17

Wir wurden auf eine Insel namens »Angel«, Engel, gebracht, aber dort herrschten Teufel. Ich erfuhr zum ersten Mal vom Ausschlußgesetz, einer unsichtbaren Mauer, die die Chinesen abwehren sollte. Aber ich hatte Glück. Mein Vater war Amerikaner. Noch vor einem Jahr hatten die Ehefrauen und Kinder in Amerika lebender Chinesen einreisen dürfen. Nun gab es ein neues Gesetz, das Einwanderungsgesetz von 1924, das selbst den Familien legal nach Amerika Eingewanderter keinen Zuzug mehr erlaubte. Die Frauen und Babys, die die lange Seereise mit mir gemacht hatten, wurden nach China zurückgeschickt, zurück zu Armut und Krankheit. Sie sahen ihre Ehemänner und Väter nie wieder. Eine junge Frau erhängte sich im Brautkleid, weil man den Mann, den sie liebte, einreisen ließ und sie abwies.

Die Baracken auf Angel Island waren aus rohem Holz errichtet. Durch die vergitterten Fenster konnten wir die Stadt San Francisco sehen. Wir blieben Tag und Nacht eingesperrt. Manche Frauen schrieben Gedichte voll von Qual an die Wände. Ich wußte nicht, warum man uns in ein Gefängnis steckte. Man hatte uns vom Schiff geholt und auf die Insel gebracht, wo wir nun warteten – unerwünschte Chinesinnen, die die richtigen Papiere hatten und sich nach der Stadt jenseits des Wassers sehnten.

Ich wartete zweiundvierzig Tage. Jeden Morgen verließen Frauen, mit denen ich mich angefreundet hatte, die Baracken. Manche kamen wieder und erzählten uns von ihrer Befragung. Andere kamen nicht wieder. Ich weiß nicht, ob sie in die Stadt gelangten oder ob man sie nach China zurückschickte. Als ich an der Reihe war, fragte man mich nur nach Namen, Adresse und Beruf meines Vaters. Weil meine Mutter das alles nicht wußte, hatte sie es mit Hilfe von Reverend Peterson erfunden.

Als die Gefängniswärter von Angel Island keinen Richard Smith finden konnten, der in der Powell Street wohnte und als Buchhalter arbeitete, erklärte ich, daß mein Vater Singapur vor sechzehn Jahren verlassen hätte und der Kontakt abgerissen wäre. Vielleicht ist er in New York, sagte ich, oder in New Hampshire oder New Orleans. Diese Namen wählte ich, weil das »neu« darin Glück verhieß. Am Ende ließen sie mich einreisen, weil meine Papiere vom US-Konsul in Singapur abgestempelt waren. Nicht einmal die Teufel von Angel Island konnten das außer acht lassen.

So setzte ich schließlich den Fuß in die Stadt, in der mein Vater wohnte, und ich schäme mich zu sagen, daß ich voller Freude war. Meine Mutter war tot, und ich war nicht bei ihr gewesen, um sie zu begraben und um sie zu trauern. Mit Reverend Peterson hatte ich vereinbart, daß er sich um sie kümmern würde, wenn sie starb. Ich ließ ihm eine Menge Geistergeld zurück, das er bei der Trauerfeier verbrennen konnte, und bat ihn, die besten Klageweiber der Stadt zu mieten. Obwohl meine Mutter lebte, als ich sie zum Abschied küßte und an Bord ging, sah ich die Wolken des Todes auf ihrem Gesicht.

Auf der Fahrt über den Pazifik hatte ich um sie getrauert, auf einem überfüllten Schiff, wo Frauen fieberhaft Angaben auswendig lernten, die sie bei der Befragung brauchen würden, und dann die Blätter über Bord warfen, bevor die Beamten sie sehen konnten. Ich suchte jeden Tag den Horizont ab und fragte mich, ob sie heute gestorben war, allein und ausgestoßen. Während das Schiff ostwärts segelte, schaute ich nach Westen und dachte an meine Mutter, an unser gemeinsames Leben, an alles, was sie mich gelehrt hatte. Doch als ich endlich amerikanischen Boden betrat, richtete ich den Blick nach Osten, meinem neuen Anfang entgegen.

Reverend Peterson hatte mir von Chinatown erzählt und mir gesagt, daß ich mir dort eine Unterkunft suchen sollte. »Bemüh dich nicht um ein Zimmer in einem anderen Viertel«, ermahnte er mich. »Sie vermieten nicht an Chinesen.«

Damals waren seine Worte für mich wie Federn im Wind. Amerika war das Land der Gleichheit. Ich konnte überall wohnen.

