneten Pizzastücken übersät waren. Sie wußte noch, wie Jonathan sie einmal angerufen und ihr gesagt hatte, sie müßte sofort zu ihm kommen. Es war in dem Jahr gewesen, als sie beide achtzehn wurden, dem Jahr vor ihrem Schulabschluß und einer unbekannten Zukunft. Charlotte war die zwei Blocks bis zu seinem Haus gerannt, vom Hausmädchen eingelassen worden und gleich weiter in den Keller gelaufen, in dem Jonathan seine private Werkstatt eingerichtet hatte, eine mit Radios, auseinandergenommenen Hi-Fi-Anlagen, Fernseherteilen, Drähten und elektronischen Kleingeräten vollgestopfte Welt. Er hatte dort ein Bett und eine Kochplatte aufgestellt, dazu einen winzigen Kühlschrank und einen Farbfernseher, der mit abgeschaltetem Ton ununterbrochen lief. Charlotte erinnerte sich daran, daß sie drei bekannte Gesichter auf dem Bildschirm gesehen hatte: Haldeman, Erlichman und Mitchell. Wegen ihrer Rolle bei der Vertuschung der Watergate-Affäre hatte man sie gerade zu Gefängnisstrafen verurteilt. Charlotte hatte einen äußerst aufgeregten Jonathan vorgefunden, der aussah, als hätte er in seinen Jeans und dem T-Shirt geschlafen, und dessen langes Haar ihm ungekämmt über die Schultern fiel. »Hier, Charlie!« hatte er gerufen, ihre Hand gepackt und sie zu einer Werkbank gezerrt, die mit Radio- und Fernsehbestandteilen sowie leeren Puffreis- und Weingummi-Schachteln bedeckt war.

Sie schaute hin. »Und was ist das?«

Er strahlte. »Der erste Computer der Welt auf Mikroprozessor-Basis! Siehst du? Man gibt Programme in rein binärem Code ein, indem man diese Schalter an der Vorderseite betätigt. Paß auf!«

Sie hatte aufgepaßt. »Was bedeuten die Blinklichter?«

»Das Programm läuft! Ein Programm, das ich ihm eingegeben habe! Zweihundertsechsundfünfzig Bytes Gedächtnis, Charlie! Stell dir das vor! Stell dir vor, was das bedeutet!«

Sie hatte gesehen, wie er lächelte, wie stolz er auf sich war und wie schön ihn seine Freude machte, und sie hatte an das Geheimnis ihrer Party zum fünfzehnten Geburtstag gedacht, das sie vor ihm hütete. Damals hatte sie ihre Freundinnen und Freunde eingeladen, und sie hatten gesagt: »Gerne, solange dieser doofe Johnny Sutherland nicht auch kommt.« Daraufhin hatte sie ihre sogenannten Freundinnen und Freunde wieder ausgeladen und ihre Party allein mit Jonathan gefeiert. Sie waren Cable Car gefahren, hatten im Golden-Gate-Park Blumen gepflückt und in der Ross Alley gedünstetes Won-ton und Frühlingsrollen verschlungen.

Was für ein wohlerzogener Esser er doch geworden ist, dachte sie jetzt. War das derselbe Mensch, der einmal erklärt hätte, Essen müsse ein »Ganzkörpererlebnis« sein? Damals tat er unerhörte Dinge, aß Spaghetti und Spiegeleier mit den Fingern und ließ Messer und Gabel unberührt auf dem Tisch liegen. Noch vor zehn Jahren hatte er sich sein Brötchen auf der Hand geschmiert, obwohl es damals bereits gewisse Anzeichen von Verfeinerung gegeben hatte. Sie fragte sich, ob auch seine Art zu lieben sich geändert hatte – früher hatte Jonathan keine Hemmungen gekannt. Sex mit ihm war ebenfalls ein »Ganzkörpererlebnis« gewesen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er jetzt auch im Bett so wohlerzogen war.

