48
Charlotte hörte gerade zu, wie Adele sagte: »Der Gärtner ist hier und hat tausend Fragen«, als Jonathan hereinkam. Als sie seine blassen Wangen und die frostige Kälte in seinem Blick sah, erklärte sie: »Es tut mir leid. Als ich den Signalcode zurückschickte, habe ich zuerst die falschen Tasten gedrückt. Ich wollte wirklich nicht spionieren.«
Seine Augen huschten hinüber zu den auf dem Bildschirm erstarrten Zügen. Charlotte sah, wie Schmerz sein gutgeschnittenes Gesicht verzog. Sie kannte diesen Ausdruck, er hatte ihn immer, wenn er versuchte, seine Gefühle zurückzudrängen. Sie wußte auch, weshalb er so bleich war. Es lag nicht daran, daß er sie beim Schnüffeln erwischt hatte.
Sie wartete darauf, daß er etwas sagte, und als er schwieg, sagte sie es für ihn. »Ich habe es auch gehört, Johnny.« Das Hintergrundgeräusch bei Adeles Anruf. Ka-wumm, Ka-wumm …
»Ich wollte es erst nicht glauben«, begann er mühsam, und sein Adamsapfel hob und senkte sich, als er schluckte. »Als sie aufgelegt hatte, habe ich ihre Nummer überprüft. Der Anschluß gehört dem Hotel Vier Jahreszeiten.« In seinem Blick stand Schmerz. »Mein Partner läßt seine Wohnung nicht renovieren, und meine Frau ist nicht zu Hause und spricht mit dem Gärtner.«
Charlotte stand von dem kleinen Tisch auf. Sie sah Tränen in Jonathans Augen. »Es tut mir unendlich leid.«
»Das braucht es nicht«, antwortete er und verschmähte ihr Mitgefühl. »Es mußte so kommen. Irgendwann passiert es allen Helden – früher oder später.« Er gab ihr die braune Tüte mit dem Kaffee und den Sandwiches. »Ich sollte jetzt besser die Hinweise im Netz prüfen.«
Seine Stimme klang so hart, daß Charlotte ihn gerne umarmt hätte. Aber sie hörte auch den Unterton von Bitterkeit und den merkwürdigen Verweis auf den Helden. Das gleiche hatte sie vor zehn Jahren in San Francisco von ihm gehört, als er ihr von seinem Ausstieg aus der NSA erzählt hatte. »Eine ziemlich miese Geschichte«, hatte er erst vorhin gesagt. Was war mit den Acht von Amsterdam wirklich geschehen?
»Johnny …« Sie hielt inne. Bis zum Ablauf des Ultimatums blieben ihnen weniger als zwei Stunden. Er hatte recht. Sie mußten sich konzentrieren. Adele, Quentin und der Rest der Welt konnten später kommen. »Ich habe etwas in Olivias Briefen gefunden.«
Sie hielt das Bündel Briefe hoch, das sie im Museum noch schnell in ihre große Umhängetasche gestopft hatte. Als Jonathan Charlotte suchte, hatte er die Tasche wie durch ein Wunder gefunden. Sie lag im Kontrollraum der Fabrikhalle, dort, wo man sie entführt hatte. Ihr Angreifer hatte sich offensichtlich nicht dafür interessiert.
»Olivia war davon besessen, das Haus zurückzubekommen.« Aus der Papiertüte zog sie zwei Styroporbecher. »Diese Briefe stammen aus den Jahren 1942 bis 1957. Sie bedrohen meine Großmutter und lassen ihr keine Ruhe. Buchstäblich eine Ein-Frau-Terror-Kampagne! Ich begreife nicht, wieso meine Großmutter nie ein Wort davon erzählt hat.«
Jonathan nahm einen der Becher und hob den Plastikdeckel ab. »Glaubst du denn, daß unser Killer etwas mit Olivia zu tun hat? Vielleicht ihr Sohn Adrian? Oder Margo? Vielleicht ist das Ganze eine Form von Rache, weil sie das Haus nicht bekommen haben?«
Charlotte betrachtete den dampfenden Kaffee. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Vor einer Stunde hatte ich noch Mr. Sung im Verdacht. Vielleicht verdächtige ich ihn immer noch.« Sie griff in die Umhängetasche und zog die sorgsam gefaltete Ausgabe des San Francisco Chronicle von 1936 heraus. »Der Artikel hier liest sich wie eine Werbetafel in einem Supermarkt. Sie beschreiben alles, was meine Großmutter anhatte, bis hin zu den Ohrringen, und ihren Gesichtsausdruck – ob sie zornig oder traurig aussah. Und dann diese Anspielungen auf Gideon Barclay! Und weißt du, was über meine Mutter darinsteht? Sie nennen sie geistig zurückgeblieben.«
Jonathan blickte vom Computer auf. »Hat deine Großmutter je so etwas erwähnt?«
Charlotte wollte den Kopf schütteln, ließ es dann aber.
»Nun?« fragte Jonathan.
»Ich bin nicht sicher. Aber mir ist jetzt so, als ob da etwas gewesen wäre … Getuschel hinter meinem Rücken. Ich wußte immer, daß meine Mutter etwas Besonderes hatte, daß sie anders war. Vielleicht habe ich es aufgeschnappt, vielleicht auch nur gefühlt. Allerdings bin ich nie auf die Idee gekommen, daß es etwas mit ihrem Verstand zu tun haben könnte. Ich dachte, sie wäre vielleicht so begabt gewesen wie ihr Vater, Mr. Lee.«
»Nur daß du jetzt weißt, daß Mr. Lee nicht ihr Vater war.«
»Eben. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Das hier«, sie warf die Zeitung zornig in die Ecke, »räumt jedenfalls alle Zweifel aus!«
Er hob die Zeitung auf und legte sie dorthin, wo Charlotte sie nicht sehen konnte, als wolle er sie vor den verletzenden und kränkenden Worten über Mr. Lees Impotenz und dem unangenehmen Bild ihrer Großmutter, die ihrem Mann ein Potenzmittel zusammenbraute, schützen.
»Ich habe mich oft gewundert, warum ich nicht chinesischer aussehe«, fuhr Charlotte fort. »Ich schaute mir Bilder von Mr. Lee an und fragte mich, warum meine Mutter und ich ihm nicht ähnlicher sahen. Meine Großmutter erzählte immer, es liege an Richard Barclays starkem Yang, daß meine äußere Erscheinung so stark von meinem Urgroßvater beeinflußt worden sei. Aber das stimmt nicht. Es liegt daran, daß ich keinen chinesischen, sondern einen amerikanischen Großvater hatte.« Sie stellte den unberührten Kaffee wieder auf den Tisch. »Mein Gott, Jonathan, ich fange allmählich an zu begreifen.«
Er stand auf, trat zum Kamin und starrte in sein kaltes, schwarzes Inneres. Dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Was meinst du?«
Ihre grünen Augen waren voller Staunen und Verwirrung. »Damals im Sommer, als ich fünfzehn war …«
Es war ein heißer Julisonntag gewesen. Ihre Großmutter veranstaltete ein Grillfest auf der Terrasse. Natürlich waren die Barclays da. Der dünne Desmond planschte stolz im Pool herum, während seine Mutter in einem gewagten Badeanzug aus schwarzem Stoff mit Netzeinsätzen und hohem Hüftschnitt laut verkündete, einer der Lehrer ihres Sohnes habe erklärt, Desmond sei der intelligenteste Vierzehnjährige, der ihm je begegnet sei. Onkel Adrian war schon wieder im Haus, wie gewöhnlich am Telefon, und Tante Olivia, die einen hawaiischen Sarong trug, half Charlottes Großmutter mit den Platten, auf denen die in Sojasoße und Ingwer eingelegten Rippchen, Schweinelenden und Hühnerbeine angerichtet waren.
