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»Der Killer ist kein Fremder.« Charlotte musterte grimmig den vergifteten Teebeutel. »Es ist jemand, der mich gut genug kennt, um zu wissen, daß ich immer mit der Corvette fahre, daß ich nur diesen speziellen Tee trinke, daß ich ein enges Verhältnis zu meiner Haushälterin habe und daß Naomis Tod mich umbringen würde. Ein Fremder würde das alles nicht wissen und könnte mich darum auch nicht an diesen empfindlichen Stellen angreifen.«
Sie ging hinüber in das Museum und blieb mitten im Raum stehen, als wollte sie dem Schuldigen zurufen, er solle sich zeigen und stellen. »Bist du hier?« fragte sie leise. »Habe ich dein Gesicht gesehen und es für das eines Freundes gehalten?«
Gleich neben ihr befand sich eine Vitrine mit dem Schild »Neue Fabrik, 1936«. Darin war das Modell einer Fabrikations- und Abfüllanlage aufgebaut – mit winzigen Menschen an einem Miniaturfließband. Weiter obend hing ein Foto, das eine Gruppe von Menschen unter dem riesigen Schild »VOLLKOMMENE HARMONIE – Gesellschaft für chinesische Naturheilmittel« zeigte.
Charlotte trat näher, um das Bild genauer zu betrachten. Sie konzentrierte sich auf die Figur in der Mitte, ihre Großmutter, obwohl man sich diese schöne junge Frau nur schwer als Großmutter vorstellen konnte. Zur Zeit der Aufnahme war Harmonie erst achtundzwanzig Jahre alt gewesen, wenn auch offiziell dreißig. Sie war ganz in Weiß gekleidet, weil sie Trauer trug.
Vorn in der ersten Reihe standen Seite an Seite Margo und Adrian – sieben Jahre alt und schon ein Paar. Margo war hier größer als ihr zukünftiger Gatte, und Adrian hatte bereits diesen streitsüchtigen Ausdruck im Gesicht, der sich im Lauf der Jahre noch verstärken würde.
Charlotte war natürlich nicht auf dem Bild, ebensowenig Desmond oder Jonathan. Sie gehörten erst zur nächsten Generation. Aber es gab andere, die Charlotte wiedererkannte, lächelnde Gesichter, bei deren Anblick sie sich fragte, ob sie Geheimnisse verbargen, die Geheimnisse eines Killers, der sie töten wollte.
»Charlotte?«
Sie drehte sich um. Jonathan wirkte besorgt.
»Möglicherweise ist die Person, die wir suchen, nicht hier.«
»Was meinst du?«
Er zögerte. »Während du schliefst, habe ich mir die Finanzen von einigen eurer Konkurrenten angesehen, weil ich dachte, es könne sich trotz allem um Industriesabotage handeln.«
Sie hörte an seinem Tonfall, daß er auf etwas gestoßen war – etwas Unerfreuliches.
»Charlotte, welches Unternehmen würde am meisten davon profitieren, wenn Harmony in Konkurs ginge?«
Es gab mehrere. »Mondstein, nehme ich an. Sie sind unsere schärfsten Konkurrenten.«
»Ich habe mir eine Aufstellung ihrer Investoren besorgt.« Er reichte ihr einen Ausdruck. »Die Liste ist lang, aber alphabetisch geordnet, so daß man leicht nach bekannten Namen suchen kann.«
Sie fürchtete sich beinahe, einen Blick darauf zu werfen. »Sag mir nicht, du hättest einen der Barclays darauf gefunden!«
»Nein, aber einen anderen Namen, den ich kenne.«
Charlotte überflog die Liste und suchte nach einem Namen, der ins Auge sprang. Tatsächlich. »Naomi Morgenstern!«
»Zwanzigtausend Anteile. Beachte das Datum.«
»Vor vier Tagen gekauft.«
»Hat sie ein Wort davon erwähnt?«
Charlotte schüttelte stumm den Kopf. Ihr fiel kein Grund ein, weshalb Naomi Anteile einer Konkurrenzfirma erwerben sollte. Es sei denn … »Mike! Naomis Verlobter ist Anlageberater. Er muß sie überredet haben, diese Anteile zu kaufen. Sonst hätte sie es nicht getan.«
»Wie sehr vertraust du Mike?«
»So sehr wie Naomi.« Doch im selben Moment fiel ihr ein, daß Jonathan gesagt hatte, der Fremde in der Kojoten Bar, der Rusty Brown dazu angestachelt hatte, sich an der Firma zu rächen, habe einen langen Pferdeschwanz gehabt.