Jonathan stellte die Schale hin und sah auf den größeren Computer, der noch immer die Datenbank absuchte. »Charlotte, hast du zufällig einen Tiegel mit diesem Balsam griffbereit? Strahlende Intelligenz

»Es müßte noch etwas hier sein.« Sie öffnete eine Schreibtischschublade und nahm einen kleinen Topf Mei-ling-Balsam, eine Flasche Goldlotuswein, eine Packung Wonne und eine Schachtel Keemun-Tee heraus.

Während Jonathan den Tiegel öffnete und an dem duftenden Inhalt roch – wiederum eine elegante, geschliffene Bewegung –, überlegte Charlotte, was sich in den zehn Jahren der Entfremdung wohl noch alles an ihm geändert hatte. Plötzlich wollte sie die Lücken füllen. »Wie geht es eigentlich deinem Vater, Johnny?«

»Ausgezeichnet. Sie wohnen jetzt in Hawaii.«

»Sie?«

»Ach ja, richtig, das weißt du ja nicht. Er hat geheiratet.«

»Du machst Witze.«

»Ich war auch ganz verdattert.« Er stand auf, zog das Portemonnaie aus der Hüfttasche und klappte das Farbfoto eines lächelnden Paares unter einer Palme auf.

»Aber das ist doch Miss O’Rourke!«

»Seine getreue Sekretärin. Du erinnerst dich.«

»Wie könnte ich sie vergessen! Sie war öfter bei euch zu Hause als dein Vater. Wie ist denn das gekommen? Haben sie sich plötzlich ineinander verliebt – nach wie vielen Jahren?«

»Tja, für meinen Vater kam es jedenfalls plötzlich. So wie er es erzählt, waren sie gerade wie üblich mit der Limousine zum Flughafen gefahren, und Vater wollte ins Firmenflugzeug steigen, um Gott weiß wohin zu fliegen, und alles in Miss O’Rourkes bewährten Händen lassen, wie seit zwanzig Jahren. Sie gab ihm seinen Aktenkoffer, wie immer, und auf einmal sagte sie in ihrem ›feinen‹ breiten Irisch: ›Wenn Sie wiederkommen, Mr. Sutherland, verlasse ich Sie. Ich habe Ihnen zwei Jahrzehnte lang treu gedient, Ihnen stets auf jeden Wink zur Verfügung gestanden, für Sie auf ein eigenes Leben verzichtet. Aber ich werde nicht jünger, und es wird Zeit, daß ich auch einmal etwas für mich tue, solange mir noch ein paar Jahre übrigbleiben.‹ Worauf sie, sagt mein Vater, in Tränen ausbrach, vor den Augen des Chauffeurs und des Piloten, und so lange schluchzte und schluchzte, bis mein Vater nicht anders konnte, als sie in die Arme zu nehmen und zu trösten.«

»Das glaub ich nicht.«

»Und weißt du, was er noch gesagt hat? Er hat gesagt, vorher wäre ihm nie aufgefallen, was sie für schöne rote Haare hatte.« Er steckte das Bild wieder ein. »Eine Woche später haben sie geheiratet, und auf einmal gab es große Weihnachtsessen und herzliches Rückenklopfen und Ausrufe wie ›Johnny, mein Junge‹! Neunundzwanzig Jahre nach der Geburt seines Sohnes wurde aus Robert Sutherland überraschend ein Vater.«

Robert Sutherland, der jemanden tröstete! Mit plötzlichem Bedauern dachte Charlotte: Ich habe soviel verpaßt.

Gegen ihren Willen kam ihr wieder der Tag in den Sinn, mit dem ihre ganz persönliche Eiszeit angefangen hatte, damals in dem Restaurant in San Francisco. Sie waren beide höflich und reserviert gewesen, nach sechs Jahren, in denen sie kaum voneinander gehört hatten. Zwischen ihnen stand der Gedichtband mit den Gewinnern des Silberlorbeerkranzes von 1981, den er ihr vor sechs Jahren geschickt und der ihr das Herz zerrissen hatte. Warum hatte er ihr jetzt auf einmal geschrieben und um ein Treffen gebeten? »Wir müssen getrennte Wege gehn«, hatte es in einem Gedicht geheißen. Und Charlotte, die immer gedacht hatte, Jonathan liebe sie und wolle sie heiraten, hatte verstanden. Hatte er seine Meinung mittlerweile geändert? Wollte er nun doch sein Leben mit ihr teilen?