Es waren über fünfzig Gäste anwesend, die lachten, tranken und sich über Vietnam und Watergate unterhielten, aber für Charlotte war es der einsamste Ort der Welt. Weil Johnny nicht da war.
Onkel Gideon hatte sie in der Laube auf dem Dach gefunden, wo sie sich die Augen ausweinte. »Warum geht Johnny immer weg?« hatte sie geschluchzt, als er sie nach dem Grund fragte. »Er braucht doch nicht jedes Jahr nach Schottland zu fahren. Er ist Amerikaner. Er soll hierbleiben.«
»Hat er dir nicht gesagt, warum er das tut?«
Charlotte hatte sich mit dem Tuch, das er ihr gegeben hatte, die Nase geputzt. »Johnny spricht nicht gerne über seine Gefühle.«
»Hast du ihn gefragt?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Der September war unendlich weit weg, und sie würde aus Einsamkeit sterben, bevor er zurückkam.
»Und was sagt deine Großmutter dazu?« hatte Onkel Gideon gefragt.
»Ach, über so etwas kann ich doch nicht mit Großmutter reden! Sie würde mich gar nicht verstehen.«
»Glaubst du?« hatte er mit nachsichtigem Lächeln geantwortet. »Ich halte sie für eine sehr kluge Frau.«
Charlotte starrte düster auf die Hände in ihrem Schoß. »Es hat keinen Sinn. Sie würde es nicht begreifen.«
»Hm. Sollte es sich dabei um eine Herzensangelegenheit handeln?«
»Wenn sie es wüßte, würde sie mich umbringen.«
»Soviel ich weiß, hat sie noch keinen Menschen umgebracht, und schon gar nicht, weil er jemanden liebt.«
Charlotte mußte wider Willen lächeln. Seit sie sich überhaupt an ihn erinnern konnte, schaffte es Onkel Gideon immer, sie aufzuheitern. Darum vergötterte sie ihn auch so. Natürlich trug die Tatsache dazu bei, daß er so ungeheuer gut aussah, braungebrannt und breitschultrig und mit silbergrauen Augen, die zum silbergrauen Haar paßten. Obwohl Charlotte wußte, daß er uralt war – weit über Sechzig –, fand sie Onkel Gideon ausgesprochen sexy.
»Großmutter ist immer so streng«, seufzte sie. »Wenn sie wüßte, daß ich für Johnny schwärme, dürfte ich ihn nicht mehr zu Hause besuchen.«
»Und Johnny … was empfindet er für dich?«
Sie zuckte die Achseln. »Er denkt, wir wären bloß Freunde.«
»Du hast ihm also deine Gefühle noch nicht gestanden?«
»O nein. Das würde ich nie tun. Jedenfalls nicht als erste.«
»Manchmal ist das nicht der beste Weg, Charlotte. Manchmal wartet man so lange auf den anderen, daß die Zeit zu lang ist und man alles verliert.«
»Sollte ich es ihm denn sagen? Johnny sagen, daß ich ihn liebe?«
»Nein, ganz so meine ich es nicht. Du mußt es ihm ganz vorsichtig beibringen.«
»Es macht mich ganz verwirrt. Ich habe solche Gefühle … wenn ich mit ihm zusammen bin …«
»Charlotte«, sagte Gideon sanft, »gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest? Habt ihr … ich meine, du und Johnny …«
Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn verstand. »O nein, Onkel Gideon! Nichts dergleichen!« Und dann hatte sie ihn aus Augen voller Unschuld angesehen und gefragt: »Würde er dann bleiben? Wenn ich mich von ihm küssen ließe?«
Gideon hatte sich das Kinn und dann den Nacken gerieben. »Ich glaube nicht, daß das die Antwort ist. Du brauchst nichts zu übereilen, Charlotte.«
»Meine Freundin Melanie hat einen Freund, und sie küssen sich andauernd.«
»Charlotte«, hatte er langsam gesagt, als wähle er die Worte mit Sorgfalt, »hat deine Großmutter schon einmal mit dir über … gewisse Dinge gesprochen?«
»Dinge?«
»Ich meine, über das Leben. Die Liebe.« Er breitete die Arme aus.
»Jungs.«
»Warum sollte sie?«
»Ah«, hatte er geantwortet, und noch einmal, nachdenklich: »Ah.«
»Warum geht Johnny fort, Onkel Gideon? Warum verläßt er mich jeden Sommer?«
»Vielleicht versucht er etwas herauszufinden.«
»Zum Beispiel?«
Gideon hatte auf der Holzbank gesessen. Der Wind zerzauste ihm das ergrauende Haar, und er überlegte, während Charlotte auf die klugen Worte wartete, die ihr Herz heilen würden. Dann hatte er genau das gesagt, was sie hören wollte: »Ich mache dir einen Vorschlag. Wie wäre es mit einem Picknick? Nur wir beide. Im Park? Morgen?«
Am nächsten Tag, genau zur verabredeten Zeit, holte er sie ab. Charlotte wunderte sich, daß ihre Großmutter noch zu Hause war. Es war Montag mittag, und sonst war Harmonie um diese Zeit immer in der Fabrik. Sie war auch abends und an den Wochenenden meistens dort, weil es immer etwas gab, um das sie sich kümmern, das sie verbessern, in Ordnung bringen oder planen mußte, und sie es einfach nicht über sich brachte, diese Aufgaben ihren Mitarbeitern zu überlassen.
Aber an diesem Mittag, als Onkel Gideon Charlotte zu ihrem Picknick im Park abholte, war sie da. Und als sie gehen wollten, hatte sich Charlotte noch mehr gewundert, denn ihre Großmutter hatte sie in die Arme genommen und ganz fest gehalten und dabei gemurmelt: »Hab eine schöne Zeit, Charlotte.«
In ihren Augen hatten Tränen gestanden, und Charlotte hatte erst viel später – Jahre später – verstanden, warum.