Naomis Verlobter hatte seine langen Haare immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist zu albern. Mike wäre als Killer genauso überzeugend wie Donald Duck.«
Jonathan streckte seine rechte Hand aus und schaute so angespannt in die Handfläche, als suche er in seiner Lebenslinie eine Antwort. »Wo hast du Naomi eigentlich kennengelernt? War es nicht im Zusammenhang mit Chalk Hill?«
»Ja. Naomi gehörte damals zu einer Gruppe mit dem Namen ›Segnet die Tiere‹.«
»Die Tierschützer?«
»Du kennst sie?«
»Es gibt sie auch in London. Was genau ist damals passiert?«
Chalk Hill war das letzte, über das Charlotte sprechen wollte, aber Jonathan mußte die Wahrheit wissen. »›Segnet die Tiere‹ hatte einen großen Feldzug gegen Tierversuchslaboratorien gestartet. Ihre Methode bestand darin, einzubrechen, die Tiere freizulassen und das Labor dann abzufackeln.« Sie sah wieder verblüfft auf den Ausdruck der Mondstein-Investoren in ihrer Hand. »Die Behörden bekamen einen Tip. Polizei und Medien waren vor Ort, bevor alle fliehen konnten. Naomi und ich wurden verhaftet.«
»Aber du wurdest nicht verurteilt.«
»Das Verfahren gegen mich wurde eingestellt.«
»Und Naomi?«
Charlotte biß sich auf die Unterlippe. »Naomi bekam eine Geldstrafe und sechs Monate auf Bewährung.«
»Ihr wurdet beide aus demselben Grund verhaftet und wegen desselben Vergehens angeklagt. Deine Anklage wurde fallengelassen und du kamst frei, während Naomi Strafe zahlen und Bewährungsauflagen einhalten mußte. War sie darüber nicht sauer?«
Charlotte hob ruckartig den Kopf. »Natürlich nicht!«
»Sie könnte es dir nicht nachgetragen haben?«
»Selbst wenn es so wäre, würde sie deshalb nicht versuchen, mich umzubringen, meine Firma zu ruinieren oder ihr eigenes Haus in die Luft zu sprengen, Herrgott noch mal!«
»Ihr Haus ist sehr hoch versichert.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Wie kommst du dazu, in Naomis Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln?«
»Ich schnüffele bei jedem herum, der verdächtig sein könnte.«
»Aber Naomi ist nicht verdächtig, also hör auf damit! Mein Gott, sie ging zu ›Segnet die Tiere‹, weil ihr nichts heiliger ist als das Leben. Und außerdem …«
Jonathan runzelte plötzlich die Stirn.
»Was ist?« fragte sie ungeduldig.
»Dieser Name … ›Segnet die Tiere‹ … ich könnte schwören, daß er mir vor kurzem untergekommen ist.«
Sie folgte ihm ins Büro, wo er hastig einen Stapel Papier, der auf dem Schreibtisch lag, durchblätterte. »Ich versuche immer noch, einen Hinweis zu finden, irgendeine Verbindung zwischen dir, den Opfern und Harmony Biotec. Ich habe das staatliche Nachrichtenarchiv durchforstet und etwas entdeckt … ja, hier ist es.« Er hielt ein Blatt hoch. »Richtig. ›Segnet die Tiere‹. Es betrifft … o Gott.«
»Nun?«
»Ich hatte einen Suchlauf ›Chalk Hill‹ gestartet und fand dabei einen Artikel über die Vorsitzende von ›Segnet die Tiere‹. Aber als ich sah, daß er neueren Datums war, habe ich ihn weggelegt, weil mich nur die Zeit vor acht Jahren interessierte.«
»Na und?«
»Charlotte, der Artikel ist ein Nachruf!« Er gab ihr das Blatt. »Die Frau, die vor acht Jahren Vorsitzende von ›Segnet die Tiere‹ war, ist das dritte Opfer. Sie starb an den Wonne-Kapseln.«
Charlottes Augen eilten über den Text. »Jetzt erinnere ich mich. Sie und ich hatten in einer Fernsehdiskussion, die bundesweit ausgestrahlt wurde, eine ziemlich häßliche Auseinandersetzung, bei der wir uns gegenseitig beschimpften. Sie war plötzlich nicht mehr gegen Tierversuche überhaupt, sondern nur noch gegen die anderer Leute. ›Segnet die Tiere‹ wollte eigene Laboratorien einrichten, in denen die Tiere angeblich humaner behandelt und nicht gequält werden würden. Ich hielt das für Augenwischerei und wurde schrecklich wütend. Sie drohte, sie würde mich verklagen, und ich schrie, ich würde jedes einzelne von ihren Versuchslabors anzünden. Aber ich hatte ihren Namen längst vergessen, Jonathan, das ist die Wahrheit. Es waren damals so viele Leute beteiligt. Als Desmond mir von dem dritten Opfer erzählte – o Gott!« Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Knight!«
»Ja, Knight.« Jonathan öffnete rasch ein Fach seiner Tasche und begann Werkzeuge herauszuräumen. »Wenn er es noch nicht weiß, wird er bald davon erfahren, sobald er nämlich merkt, daß Rusty nicht unser Mann ist. Und dann wird er sich nach einem anderen Verdächtigen umschauen.«
Charlotte brauchte nicht zu fragen, wen er meinte.
Als sie sah, welche Sachen er ausgesucht hatte, um die Taschen seines schwarzen Anoraks zu füllen, fragte sie: »Was hast du vor?«
Er hakte sich verschiedene Werkzeuge an den Gürtel. »Wir müssen hier weg, Charlotte. Du bist auf diesem Gelände nicht mehr sicher. Weder vor dem Killer noch vor Valerius Knight, der jeden Augenblick mit einem Haftbefehl aufkreuzen kann. Ich richte eine Fernverbindung ein, so daß wir von einem anderen Computerstandort aus weiterarbeiten können, und dann suchen wir uns ein Versteck.«
Sie griff nach der Ledertasche. »Ich nehme ein paar Sachen mit. Jonathan … du hast doch nicht wirklich Naomi verdächtigt?«
»O doch.« Er sah ihr gerade ins Gesicht. »Und ich tue es noch.«