Sie trafen sich im Römischen Garten an der Polk Street, wo rotweißkarierte Tischdecken und Kerzen einen freundlich neutralen Ort für zwei Menschen schufen, die einst ein Liebespaar gewesen und nun beinahe Fremde waren. Jonathans Erscheinung war ein Schock für Charlotte. Als sie ihn 1980 in Boston das letzte Mal gesehen hatte, war er langhaarig und dürr gewesen und hatte ein zerlumptes T-Shirt und ausgebleichte Jeans angehabt. Der Mann, der sich vom Tisch erhob, als sie das italienische Restaurant betrat, hätte ein Model für Brooks Brothers sein können. Natürlich wußte sie aus ihrer spärlichen Korrespondenz – meist in Form höflicher Weihnachtskarten –, daß er nach seinem Abschluß am MIT eine Stelle bei der Regierung gefunden hatte, als Computerspezialist, was immer das auch sein mochte. War das das Ergebnis von sechs Jahren Büroarbeit?

Sie setzten sich und sprachen über das Wetter, die Speisekarte, Bücher und Filme, und näherten sich dabei ganz langsam persönlicheren Themen: Charlottes biochemische Forschungsarbeiten im Naturheilmittelbetrieb ihrer Großmutter, Jonathans Leben zwischen seinem Wohnsitz in London und seiner Arbeit für die US-Regierung. Aber das Gespräch war voll nervöser Spannungen, eine Unterhaltung voller Räuspern und unruhigen Händen. Immer wieder fingen sie gleichzeitig an zu sprechen, unterbrachen sich, lachten, sagten: »Nein, du zuerst.«

Sie bestellten Salat und Spaghetti mit Muschelsoße, dazu den Chianti des Hauses. Charlotte fiel auf, daß Jonathan wußte, welches die Salatgabel war, und daß er am Wein roch und ihn probierte, bevor er den Kellner beide Gläser füllen ließ.

Mitten im Essen überraschte er sie mit einem Geschenk. Sie hatte ihm nichts mitgebracht. Als sie das wunderschöne Seidentuch und das Windspiel aus Kristallglas sah, durchzuckte sie eine plötzliche Hoffnung, er sei tatsächlich gekommen, um ihr zu sagen, daß er wieder mit ihr zusammensein wolle.

»Du arbeitest also immer noch für die Regierung?« fragte sie und hatte auf einmal keinen Appetit mehr, sondern fühlte sich federleicht. Was für ein schönes Geschenk! Und noch wundervoller war, daß er sich entspannte und so dem alten Johnny, den sie kannte, wieder ähnlicher wurde. Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend in San Francisco ließen sie auf einem Zauberteppich aus großen Hoffnungen und neuentflammter Liebe dahinschweben. »Ich weiß gar nicht mehr, was es war – das FBI? Oder der CIA?«

»Die NSA – National Security Agency. Wir schützen den Nachrichtenverkehr unserer Regierung.«

Sein schottischer Akzent war längst verschwunden. Damals am MIT hatte Jonathan eine sehr englische Aussprache gehabt, das Ergebnis von vier Jahren Cambridge. Inzwischen war sein Tonfall weicher geworden und klang amerikanischer, vermutlich die Folge der sechsjährigen Tätigkeit für die US-Regierung. Es war ein Tonfall, der sie daran erinnerte, daß Jonathan sich immer noch zwischen zwei Welten bewegte. Sie fragte sich, ob er sich jetzt endlich für eine davon entschieden hatte, um dort seßhaft zu werden.

»Du machst mich neugierig. Wie um alles in der Welt bist du denn dort gelandet?« Wie typisch für Johnny, dachte sie in einem plötzlichen Anflug von Glück. Ein gewöhnlicher Bürojob kam für ihn nicht in Frage!