»Jonathan«, sagte sie jetzt und beobachtete ihn, wie er aus Holzscheiten und alten Zeitungen, die in einer Messingschütte aufgeschichtet waren, ein Feuer im Kamin schürte. »Wenn meine Mutter geistig zurückgeblieben war, wie konnte sie dann als Erwachsene heiraten? Wurde ihre Krankheit geheilt? Oder war sie gar nicht verheiratet und die Geschichte von dem jungen Ehemann, der bei einem Tauchunfall starb, ist ein Märchen, das die Tatsache verbergen soll, daß ich unehelich bin? Ich wette, Margo und Adrian wissen Bescheid. Sie sind ungefähr so alt wie meine Mutter. Ich dachte immer, sie wären mit ihr befreundet gewesen. Aber dieser Zeitungsartikel …« Ihre Stimme brach. »Darin heißt es, Iris Lee war so schwachsinnig, daß sie nicht einmal ruhig sitzen konnte und darum aus dem Gerichtssaal entfernt werden mußte. Wieso habe ich in all diesen Jahren nie etwas davon gehört? Und wie ist sie wirklich gestorben? Lauter Geheimnisse und Lügen! Meine Großmutter hat mir erzählt, meine Mutter sei durch einen Treppensturz zu Tode gekommen. Aber stimmt das, Jonathan, stimmt das?«
Jonathan hockte auf seinen Fersen und betrachtete das Schüreisen. Jemand hatte es blitzblank geputzt. »Ich weiß nicht, Charlotte«, entgegnete er leise. »Je mehr wir herausfinden, desto mehr scheinen wir im dunkeln zu tappen.«
Sie nahm endlich ihren Kaffee und trank. Der Wind rüttelte an den alten Blockhausfenstern, und der Regen prasselte aufs Dach. Sie schloß die Augen und dachte an das, was Desmond gesagt hatte: »Jeder wußte, daß mein geiler alter Großvater einen Hang zu Chinesinnen hatte.« O Desmond, wie sehr du dich irrst. Du und ihr alle, ihr irrt euch.
»Hier geht’s aber nicht zum Park, Onkel Gideon«, hatte die fünfzehnjährige Charlotte gesagt, als sie auf dem Embarcadero nach Süden fuhren.
»Ich meine ja auch nicht den Golden-Gate-Park, Charlotte.«
Sie war nicht weiter in ihn gedrungen. Es würde eine von Onkel Gideons Überraschungen sein.
Er hatte sie in ihrem Leben oft überrascht, mit besonderen Geschenken und Ausflügen, aber diesmal, das merkte sie, als sie die Abzweigung zum internationalen Flughafen von San Francisco nahmen, mußte es etwas ganz Außergewöhnliches sein. Und als er dann zwei Koffer aus dem Kofferraum holte und ihr zwei Pässe zeigte, jeden mit einem Erster-Klasse-Flugschein darin, da begriff sie, daß das jetzt ein wirkliches Abenteuer werden würde.
Er brauchte ihr nicht zu sagen, wohin sie flogen. Schließlich war es eine Maschine der Singapore Airlines. Und nach einundzwanzigeinhalb Stunden Kartenspielen, Filmeanschauen, Schlafen und Essen landeten sie in einem schwülen farbenprächtigen Paradies.
Sie stiegen im Raffles-Hotel ab, in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern, und stürzten sich dann ohne Zögern in die bunte, lebhafte Stadt, wo Polizistinnen in weißen Uniformen den Verkehr an den Kreuzungen regelten und Zwiebelverkäufer, die ihre Waren ringsum zur Begutachtung ausgebreitet hatten, auf dem Bürgersteig hockten.
Als sie die Wolkenkratzer und modernen Straßen der Stadt hinter sich gelassen hatten, erforschten sie die schmalen Sträßchen und Gäßchen, in denen es von kleinen Läden, Garküchen und Buden wimmelte. Gideon erzählte ihr, daß er schon zweimal in Singapur gewesen war. »Zuletzt mit deiner Großmutter, die mir zeigen wollte, wo sie zur Welt gekommen ist.«
Sie waren vor einem winzigen Laden stehengeblieben. Auf dem Schild stand »Seiden-Wah, gegr. 1884«.
»Hier ist deine Großmutter geboren«, erklärte Onkel Gideon, »in einem Zimmer im Obergeschoß.«
Diese Geschichte kannte Charlotte schon. Eine richtige Romanze, Mei-ling, die den schönen Richard Barclay rettete, als er von Räubern überfallen worden war, die ihn heimlich gepflegt und versorgt und sich in ihn verliebt hatte. Als Charlotte Johnny einmal nach Hause mitgenommen hatte, um eine Schnittwunde auf seiner Stirn zuzupflastern, hatte sie daran gedacht, was Mei-ling wohl empfunden haben mochte, als der Mann, den sie liebte, stumm und still dalag, während sie ihn mit lindernden Salben und Ölen einrieb. Johnny hatte vertrauensvoll zu ihr aufgeschaut. War es bei Richard Barclay und Mei-ling auch so gewesen?
»Ich verrate dir ein kleines Geheimnis«, hatte Onkel Gideon gesagt, als sie vor dem Seidengeschäft standen. »Deine Großmutter ist nicht so alt, wie die Leute glauben. In Wirklichkeit ist sie zwei Jahre jünger. Du mußt sie bitten, dir einmal von ihren gefälschten Einwanderungspapieren zu erzählen.«
»Und wann warst du zum ersten Mal hier, Onkel Gideon?« hatte Charlotte gefragt. Bei der Erinnerung an Dinge, von denen er niemals sprach, hatte seine Miene sich verdüstert. »Vor dreißig Jahren«, sagte er dann, »im Krieg. Ich saß im Changi-Gefängnis, wo Menschen anderen Menschen Unmenschliches antaten. Das einzige, was mich in dieser Hölle am Leben hielt, war der Gedanke an die Frau, die ich liebe, und mein Versprechen, zu ihr zurückzukehren.«
Charlotte hatte sich an die Kriegsauszeichnungen erinnert, die sie gesehen hatte, und geglaubt, er spreche von seiner Frau, Tante Olivia.
Er führte sie zum Tempel der tausend Lichter, wo sie eine Nachbildung von Buddhas Fußabdruck bestaunten. Sie besuchten das Standbild von Sir Stamford Raffles am Ostufer des Singapore River, das die Stelle markierte, an der der Engländer 1819 das erste Mal an Land gegangen war. Sie nahmen an einem indischen Fest teil, bei dem sich heilige Männer im Lendenschurz Haken, Dornen und Spieße ins Fleisch bohrten und damit herumstolzierten. Zwischendurch aßen sie an Buden Reis und Schweinefleisch kung pao. Sie bewunderten eine chinesische Oper in einem Freilichttheater, wo Schauspieler und Schauspielerinnen in prachtvollen Kostümen kunstvoll geschminkt die Menge mit der Darstellung uralter Mythen und Legenden verzauberten. Auf der Tiong Bahru Road lauschten sie Singvögeln in verzierten Bambuskäfigen, die zur Freude der Passanten ihre Melodien trillerten.
Zuletzt leisteten sie sich im Jurong-Vogelpark ein festliches Picknick aus Curryhuhn und Padangreis und beobachteten dabei die grellbunten Papageien, die kreuz und quer durch die Gischt eines Wasserfalls schossen.