Trotzdem suchte ich mir ein Zimmer in Chinatown, denn ich wollte unter Menschen leben, die mir vertraut waren. Während ich mich umsah, dachte ich daran, daß mein ganzes bisheriges Leben eine Geschichte der Heimatlosigkeit gewesen war. Meine Mutter und ich waren ständig umgezogen, und sie hatte mir dabei von dem großen Haus in der Pfauengasse erzählt, in dem sie aufgewachsen war und wo Generationen unserer Familie geboren worden waren, gelebt hatten und starben. Ich wünschte mir sehnsüchtig, in einem solchen Haus zu wohnen. Wenn ich meinen Vater fand, dachte ich, würde er mich vielleicht einladen, zu ihm zu ziehen. Ich stellte mir eine große Villa auf einem der Hügel von San Francisco vor, von der aus man das Wasser und den Himmel sehen konnte. Dort würde ich den Rest meines Daseins verbringen.

Ich erfuhr, daß vor achtzehn Jahren ganz Chinatown nach einem großen Erdbeben abgebrannt war. Jemand, dessen Vorstellungen von chinesischer Architektur alles andere als chinesisch waren, hatte es wieder aufgebaut. Die Bewohner allerdings waren echte Chinesen. In diesen wenigen Straßenzügen drängten sich Menschen aus Kanton und Peking und aus sämtlichen Provinzen, und ihre vielen verschiedenen Dialekte wehten im Wind wie Neujahrsbänder. Ich bekam große Augen beim Anblick der Läden, in denen gegrillte Enten im Fenster hingen und reichgefüllte Körbe mit Zwiebeln, Auberginen und Orangen die Käufer anlockten. Für die Hungrigen gab es Teehäuser und Straßenküchen, die Sesamkuchen, gedämpfte Klöße und Hühnerbrötchen anboten. Ich roch bekannte Gerüche, sah eine vertraute Umgebung, hörte heimatliche Laute. Ich hatte angenommen, Amerika sei ein seltsamer und fremder Ort, an dem ich großes Heimweh haben würde. Aber auf den Bürgersteigen kamen mir Menschen entgegen, die mein Lächeln lächelten und mich mit meinen Augen ansahen. Wir kamen aus ganz Asien, wir »Himmlischen«, wie die Amerikaner uns nannten – manche bezeichneten uns auch als »Gelbe Gefahr« –, aber wir waren eine einzige, große Familie, die Kultur, Götter und Nudeln miteinander teilte.

Ich wußte, hier würde ich glücklich sein.

Während ich mit meinem Koffer, einem Geschenk von Reverend Peterson, und dem schwarzlackierten Arzneikasten meiner Mutter durch die Straßen wanderte, sah ich mich nach den »Zu vermieten«-Schildern um. Sie waren chinesisch geschrieben und hingen in den Schaufenstern der Glücklichen Wäscherei, des Yin-Fei Teehauses und der Ping Huang Handelsgesellschaft. Aber die Straßen hießen Grant, Stockton und Jackson. Ich fand ein Haus ein der Grant Street. Nummer acht-neun. Eine glückbringende Adresse.

Die Vermieterin hieß Mrs. Po und war die Besitzerin der Glücklichen Wäscherei. Sie hatte einen goldenen Vorderzahn und sprach einen chinesischen Dialekt, den ich nicht kannte. Darum fragte sie mich auf englisch: »Du ganz allein? Keine Familie?«

Ich zeigte ihr meine Papiere. Sie musterte mich scharf. »Sehen jünger aus als achtzehn.« Sie schüttelte den Kopf. »Mädchen ganz allein nicht gut. Männer kommen her, geben meinem Haus schlechten Namen.«

Aber ich wollte hier wohnen. Sie hatte mir gesagt, die Wohnung liege nach vorn heraus, im zweiten Stock, und ich sah, wie das Licht der Morgensonne ins offene Fenster fiel. Gut für das chi. Und die Eingangstür war rot gestrichen, um Unglück fernzuhalten. Also bot ich ihr die doppelte Miete, und sie wurde sehr freundlich, trug meinen Koffer und sagte, was ich doch für ein anständiges Mädchen sei. Trotzdem ermahnte sie mich, als wir die Wohnung betraten, noch einmal: »Keine Männer! Viele Huren in Chinatown, aber nicht in meinem Haus.«

Sobald ich eingezogen war, änderte ich die Nummer an der Tür in eine Acht, bis ich merkte, daß drei andere Mieter das gleiche getan hatten. Da wir aber nicht alle in Nummer acht wohnen konnten, machte ich eine Zwei daraus, weil die Zahl Zwei Überfluß bedeutet.