»Man hat mich angeworben.« Er lachte. »Genauer gesagt, ich wurde verhaftet. Sie schnappten ein paar von uns. Einige meiner Kumpel wurden eingelocht, weil sie Zeugnisse fälschten und Noten änderten. Mit unseren Fähigkeiten konnten wir jedem, der es haben wollte, für fünfzigtausend Dollar eine hochoffizielle MIT- Promotionsurkunde besorgen.«

»Hast du das auch gemacht?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war mir zu einfach. Mein Ding war die Flugsicherung. Ich suchte mir einen Zugang zu ihrem System und schaffte es, bis in den Kontroll-Tower am John-F.- Kennedy-Flughafen vorzudringen.«

»Und?« Sie stützte sich auf die Ellbogen und kam ihm ganz nah.

»Ich griff nirgends ein, obwohl ich es hätte tun können. Ich habe nur eine Weile zugeschaut – und dabei gesehen, wie ein TWA-Jet ein brasilianisches Flugzeug ganz knapp geschnitten hat. Offenbar ist es dort oben manchmal ziemlich eng.«

»Und dann haben sie dich beim Schnüffeln erwischt?«

»Nein, ich lasse mich nie erwischen. Ich schrieb einen anonymen Brief an die FAA und wies sie auf die Sicherheitsmängel in ihrem Flugkontrollsystem hin.« Er errötete. »Woran ich nicht gedacht hatte, waren die Fingerabdrücke auf dem Briefpapier.«

»Und deshalb haben sie dir einen Job angeboten?«

»Ich konnte wählen: entweder für sie arbeiten oder ins Gefängnis gehen.«

Es wurde immer wundervoller. Plötzlich dachte Charlotte, daß sie das Gedicht und den kalten Abschied von vor sechs Jahren vielleicht doch vergessen konnten. Sie würden durch die Stadt spazieren, die Orte, an denen sie früher oft gewesen waren, aufsuchen und dann in ihre Wohnung gehen und sich lieben, wundervoll lieben.

»Mit anderen Worten, du bist ein Spion. Bist du deshalb hier? Ich habe gehört, daß es im Silicon Valley von KGB-Agenten nur so wimmelt.«

Jonathan drehte das Weinglas zwischen den Fingern, daß der Chianti wie ein Rubin mit tausend Facetten strahlte. »Nun ja … jeder weiß, daß über das sowjetische Konsulat hier in San Francisco amerikanische Technologie nach Rußland geschafft wird. Sie haben sogar Antennen und anderes Überwachungsgerät auf dem Dach, um im Silicon Valley geheime Telefongespräche abzuhören. Sie haben Agenten, die Strohfirmen gründen, diese mit den neuesten Computersystemen ausstatten, und dann in aller Stille dichtmachen und mit der ganzen Ausrüstung nach Hause zurückkehren.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich traurig. Ihre gestohlene Software ist eine zusammengewürfelte Mischung aus nachgebauten Betriebssystemen und Programmen, die ins Kyrillische übertragen wurden.« Er hob den Kopf und sah ihr geradewegs in die Augen. »Ich arbeite nicht mehr für die NSA, Charlie. Ich bin gegangen. Ich gründe meine eigene Firma.«

Eine Pause trat ein. Anscheinend wollte er mehr sagen, darum wartete sie. »Hast du schon mal etwas von der Amsterdamer Acht gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich fürchte, ich bin nicht mehr ganz auf dem laufenden. Ich vergrößere Großmutters Forschungslabor, engagiere neue Chemiker und versuche, unsere Produktion zu verbessern. Ich bin so eingepannt, daß ich nicht mal mehr die Klatschspalte in der Zeitung lese.«

»Also …«, begann er, und seine Miene verdüsterte sich auf eine Art, die sie kannte. Es bedeutete, daß ihn irgend etwas bedrückte. Als er den Blick abwandte und so tat, als interessiere er sich für die Passanten auf dem Bürgersteig, hätte sie am liebsten seine Hand genommen. Johnny schien große Sorgen zu haben.