Sie saßen unter dem schwülen, blauen Himmel, und Onkel Gideon sagte: »Weißt du, Charlotte, Beziehungen sind manchmal nicht einfach. Das wirst du selbst merken, wenn du älter bist. Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit. Manchmal wollen sie dich betrügen, vor allem«, setzte er lächelnd hinzu, »wenn du zufällig ein schönes, junges Mädchen bist und ein Junge sich sehr für dich interessiert.«
»Aber woher weiß man«, begann sie, »ich meine, woher weiß das Mädchen …« Ihre Stimme versickerte im Nebel des Wasserfalls, weil sie nicht wußte, was sie eigentlich sagen wollte. Erst heute morgen hatte sie im Speisesaal des Hotels eine Puppe bewundert, die Onkel Gideon ihr am Vortag gekauft hatte, und gleich darauf bewunderte sie den jungen Mann am Nebentisch. War das Leben immer so verwirrend?
»Wenn du einem Jungen sagst, daß du ihn liebst«, fuhr Gideon fort, »und er dir antwortet, das glaube er erst, wenn du es ihm mit deinem Körper beweisen würdest, dann laß ihn laufen. Es bedeutet, daß er dich nicht achtet. Und ohne Achtung kann es keine Liebe geben.«
Sie gestand ihm, daß sie Mädchen kannte, die schon bis zum Letzten gegangen waren. Ein paar von ihren Freundinnen nahmen sogar die Pille. Die Mitteilung schien ihn zu verwirren und traurig zu machen. »Frauenbefreiung und Woodstock«, meinte er kopfschüttelnd. »Ein neues Zeitalter. Aber manche Dinge bleiben zeitlos gültig, ganz gleich, wie alt sie sind. Und dazu gehört, daß ein Junge, der dich liebt, dich wirklich liebt, dich nie zwingen wird, etwas zu tun, was du nicht willst, und nie versuchen wird, dich zu überreden, ihm deine Liebe mit deinem Körper zu ›beweisen‹. Manchmal wird dir ein Junge vorspiegeln, er liebe dich, damit er seinen Willen bekommt, aber dann ist er nicht ehrlich zu dir. Andererseits gibt es vielleicht einen, der dich liebt und es nur nicht sagen kann.«
»Und woran erkennt man den Unterschied?«
Er lachte. »Ich fürchte, das hat noch keiner herausgefunden.« Und dann, ernsthafter: »Versprich mir eines, Charlotte. Wenn es einmal soweit ist, daß du mit einem Jungen zusammensein möchtest, dann versprich mir, daß du vorher ganz genau überlegen wirst, ob du es wirklich willst und ob du es mit ihm willst.«
Sie hätte ihm das Versprechen gleich jetzt und hier geben können, denn sie wußte damals schon genau, daß sie es wollte, und daß es Johnny war, der als einziger dafür in Frage kam.
Als nächstes fuhr er mit ihr in einen kunstvoll angelegten botanischen Garten in der Pfauengasse, wo Tausende verschiedener Blumen zu sehen waren. Hand in Hand streiften sie hindurch, und Charlotte staunte über die wundervollen Höfe, die Mondtore, die Pagoden mit den geschweiften Dachbalken, die Holzbrücken und die stillen Teiche, bis er ihr sagte: »Dies war einmal eine private Villa, und hier ist deine Urgroßmutter Mei-ling geboren.«
Mehr sagte er nicht. Er schmückte nichts aus, hielt ihr keine Vorträge und betonte auch nicht, daß hier die Heimat ihrer Ahnen wäre, der Ort, an dem ihre Wurzeln lägen. Er sagte nicht: »Darum fährt Johnny jedes Jahr nach Schottland.« Aber Charlotte war auf den schmalen Wegen gewandert, durch die anmutigen Torbögen und durch prachtvolle Zimmer voller gemalter Obstgärten, Lilien und Paradiesvögel, und hatte gedacht: »Auf diesen Wegen ist meine Großmutter gelaufen, aus diesen Fenstern hat sie geschaut. Hier hat sie geschlafen und gegessen, war traurig und glücklich.«
Und sie hatte etwas noch nie Empfundenes gespürt, eine plötzliche Nähe, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Sie dachte an das Zimmer über Seiden-Wah, in dem ihre Großmutter geboren worden war, und an die vielen Gesichter, die ihrem eigenen ähnelten, mit hohen Wangenknochen und Mandelaugen, an die Dialekte, die sie gehört – Kanton, Mandarin, Schanghai –, und die vielen KwanYin-Figuren, die sie gesehen hatte, und ganz erstaunt begriff sie: Hier ist mein Ursprung.
Zuletzt hatte Onkel Gideon sie in einen kleinen Laden auf der Orchard Road geführt und ihr eine Halskette mit einem Anhänger gekauft. Der Anhänger war aus Silber und Bernstein, die Kette aus Silber und Amethysten. Gideon hatte ihr gezeigt, wie man das Medaillon öffnete. »Siehst du? Man kann etwas hineinlegen, ein Andenken.«
Sie wußte schon, was sie hineintun würde. Sich und Johnny, für immer.
Johnathan hatte inzwischen das Feuer in Gang gebracht. Es brannte hell und heiß, warf goldene Spiegelbilder in den Raum und erfüllte die Luft mit freundlichem Prasseln und Knistern. Als er sich zu Charlotte auf das Sofa setzte und in den alten Polstern mit den herausstehenden Sprungfedern versank, sah er im Feuerschein etwas auf ihrer Brust glänzen, gleich unter dem Schlüsselbein: die Shang-Kette. Er mußte daran denken, wie er das Schmuckstück zum ersten Mal gesehen hatte. Es war an dem Tag gewesen, als er aus den Sommerferien zurückgekommen war, damals mit fünfzehn. Im Juni hatte er eine mürrische und verdrießliche Charlotte zurückgelassen. Das Mädchen, das ihn jetzt im September begrüßte, war auf wundersame Weise verwandelt. »O Johnny, du bist wieder da!« hatte sie gerufen und ihn umarmt. Und bevor er noch etwas antworten konnte, hatte sie ihn mit dem atemlosen Bericht über eine Reise mit ihrem Onkel überfallen – »stell dir vor, nach Singapur!« – und zu seiner Verblüffung damit geendet, daß sie jetzt verstünde, warum er jeden Sommer nach Schottland fahre.
Es hatte ihn verwirrt, weil er den Grund dafür selbst nicht kannte – er wußte nur, weshalb er zurückkam.