Es war eine hübsche Wohnung mit einer winzigen Küche und einem ebenso winzigen Badezimmer. Mir genügte sie, und bald richtete ich sie mir mit neuen Vorhängen und einem neuen Teppich ein. Ich stellte Pflanzen und ein Aquarium auf, weil Wasser Wohlstand bringt, und kaufte mir zur Gesellschaft einen Engelfisch. Das Bett schob ich vom Fenster weg, damit nicht alle meine Hoffnungen in die darunterliegende Gasse flossen. Ich richtete das Kopfende nach Osten, von wo das Glück kommt, und das Fußende nach Westen, damit ich mein Schicksal nicht verpaßte. Ich erwarb eine Lampe und stellte sie auf die linke Seite des Bettes, so daß die linken Kammern meines Herzens morgens die erste Wärme empfingen. Und ich setzte einen Topf mit Wasser unter das Bett, um schlechte Träume zu ertränken.

In der Küche, wo ich meine Tage damit verbringen wollte, meine Mahlzeiten zu kochen, um dann später an den Abenden meine Kräuterarzneien zuzubereiten, reinigte ich erst einmal den kleinen Gasofen, weil verstopfte Brenner das Familieneinkommen blockieren. Als ich sah, daß der Ofen unmittelbar neben dem Spülbecken stand, so daß zwei widerstreitende Elemente sich berührten – Feuer, also Yang, und Wasser, also Yin –, beseitigte ich das Problem, indem ich ein hölzernes Küchenbrett dazwischenschob. Dann erstand ich zwei Ih-Hsing-Teekannen, eine für den Morgentee, »für Glück«, und eine für den Abendtee, »für gute Träume«. Zuletzt hängte ich ein Windspiel aus Kristall ans offene Fenster, damit das gute chi in Bewegung blieb.

Verglichen mit unserer bescheidenen Behausung über dem Bordell in der Malay-Straße war es ein Palast. Ich hatte ihn gemietet, um meinen Vater zu ehren, wenn ich ihn hierher führte.

Ich verkaufte einen meiner Smaragde und kaufte dafür schöne neue Kleider – einen handbestickten Cheongsam aus taiwanesischer Seide – und modische Schuhe mit passenden Lederhandtaschen. Ich wollte so gut aussehen, wie nur möglich, wenn ich meinem Vater gegenübertrat.

Und dann begab ich mich auf die Suche.


Es war sein Ring, der mich zu ihm leiten würde, denn wie sonst sollte ich ihn in einer so großen Stadt finden?

Der Ring war zweifellos ein Einzelstück. Die verschlungenen Initialen »RB« stammten von Künstlerhand. Also wollte ich mich bei den Juwelieren erkundigen, ob sich jemand daran erinnerte, einen so einzigartigen Ring angefertigt zu haben.

Auf dem Schiff hatte ich gelernt, meinen wertvollsten Besitz ständig am Körper zu tragen. So trug ich auch den Ring meines Vaters an einer langen Kette um den Hals und versteckte ihn unter meinem Kleid. Bei einem Juwelier nach dem anderen zog ich sittsam die Kette aus dem Ausschnitt und zeigte den Ring, gab ihn aber niemals aus der Hand.

Zuerst erkundigte ich mich in Chinatown und lernte dabei gleichzeitig meine neuen Nachbarn kennen. Bei den Ladenbesitzern war ich bereits beliebt, weil ich nie um die Preise feilschte, immer die beste Qualität kaufte und nie das Wechselgeld zählte, das sie mir herausgaben. »Sehr nettes Mädchen«, erzählte Mrs. Po den Nachbarn. »Aus Singapur. Schwerreiche Familie. Ich habe nur die vornehmsten Mieter in meinem Haus.«

Weil die Juweliere in und um Chinatown den Ring nicht erkannten, dehnte ich meine Suche aus. Ich fuhr Cable Car, bis mir schwindlig wurde, und merkte, daß die Leute mich anstarrten, als hätten sie noch nie eine Chinesin gesehen. Als ich in einem Restaurant zu Mittag essen wollte, gab man mir keinen Tisch, obwohl viele leer standen, und ich begann Reverend Petersons Ermahnung zu verstehen, immer schön in Chinatown zu bleiben.