»Was ist?« fragte sie sanft.

Er sah sie an, als wollte er in ihrem Blick lesen. Charlotte bemerkte das Abwägen und Austarieren, das hinter der Fassade seiner angenehmen Züge vorging – Johnny schien sich mit einer schwierigen Entscheidung zu quälen. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Lassen wir das. Es ist eine lange und recht unerfreuliche Geschichte. Ich will uns damit nicht das Wiedersehen verderben. Jedenfalls sind es die Acht von Amsterdam, die mich dazu gebracht haben, mein Abschiedsgesuch einzureichen. Sie sind schuld daran, daß ich die Lust am Spitzelspiel verloren habe.«

»Wolltest du mich hier treffen, um mir zu erzählen, daß du nicht mehr bei der NSA bist?« Sie wußte genau, daß es nicht so war. Es gab noch etwas anderes, und die Vorfreude ließ ihr Herz schneller schlagen.

Jonathan betrachtete aufmerksam den kleinen Glaskrug mit BrotStangen auf dem Tisch. »Charlotte …« Sein Ton war erschreckend ernst. »Ich muß dir etwas sagen.«

Sie wartete. Sie hielt Atem und Herz an und wartete.

»Ich werde heiraten.«

Sie sah ihn an.

»Ich habe sie letztes Jahr kennengelernt.«

Das kleine Restaurant mit seinen Tischtüchern und Brot-Stangen war plötzlich für sie nicht mehr da. So als wäre eine Bombe explodiert.

Jonathan musterte sie erwartungsvoll.

Als sie endlich begriff, was er soeben gesagt hatte, schrie sie innerlich auf: Was ist aus »Ich muß meinen eignen Weg gehen, meinen Weg allein suchen« geworden? Sie wollte ihn anbrüllen: Wie kannst du es wagen, einfach eine andere zu heiraten! Wir sind doch seelenverwandt, Johnny, siamesische Zwillinge, zusammengewachsen am Herzen! Hatten wir nicht einen Vertrag geschlossen, niedergeschrieben in der Sprache unseres Pulsschlags, daß wir entweder zusammensein oder allein bleiben würden?

Was hatte diese dritte Person hier zu suchen?

Am liebsten hätte sie ihm den Wein ins Gesicht geschleudert.

»Ihr Name ist Adele«, begann er.

Charlotte stand auf. Ihr Stuhl schabte über den Holzfußboden.

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Charlie.« Es klang flehend.

»Danke für das Essen.« Sie griff nach der Schachtel mit dem Seidentuch und dem Windspiel und fand irgendwie den Ausgang, den Bürgersteig und entkam, von der Sonne geblendet, die Straße hinunter.

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen.

Und nun, zehn Jahre später, schaute sie ihm zu, wie er sein Handy nahm und wählte, um selbstsicher, fast gebieterisch, einen weiteren Spezialagenten zu verlangen, und sie dachte: Johnny, du hast gesagt, du hättest von Großmutters Tod gelesen. Warum hast du mir damals nicht geschrieben? Oder wenigstens ein Telegramm geschickt? Bedeutete ihr Verlust dir so wenig? Oder lag es daran, daß ich damals weggelaufen bin?

Sie tastete nach dem Shang-Dynastie-Anhänger auf ihrer Brust und dachte daran, wie wichtig und bedeutend er für sie war. Sie stellte sich seinen Inhalt vor. War es wirklich nur Zufall gewesen, daß sie die Kette, als sie sich sofort nach Desmonds Anruf hastig angezogen hatte, noch umgelegt hatte? Sie hatte den Anhänger seit Monaten nicht getragen.