»Es tut mir wirklich leid, daß ich dir nichts von Naomi erzählt habe«, begann er jetzt. »Ich weiß, wie es ausgesehen haben muß, als du ihre Nachricht in meiner Brieftasche gefunden hast.«
»Schon gut. Ich verstehe dich.« Sie betrachtete ihn und weidete sich an seinem Profil. Plötzlich hatte im wärmenden Kokon der Berghütte die Welt um sie herum zu existieren aufgehört. Es war, als hätten die Ereignisse der letzten zehn Stunden vor langer Zeit auf einem anderen Planeten stattgefunden. Die alten Regeln galten nicht mehr, die Schranken schienen unnötig. »Was hast du damals vor acht Jahren gedacht, als du die Nachrichten über Chalk Hill gehört hast?«
Er sah sie aus ehrlichen Augen an, ein offener Blick, der sie an die Sommer in San Francisco erinnerte, bevor sie beide ihre Unschuld verloren. »Daß man dich in den Medien falsch dargestellt hat. Ich wußte, daß hinter dem, was die Öffentlichkeit gezeigt bekam, eine andere, wahre Geschichte lag.«
»Es fängt an mit dieser Stimme aus dem Hintergrund, als ich sage ›Wenn das der einzige Weg ist, wie wir uns Gehör verschaffen können, dann werden wir ihn eben gehen‹. Jonathan, das habe ich vor dem Gebäude der FDA in Washington gesagt und dabei ein Demonstrationsschild hochgehalten! Aber sie haben es eingespielt, während sie das andere Bild zeigten, damit es aussah, als erklärte ich, wenn ich Tiere abschlachten müßte, würde ich es eben tun. Das war nicht wahr!«
»Ich weiß.«
»Sie stellten mich dar, als würde ich, um meine persönlichen Ziele zu erreichen, unschuldige Tiere opfern«, fuhr sie leidenschaftlich fort. »Wie du sagst – es gibt eine wahre Geschichte. Du weißt, daß ich gegen Tierversuche bin. Aber ich glaube auch, daß wir bei unserem Kampf gegen diese Versuche eine Verantwortung gegenüber den betroffenen Tieren haben. ›Segnet die Tiere‹ war eine verantwortungslose Gruppe. Sie ließen Tiere frei und dachten gar nicht darüber nach, wie die armen Wesen weiterleben sollten. Ich hatte Wind von dem geplanten Überfall auf das Chalk-Hill-Laboratorium bekommen. Ich und ein paar andere wollten ihn verhindern. Wir kamen zu spät. Die Tiere waren bereits losgelassen worden, und das Haus brannte.
Chalk Hill liegt im Redwood-Land von Nordkalifornien. Diese Tiere waren entweder schon in Käfigen geboren worden oder hatten den größten Teil ihres Lebens darin verbracht. Sie hätten in der Wildnis nicht überleben können. Und es waren auch keine gesunden Geschöpfe, die man da befreit hatte, sondern arme Opfer mit Krankheiten und Tumoren. Dieses Bild von mir, wie ich vor einem Schäferhund knie … ja, ich habe ihn getötet. Sein Blut klebte an meinen Händen. Ich habe ihm den Schädel eingeschlagen. Jonathan, der arme Hund hatte den Kopf voller Elektroden. Ich sah das Entsetzen in seinen Augen, als er aus dem Labor rannte. Es war das totale Chaos, überall sprangen Ratten und Affen herum, rasten in alle Richtungen, krank, erschrocken, hilflos. Wir konnten sie auch nicht wieder einfangen und zurückbringen, weil das Labor schon in Flammen stand. Wir konnten nicht mit ihnen zum Tierarzt. Die Versuchsstation lag im Wald, meilenweit von jeder Zivilisation entfernt. Und dann sah ich, wie der unglückliche Hund stolperte und sich in Krämpfen am Boden wand.« Ihre Stimme senkte sich zu einem erschrockenen Flüstern. »Ich mußte ihn von seinen Qualen erlösen. Ich konnte ihn nicht einfach dort liegenlassen.«
Jonathan legte den Arm um sie und zog sie an sich.
»Naomi war Mitglied von ›Segnet die Tiere‹«, fuhr Charlotte mühsam fort. »Auch sie wollte die Versuchstiere befreien. Aber als sie sah, was dabei herauskam, daß wir sie mit bloßen Händen umbringen, ihnen den Hals umdrehen, den Schädel einschlagen mußten, damit sie nicht langsam und elend zugrunde gingen …« Sie schlug nasse, grüne Augen zu ihm auf. »Sie war ebenso erschüttert wie wir und gab ›Segnet die Tiere‹ die Schuld an der Katastrophe. Sie trat aus. Damit fing es an – jeder zeigte mit dem Finger auf den anderen und beschimpfte ihn. Es ist ein Abschnitt in meinem Leben, an den ich am liebsten gar nicht mehr denken möchte.«
»Für mich bist du eine Heldin«, sagte er leise.
Sie suchte in seinem Gesicht und staunte über die neuen Furchen, die sie darin fand. Einst war es ein glattes Gesicht gewesen, und sie kannte es in vielen Stadien – die gräßliche Pickelzeit, die Monate mit dem neuen, weichen Bartflaum, der Sonnenbrand, der sich schälte, der Schorf, der nicht heilen wollte, die Tacosoße in den Mundwinkeln, die Tränen in den traurigen, braunen Augen. Sie suchte im älteren Gesicht nach dem jungen darunter und fand es, und mit ihm den jungen Johnny.
»Was geschah in Amsterdam?« fragte sie.
Er zog den Arm zurück und lehnte sich nach hinten, die Hände müßig im Schoß, eine Geste der Resignation. Er hatte gewußt, daß sie es irgendwann erfahren mußte. Es war nur fair, sie von der trügerischen Illusion, die sie vielleicht von einem edlen, heldenhaften Jonathan Sutherland hegte, zu befreien.
»Es ging um acht erstklassige Hacker, vor denen sämtliche europäischen Regierungen zitterten und in Verfolgungswahn verfielen, außerdem Banken, Rüstungsfirmen und Politiker mit Privataufzeichnungen. Wir kannten ihre Identität nicht und wußten rein gar nichts über sie. Obwohl die Bande niemals etwas Konkretes unternahm – es ging ihnen hauptsächlich um das Sammeln von Informationen –, gab es genügend Behörden und Großunternehmen, die soviel Angst vor ihnen hatten, daß sie darauf bestanden, man müsse sie fangen und hinter Schloß und Riegel bringen. Ich leitete eine Spezialeinheit von Agenten aller europäischen Regierungen. Die Acht führten uns am Nasenring durch ganz Europa. Sie schienen es als Spiel zu betrachten. Sie tauchten in hochgeheimen Computern auf, hinterließen freche Botschaften und verschwanden wieder. Nach einer Weile fing die Presse an, sich laut zu wundern, warum wir sie nicht erwischen konnten. Die Öffentlichkeit zweifelte an unseren Fähigkeiten. Die Acht machten uns zum allgemeinen Gespött.