Je mehr ich mich aus meiner eigenen Welt entfernte, desto feindseliger wurde die andere.

Überall, wohin ich kam, sagten Polizisten: »Geh weg.« Oder sie hielten mich an und stellten mir Fragen, verlangten meine Papiere, fragten, ob ich eine Prostituierte wäre. Ich lernte, was Rassenhaß bedeutet. Ich lernte, daß Chinesen die einzigen waren, die nicht in die Vereinigten Staaten von Amerika einreisen durften. Ich lernte, daß es Gesetze gab, in denen stand »KEINE CHINESEN MEHR«. Wir durften kein Land besitzen, keine Weißen heiraten, keine weißen Krankenhäuser betreten. Wagte sich ein Chinese in ein weißes Viertel und wurde dort zusammengeschlagen und ausgeraubt, sagte die Polizei nur: »Was wollten Sie auch dort.« Aber ich war Amerikanerin. Doch wenn ich das zu erklären versuchte, musterten sie mich nur von oben bis unten, und wenn sie den Cheongsam an mir sahen, wußte ich, daß sie jetzt an die durchtriebenen Chinesinnen aus den amerikanischen Filmen dachten.

Aber ich gab nicht auf. Der Ring war die einzige Verbindung zu meinem Vater. Ich kannte weder seinen Nachnamen, noch seinen Beruf, noch die Anschrift seiner Familie. Der Ring würde mich zu ihm führen, und um den Ring zu identifizieren, mußte ich mich in eine Stadt hinauswagen, in der ich unerwünscht war.

Endlich, nach Tagen voller Mißerfolge, mit schmerzenden Füßen voller Blasen vom vielen Herumlaufen, niedergeschlagen und mit nagendem Hunger, beobachtet von allen Polizisten, hatte ich Glück. Ich betrat den Laden von Sadler & Sons in der Market Street – weit entfernt von meiner Wohnung – und erkannte sofort das Aufflackern der Erinnerung in den Augen des Juweliers, als er den Ring sah.

»Lassen Sie mich das genauer ansehen«, meinte er und griff danach.

Ich trat zurück. »Bitte … ich muß wissen, was diese Buchstaben bedeuten.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er und wich meinem Blick aus. »Aber ich würde den Ring gern einigen meiner Kollegen zeigen.«

Ich erklärte ihm, ich würde wiederkommen, und begriff voller Erregung, daß er vielleicht sogar meinen Vater benachrichtigen, daß ich ihm hier in diesem Laden begegnen würde.

Am nächsten Tag erschien ich in meinem schönsten Kleid aus lavendelfarbener Seide, das lange schwarze Haar aufgesteckt und mit kostbaren Elfenbeinkämmen befestigt. Mein Herz eilte meiner Hoffnung voraus, aber ich näherte mich dem Laden mit großer Vorsicht.

Wie sollte ich meinen Vater begrüßen? Wie ihn anreden? Würde er mich freudig aufnehmen und rufen, wie ähnlich ich meiner Mutter sähe? Plötzlich überfielen mich Zweifel. Er war nie nach Singapur zurückgekehrt. Hatte er die Frau vergessen, die ihm das Leben gerettet hatte? War seine Erinnerung an Singapur verdrängt worden, als die alten Erinnerungen wiederkamen? Würde er mich anschauen und fragen: »Wer sind Sie?«

Bevor ich den Laden betrat, spähte ich durch das große Fenster, um zu sehen, ob mein Vater gekommen war. Statt seiner bemerkte ich jedoch einen gutaussehenden, jungen Mann, begleitet von einem jungen Mädchen etwa meines Alters, mit gelbem Haar und weißer Haut. Aber es war der junge Mann, ein paar Jahre älter als ich, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Er lehnte lässig an der Theke und unterhielt sich lachend mit dem Juwelier. Durch die offene Tür hörte ich seine klangvolle Stimme und sah das eindrucksvolle Profil, das einem Filmstar gehören konnte. Und als er sich plötzlich umdrehte, als hätte er meinen Blick gespürt, begegneten sich unsere Augen.

Von diesem Moment an änderte sich mein Leben für immer.

Ich hatte in Theaterstücken und Filmen gesehen, wie Held und Heldin sich auf den ersten Blick verlieben, und hatte sich nicht auch meine Mutter sofort in meinen Vater verliebt? Dennoch hatte ich das bis zu dieser Sekunde nicht wirklich verstanden – bis ich durch das Schaufenster spähte und die funkelnden grauen Augen des gutaussehenden jungen Mannes an der Theke mich in ihren Bann schlugen.