Es ist kein Zufall. Es ist ein Zeichen …

Als wollte sie die schmerzliche Erinnerung fortwischen, rieb sie sich die Hände an der Serviette ab und trat an die Tür zum Museum. Vor sich sah sie den Nachbau eines chinesischen Kräuterladens, mit Theke und Regalen, Waage und Abakus und allen Arten von Essenzen und Substanzen, die in die Heilmittel hineinkamen: Flaschen mit konservierten Aalen, Fässer mit eingelegten Wurzeln, getrocknete Blätter, Gräser und Blumen, Säcke mit Rinde, Gewürzen, Reis, Krüge mit getrockneten Skorpionen, Schlangen und Käfern. Ein Füllhorn von Balsamen, Elixieren, Heil- und Stärkungsmitteln. Und in einem der obersten Fächer eine riesige, schlafende weiße Perserkatze …

Während sie noch dastand und den alten Laden betrachtete, ertönte vom Computer ein Signal. Charlotte fuhr herum. »Was gibt es?«

»Das darf nicht wahr sein! Ein neues Video.«

Sie hatte schon damit gerechnet, wieder das Innere ihres Hauses zu sehen, aber zu ihrer Überraschung erschien eine Außenaufnahme. Sie zeigte ein Wohnviertel bei Nacht und starkem Regen. »Ist das echt, oder …«, begann Charlotte und stockte. »O mein Gott.«

»Was ist?«

»Das ist Naomis Haus. Jonathan, das ist von der gegenüberliegenden Straßenseite aufgenommen.« Sie packte ihn am Handgelenk. »Kannst du herausfinden, ob das gefälscht oder echt ist?«

»Warte.« Er setzte sich hin und gab einen Suchlauf ein. Während sie warteten, sah Charlotte ein Auto herankommen und anhalten. Sie kannte den Wagen. »Es ist Naomi!«

»Scheiße«, flüsterte Jonathan, als in dem DOS-Fenster die IP- Adresse auftauchte. »Diese Sendung kann von überall herkommen.«

»Aber ist es echt?«

»Das kann man nicht feststellen.«

Sie sahen Naomi auf der Fahrerseite aussteigen. Sie hielt sich einen Schal über den Kopf und rannte die Auffahrt zu einem von Farnbäumen und Azaleen umgebenen rosa Stuckhaus hinauf.

»Irgend etwas wird passieren, Jonathan. Diesmal ist es echt.« Sie griff zum Telefon.

»Woher weißt du das?«

»Naomi und ich haben heute morgen zusammen Kaffee getrunken, bevor sie zur Universität fuhr. Sie hatte diese Sachen an.«

Jonathan griff nach seinem Handy. »Welche Nummer hat die Polizei?«

»Nimm lieber den Notruf.«

»Und wenn es wieder ein falscher Alarm ist? Du hast sie schon einmal vergeblich losgeschickt.«

Ihre Blicke trafen sich. »Ruf die Vermittlung an, Johnny. Verlang die Polizeistation Palm Springs.«

Charlotte wählte Naomis Nummer, zitterte aber so heftig, daß sie sich verwählte. Während sie es noch einmal versuchte, beobachete sie mit angehaltenem Atem, wie Naomi an der Haustür stehenblieb und aus der Handtasche einen Schlüsselbund herauszog.

Inzwischen ließ Jonathan sich mit der Polizei verbinden. Bei Naomis Anschluß war das Besetztzeichen zu hören. Naomi schob den Schlüssel ins Schloß und drehte den Knauf.

»Ich fasse es nicht«, sagte Jonathan ungläubig. »Es ist ein Tonband. Ich bin in der Warteschleife.«

Naomi schob die Haustür auf, aber gerade, als sie eintreten wollte, schoß plötzlich etwas Kleines, Dunkles heraus und raste den Weg hinunter. Naomi fuhr herum und rief etwas.

»O Gott, hoffentlich ist es nur ein Video, das mir Angst einjagen soll«, betete Charlotte und wählte mit bebenden Fingern weiter.

»Ja, Officer«, begann Jonathan hastig, als auf dem Revier endlich jemand abnahm. »Ich möchte einen Vorfall …«

»Jetzt ist frei!« rief Charlotte.

Gleich darauf leuchtete ein blendend helles Licht auf. Die Vorderfenster sprangen in Scherben nach außen, Flammenzungen loderten durch die offene Tür, und ein Feuerball explodierte in den Nachthimmel.

Das Haus der Harmonie: Roman
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