Als sie die Startcodes von US-Raketen im Internet bekanntgaben, gerieten wir unter Druck. Ich weiß nicht, wie es am Ende passiert ist. Ich habe mir diese Nacht tausendmal durch den Kopf gehen lassen, um herauszufinden, was schiefging. Lag es daran, daß wir alle übermüdet waren? Zuviel Streß hatten? Zu wenig Mittel und Leute? Ganz gleich, was der Grund war, ich war schuld. Ich trug die Verantwortung, schließlich war ich der Technologie-Experte. Gut, diese Hacker hatten sich zweihunderttausend Kreditkartennummern verschafft. Na und? Sie machten keinerlei Gebrauch davon. Und diese Startcodes? Sie hätten sie nie im Leben einsetzen können. Ich hätte ihre Aktionen als das erkennen müssen, was sie waren – nicht das Werk tödlicher internationaler Terroristen, sondern der Versuch einer Handvoll Spinner, Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie anderen Leuten Angst einjagten.«
Er holte tief Atem und stieß ihn als rauhen Seufzer wieder aus. »Aber der ganze Kontinent litt unter Verfolgungswahn, und am Ende war ich wohl auch davon angesteckt.«
»Und dann?«
»Als wir sie endlich aufspürten«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, »versteckt in einem Bauernhaus bei Amsterdam, waren meine Leute und ich vollgepumpt mit Wut, Adrenalin und Rachedurst. Wir haßten dieses Pack, das aus unserer Eliteeinheit einen Scherzartikelladen gemacht hatte. Vermutlich waren wir auch vom Gefühl unserer eigenen Wichtigkeit und Berühmtheit verblendet. Ich war der einzige, der ohne Waffe hineinging, aber das entschuldigt mich nicht. Ich hätte sie aufhalten müssen. Ich wußte, wie die Gehirne von Hackern funktionieren. Ich war der Fachmann. Zu spät begriff ich meinen grausigen Irrtum. Als ich den Jungen, der sich vor Angst in die Hose machte, auf den Knien sah, hatten sie schon zwei andere erschossen.«
Er starrte in die Flammen. Charlotte nahm seine Hand.
»Dann erst gelang es mir, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Ich kam zur Vernunft und befahl meinen Leuten, das Feuer sofort einzustellen. Aber da hatten die beiden Toten, sechzehn und siebzehn Jahre alt, schon keine Chance mehr, und der dritte, den eine Kugel in den Nacken traf und lähmte, auch nicht. Er war fünfzehn.«
»Jonathan, du konntest es nicht wissen. Niemand hatte eine Ahnung davon, wer sie waren, niemand kannte ihr Alter.«
»Nein.« Er enzog ihr die Hand. »Ich hätte es wissen müssen. Ich kannte ihr Profil, erinnere dich! Lieber Gott, diese Kinder benahmen sich absolut typisch. Wandelnde Klischees des gewöhnlichen, harmlosen, antisozialen Hackers! Meine Arroganz und mein Ehrgeiz hatten mich blind gemacht.«
Er sprang plötzlich auf. »Sie nannten mich einen Helden. Der Präsident der Vereinigten Staaten schüttelte mir die Hand. Ich bekam Angebote für Buch- und Filmverträge. Mein Partner wurde eifersüchtig. Und alles nur, weil ich zuließ, daß ein paar Kinder erschossen wurden, die nicht alt genug waren, um Zigaretten zu kaufen.«
»Sie waren eine Gefahr für die Gesellschaft, für die Welt, Jonathan.«
»Zum Teufel nochmal, das waren sie doch überhaupt nicht. Sie verübten nicht eine einzige Gewalttat. Alles, was sie taten, war, das Establishment ein bißchen zu erschrecken, der Welt zu zeigen, daß sie Macht hatten.« Er sprach jetzt sehr leise. »Es war der Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte das Hacken immer geliebt, es als Kunst betrachtet, die Leute bewundert, die darin so gut wie ich oder besser waren. Aber jetzt beschloß ich, aus dem Spiel auszusteigen, mich mit Unternehmenssicherheit zu beschäftigen, die bösen Jungs mit den weißen Westen zu jagen, meinen Lohn zu kassieren und ohne Risiko zu leben. Zwei tote Kinder, Charlotte, und ein drittes für den Rest seines Lebens vom Hals abwärts gelähmt.«
»Trotzdem waren sie Gesetzesbrecher, Jonathan.«
»Ja, aber diese Art Strafe hatten sie nicht verdient.« Er sah auf sie hinunter. »Hatte dein Schäferhund verdient, was er bekam?«
Stumm starrte sie ihn an, die Lippen ein schmaler Strich.
»Wir sind diejenigen, die über andere bestimmen, Charlotte. Wir sind es, die vorsichtig sein und verantwortungsvoll handeln müssen. Wenn ich damals meinen Verstand beisammen gehabt hätte, wäre ich in dieses Bauernhaus gegangen, hätte mit ihnen Kaffee getrunken, ihnen ein paar Geschichten übers Hacken erzählt, sie dann alle verhaftet und für vielleicht ein Jahr in den Knast gesteckt. Und mich vielleicht sogar mit einigen von ihnen angefreundet.«
Eine trostlose Kälte in seinen Augen ließ Charlotte begreifen, daß er noch nicht fertig war.
Er hatte ihr noch mehr zu erzählen …
Schlimmeres.
Er ging zum Kamin und stocherte in den Scheiten. Flammen und Funken stoben.
Er legte den Schürhaken zur Seite, stützte sich auf den Kaminsims und starrte lange ins Feuer.
Sie wartete.
Endlich drehte er sich wieder zu ihr um.
»Charlotte, ich habe Adele geheiratet, weil sie da war. Es ist wirklich so einfach. In der ersten Nacht, die ich mit ihr verbrachte, wachte ich kein einziges Mal schreiend auf. Sie besänftigte meinen Alptraum. Adele war der Schutzengel meines Schlafs.«
Charlotte fand kaum ihre Stimme. »Sie war da? Ist das dein einziger Grund, eine andere Frau zu heiraten – weil sie da war?«
»Es mag ein beschissener Grund sein, aber es ist die Wahrheit.«
»Jonathan, ich hätte dasein können. Du hättest mich nur zu fragen brauchen.«
»Und du meinst, das wäre mir so leichtgefallen, nachdem du mir so überdeutlich erklärt hattest, du müßtest allein sein, weil du Pläne hättest?«
»Du hattest es zuerst gesagt.« Sie stand abrupt auf. »Du weißt gar nicht, wie weh es mir tut, wenn ich höre, daß du soviel Kummer und Schmerzen hattest und trotzdem nicht zu mir gekommen bist.«
»Bist du denn nach Chalk Hill zu mir gekommen?«
»Da warst du schon verheiratet! O Gott, ich wußte, daß es so kommen würde. Du benutzt mich schon wieder. Du kommst zu mir, entblößt deine Seele, lädst alles ab und gehst wieder weg, und ich bleibe mit deinem Gewissensschrott zurück und fühle mich von neuem im Stich gelassen. Verdammt, Jonathan, ich hätte dich wegschicken sollen, sobald ich dich nur in meiner Bürotür stehen sah.«
»Was erregt dich so?«
»Was mich erregt, ist die Art, wie du in meinem Leben herumspringst, als ob ich eine gottverfluchte Aufladestation für deine Batterie wäre. Ich habe es satt, immer nur dein Müllabladeplatz zu sein. Mein Herz ist zu schwach dafür. Wirf mir nicht deine beschissenen Dämonen vor die Füße, damit du erleichtert zu deiner Frau zurücktanzen kannst.«
Sie riß die Tür auf und rannte in den Regen hinaus.