Ich nahm allen Mut zusammen, schluckte und trat ein. Hoffentlich hatte der Juwelier Neuigkeiten für mich.

Die Augen des jungen Mannes, dessen Lächeln auf seinem Gesicht erstarrt zu sein schien, ließen mich nicht los. Ich wollte wegschauen, brachte es aber nicht fertig. Zögernd blieb ich an der Tür stehen und fühlte, wie mich ein Zauber umgab. Ich glaube, der Laden war voller Silber und Gold, Glanz und Glitter, mit schimmernden Schaukästen und Kristallampen. Aber ich sah nur zwei durchdringende Augen von der Farbe des Morgennebels und ein Lächeln, das mir das Gefühl gab, es wolle mehr sagen.

»Das ist sie! Das ist die Diebin!«

Ich starrte auf den Juwelier. Er zeigte auf mich. Plötzlich tauchte aus dem Hinterzimmer ein Polizist auf. Als ich gerade wegrennen wollte, hörte ich den gutaussehenden jungen Mann sagen: »Warten Sie! Wir wollen erst mit ihr sprechen. Vielleicht hat sie den Ring meines Vaters nur gefunden.«

»Es sind alles Diebe, Mr. Barclay!« schrie der Juwelier. »Das ganze Pack!«

Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, eine Straße hinunter, eine Gasse hinauf, die nächste hinunter, die übernächste wieder hinauf. Ich sprang auf eine Cable Car auf und von der nächsten ab, bis ich endlich in Sicherheit war, unter Leuten, die ich kannte, Leuten in gefütterten blauen Jacken und schwarzen Seidenhosen, die an die Wand gekleisterte, chinesische Zeitungen lasen, eine Ente zum Abendessen aussuchten oder über das Gewicht einer Melone stritten. Ich war zu Hause bei meinen eigenen Leuten, der Polizist war mir nicht gefolgt.

In meinem Kopf überschlugen sich wirre Gedanken. Der Juwelier hatte den jungen Mann »Mr. Barclay« genannt. »Der Ring Ihres Vaters.« Das hieß, daß er mein Halbbruder war. Ich hatte schon gewußt, daß mein Vater eine Erste Gemahlin hatte, weil es in dem Brief stand, den er meiner Mutter hinterlassen hatte – dem Brief, der nur mit »Richard« unterschrieben war und das Versprechen seiner Rückkehr enthielt.

Warum war er nie gekommen? Hatte seine Erste Gemahlin ihn davon überzeugt, daß er seine chinesische Konkubine vergessen mußte?

Mit schwerem Herzen stieg ich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Wie sollte ich meinen Vater finden, wenn an jeder Ecke ein Polizist lauerte?

Als ich die offene Wohnungstür sah, dachte ich, Mrs. Po sei zu Besuch gekommen. Dann sah ich die Verwüstung.

Ein Einbrecher war da gewesen.

Der schwarzlackierte Arzneikasten meiner Mutter war fort. Die Matratze auf dem Bett war aufgeschlitzt, die amerikanischen Dollars, die ich in der Füllung versteckt hatte, waren verschwunden. Mein Aquarium lag in Scherben, der Engelfisch tot dazwischen. Das war das Schlimmste, das zerbrochene Fischglas und der feine weiße Sand überall auf dem Boden.

Meine Augen wanderten zu der bescheidenen Kwan-Yin-Figur, von der meine Mutter gesagt hatte, kein Dieb würde sie stehlen. Es stimmte. Aber weil ich gedacht hatte, Kwan Yin habe die Last der Smaragde meiner Mutter schon allzu viele Jahre getragen, hatte ich ihr Ruhe gegönnt, indem ich die Steine aus ihrem Körper entfernt und anderswo versteckt hatte. Und gab es ein besseres Versteck als den Sand in einem Aquarium?

Am liebsten hätte ich um das Verlorene geweint. Aber dann dachte ich an die Ironie des Schicksals – daß man mir auf der einen Seite alles gestohlen, auf der anderen aber zwei Geschenke gemacht hatte, Geschenke, die mir niemand rauben konnte.

Das erste war der Name meines Vaters: Barclay. Nun konnte ich ihn finden.

Das zweite war eine taufrische Liebe, wenn auch von der falschen Art. Denn der schöne junge Mann, in den ich mich soeben verliebt hatte, war mein Bruder.

Das Haus der Harmonie: Roman
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