Jonathan rannte ihr in die kalte Dunkelheit und den gnadenlosen Wolkenbruch nach, packte sie am Arm und drehte sie um. »Charlie, hör zu …«
»Du Bastard!« schrie sie. »Willst du wissen, warum ich sauer bin? Weil du dich vor zehn Jahren so mies benommen hast! Die Art, wie du deine kostbare Neuigkeit für dich behalten hast, während ich dasaß wie ein Vollidiot und in meiner Blödheit hoffte, du würdest mich bitten, zu dir zurückzukommen. Und dann hast du es mir ins Gesicht gesagt, einfach so: ›Charlotte, ich werde heiraten.‹ Was hätte ich denn antworten sollen?«
»Ich weiß nicht, verdammt noch mal, aber irgend etwas hättest du sagen können.«
Ihre grünen Augen blitzten vor Wut. »Ich hätte mich an irgendein beschissenes Drehbuch halten sollen, das du mir nicht einmal gegeben hast?«
»Jedenfalls dachte ich nicht, daß du aufstehen und weglaufen würdest.«
Sie kämpfte gegen seinen Griff.
»Und überhaupt, warum zum Teufel hätte ich nicht heiraten sollen?« brüllte er. »Du warst es doch, die unbedingt ihre Freiheit wollte!«
Sechzehn Jahre verschwanden plötzlich, als zöge man ihnen den Boden unter den Füßen weg.
Charlotte fühlte sich, als schwebe sie im leeren Raum. Als sie krachend wieder auf der Erde landete, war es wieder 1981, und Johnny hatte ihr einen Gedichtband geschickt. Sie war nach oben in ihr Zimmer gerannt, ohne ihrer Großmutter auch nur ›Guten Tag‹ zu sagen, hatte die Tür zugeknallt, sich aufs Bett geworfen und die Titelseite aufgeschlagen. Dort stand in seiner Handschrift: »Das sind meine Gefühle. Seite 97.« Fieberhaft und mit zitternden Händen hatte sie geblättert, weil es jetzt endlich soweit war – Johnny hatte den Panzer seiner Stummheit durchbrochen und sagte ihr, wie sehr er sie liebte.
Dann war der Traum in tausend Stücke gebrochen, als ihr die Sätze entgegensprangen – häßliche, kalte, verletzende Worte: »Ich gehe meinen eignen Weg«, »Freier Raum und Einsamkeit sind mein Brot und Licht«, »Eine Seele allein, eine einsame Seele«.
Worte vom Weggehenwollen, von der Erinnerung an »den Herbst unserer Liebe«, von Freundschaft, »Kette und Krampf meines Herzens«.
Ganz betäubt von diesen Worten, hatte sie nicht einmal weinen können. Sie hatte ihn in Boston angerufen.
»Ich möchte, daß wir Freunde bleiben, Johnny.«
Sie hatte es so gesagt, als wäre es von Anfang an ihre eigene Idee gewesen, weil ihr das die Demütigung ersparte, ihr half, den Schmerz der Zurückweisung zu verbergen. »Ja, eine Entfernung von dreitausend Meilen … ja, deine Arbeit, und ich habe meine …«
Jedes Wort schnitt ihr wie ein Messer ins Herz und trieb Jonathan Stück für Stück aus ihrem Leben. Sie würde ihm nie verraten, wie tief das Gedicht sie verletzt hatte, würde weder ihm noch anderen Menschen je wieder Gefühle zeigen.
»Hör zu, Charlie«, wiederholte er jetzt, hier draußen im Regen, streckte durch Jahre und Unwetter die Hand nach ihr aus.
Sie schluchzte und atmete in heftigen Zügen Luft und Regen ein. »Geh doch zurück zu Adele! Laß mich in Ruhe!«
»Ich gehe nicht zu Adele.«
»Lüg mich nicht an! Was willst du hier, Jonathan? Warum bist du gekommen?«
»Weil du in Gefahr bist.«
»Was liegt dir schon daran?« schrie sie auf, und ihre Tränen rannen in die Regentropfen auf ihren Wangen. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und stieß ihn zurück.
»Charlie, darum bin ich hier. Weil ich mich um dich sorge.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Du sagst, du hättest vom Tod meiner Großmutter gelesen. Wäre es zuviel gewesen, mich anzurufen? Oder auch nur eine Karte zu schicken? Ich brauchte dich. Ich habe gewartet.«
»Aber ich habe eine Karte geschickt, und auch Blumen.«
Sie reckte das Kinn.
Der strömende Regen und der Wind ließen ihr aufgelöstes Haar wie schwarze Bänder um Wangen und Schultern flattern. »Es gab keine Blumen von dir.«
»Charlotte, ich habe eine Quittung.« Er streckte bittend die Hände nach ihr aus. »Ich war in Südafrika und kam dort nicht weg. Ich habe es versucht. Ich habe dafür gesorgt, daß das Bestattungsinstitut dem Blumenhändler eine unterschriebene Quittung gab. Und angerufen habe ich dich auch. Ich hinterließ Dutzende von Nachrichten. Du hast nie zurückgerufen.«
Sie starrten einander an.
»Jemand muß sie abgefangen haben«, sagte er. »Jemand, der nicht wollte, daß wir wieder zusammenkamen.«
Charlotte brach in jähes Schluchzen aus. »Ach, Johnny! Am Abend, als sie abreiste, hatten meine Großmutter und ich einen schrecklichen Streit. Ich habe ihr fürchterliche Dinge gesagt. Sie war hinter einem neuen Kraut her, aus dem sich vielleicht ein Tee machen ließe. Ich sagte ihr, wir könnten es erst einmal untersuchen und seine chemische Zusammensetzung prüfen. Sie lehnte ab. Sie wollte nie, daß ihre Kräuter analysiert wurden. Von Molekularstrukturen, chemischen Grundstoffen und Enzymen wollte sie nichts wissen. Ich sagte ihr, daß es schließlich die Analyse ihrer geliebten Kräuter gewesen wäre, die mich auf die Formel für GB4204 gebracht hätte, und fügte hinzu, sie hätte sich wohl nicht wirklich etwas aus Onkel Gideon gemacht.«
»Hör auf, Charlie. Du wußtest es doch nicht.«
»Warum hat sie mir nie von sich und Gideon erzählt? Warum hat sie sich wortlos abgewandt, als. ich ihr einmal einen Eiscreme-Sundae anbot? Warum konnte sie nicht einfach sagen: ›Nein, das ist eine zu schmerzliche Erinnerung‹?«
»Sie hatte ihren Stolz, Charlie, genau wie du. Du ziehst dich genauso in dein Schneckenhaus zurück wie deine Großmutter.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Wieder nahm er ihren Arm. »Doch, du weißt es, und es ist an der Zeit, daß wir darüber sprechen.«
»Laß mich!« Sie riß sich los und wollte weglaufen.
»Charlie!« Er rannte hinterher, hielt sie fest und zwang sie, sich umzudrehen. »Wir müssen uns den Dingen stellen. Wir müssen darüber reden.«
»Du hast gesagt, du wolltest allein bleiben!«
»Nachdem du es gesagt hast!« Die Erinnerung überschwemmte ihn plötzlich wie eine Flutwelle – wie er unter Qualen auf ihren Anruf gewartet und sich ihre Aufregung über sein Gedicht vorgestellt hatte … fest davon überzeugt, sie würde ins nächste Flugzeug springen und zu ihm kommen, und sie würden nie wieder getrennt sein.
»Du hast es zuerst gewollt!« rief sie. »Und dabei warst du auch noch so feige, mir ein gottverdammtes Buch zu schicken, statt es mir wenigstens ins Gesicht zu sagen.«
»Was zum Teufel meinst du?«
»Komm mit, dann werde ich dein Gedächtnis auffrischen.« Sie lief zurück in die Hütte.
Jonathan folgte ihr.
Drinnen nahm sie ihre Umhängetasche, griff hinein, holte das Buch heraus und warf es ihm an den Kopf.
»Du warst es«, keuchte sie. »Du hast unsere Freundschaft beendet.«
Er sah sie ratlos an. Das Buch lag vor seinen Füßen auf dem Flickenteppich.
»Also gut.« Sie hob es auf. »Wenn du nicht den Mut hast, deine eigenen feigen Worte zu lesen …« Ein hastiges Blättern, dann las sie vor: »Freier Raum und Einsamkeit sind mein Brot und Licht.« Sie sah ihn herausfordernd an. »Wenn das nicht ›Auf Wiedersehen‹ heißt, was dann?«
»Aber das ist nicht mein Gedicht«, sagte er stirnrunzelnd und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Das habe ich nicht geschrieben.«
Sie blinzelte. »Was meinst du damit … dein Gedicht?«
»Natürlich meins! Was glaubst du denn, warum …?« Er blätterte ein paar Seiten zurück. »Hier.«
Er gab ihr das Buch wieder.
Sie starrte auf das Blatt, gebannt von der Widmung: Für Charlotte, von Jonathan Sutherland. »Das begreife ich nicht. Du hast mir nie von einem Gedicht erzählt.«
»Es sollte eine Überraschung sein«, antwortete er schlicht.
»Johnny, das konnte ich nicht ahnen! Ich dachte, du hättest das Gedicht zufällig gefunden.«
»Aber selbst dann, Charlie, ist es nicht das, was du lesen solltest.«
»O doch.« Sie schlug wieder das Titelblatt auf, auf dem stand: »Das sind meine Gefühle. Seite 97«.
Als sie ihm die Worte vorlas, rief er: »Mein Gott, Charlie! Das ist keine Sieben, sondern eine Eins! Seite einundneunzig!«
»Wie bitte? Du meinst, ich hätte damals das falsche Gedicht gelesen? Aber warum hast du es mir nicht gesagt? Du hast mir lediglich das Buch geschickt, ohne weitere Erklärung. Ich hatte wirklich keine Ahnung.«
»Nun ja … vielleicht war es wirklich so, wie du vorhin gesagt hast. Ich hatte ein Drehbuch, aber ich muß vergessen haben, es dir zu geben. Lies das Gedicht jetzt, lies, was mein Herz dir sagt.«
Tausend Meilen über der Erde schwebe ich,
Die kalte Weite des Raums gähnt, als wolle sie mich verschlingen,
Ich weiß, warum ich hier bin,
Die Flügel gespannt, straffe Drähte, die warten,
Auf dich!
Da, die Rundung der Erdumdrehung fängt den ersten gelben Strahl,
Und hält ihn für einen winzigen Augenblick,
Einen Strahl reines Gelb, die Rundung des Lebens selbst,
Mein Atem geht langsamer, als du dich losreißt und aufsteigst,
Glorreich und göttlich, zu den rasenden Sternen,
Ich schreie laut auf, als die warme Berührung meiner gefiederten Segel
Zweifel als nutzlos zerstreut,
Die winzigen, funkelnden Wellen unter mir sind Diamanten auf Samt,
Ich wirble und taumle wie neugeboren,
Falle wie ein Stein,
Die Flügel eng angelegt, bin ich die Rakete,
Ich bin schneller als du,
Du bist majestätisch: ich bin die Schnelligkeit selbst,
Ich schwebe auf gleicher Höhe mit dir und stürze mich halsbrecherisch in weißgefleckte Schluchten,
Dort schlage ich dich, es ist noch dunkel,
Aber ich weiß, daß du immer weiter aufsteigst,
Drei Jahre werden vergehen oder mehr,
So scheint es,
Doch ich werde warten, und du wirst mich finden
In den rollenden, schaumgekrönten Wogen,
Hals über Kopf,
Möge Gott dich geleiten, Geliebte,
Bis dann.
Lange schwieg sie und sah dann mit tränennassen Augen zu ihm auf. »Ach, Johnny. Wieviel Zeit haben wir vergeudet!«
»Es ist meine Schuld. Ich hätte etwas sagen sollen. Aber als du dann anriefst und sagtest, wir sollten nur Freunde bleiben …«
»Weil ich das andere Gedicht gelesen hatte, in dem so etwas stand, etwas von Freundschaft und nicht mehr … mir war so elend zumute.«
»Nicht halb so elend wie mir. Mein Gott, Charlie, ich liebe dich, das weißt du. Ich habe dich immer geliebt.«
Plötzlich streckten beide die Arme aus, schoben Vergangenheit und Schmerz fort, fanden einander und verschmolzen, bis sie sich mit aller so lange zurückgehaltenen Leidenschaft küßten, ein Kuß, der sechzehn Jahre gewartet hatte.
Sie schloß die Augen und überließ sich seiner Umarmung, die Arme um seinen Hals geschlungen, die Hände in seinem nassen Haar, ihre Zunge in seinem Mund. Sie schmeckte ihn, stillte einen Hunger, der allzulange an ihr genagt hatte. Jonathan hielt sie so fest, daß beide kaum atmen konnten, drückte sie an seinen Körper, die Hände in ihrem Haar, auf ihrem Rücken, ihrer Taille, wollte alles an ihr auf einmal fühlen, labte sich gierig an ihren Lippen.
»Johnny, Johnny, ich liebe dich …«
»Charlotte, mein Gott …«
Er wühlte in ihrem Haar, vergrub seine Finger darin, schob es zur Seite und küßte ihren regennassen Hals. Seine Härte berührte ihren Schenkel.
Dann hörten sie ein Geräusch, klein und schwach im Prasseln des Feuers, aber hartnäckig, ein stetiger Rhythmus. Sie sahen zum Computer hinüber. »Wir haben ihn!« sagte Jonathan. »Der Spürhund hat den Eindringling gefunden!«
Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Blockhütte.
Die Erde bebte, und in der Hütte und in Tinys Bergwinkel gingen der Strom und sämtliche Lichter aus.