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Als erstes merkte sie, daß ihr schlecht war, und dann, daß ihr Schädel brummte.
Während sie mühsam wieder zu sich kam, versuchte sie die Scherben ihrer Erinnerung zusammenzusetzen.
Wo war sie? Warum fühlte sie sich so elend? Und warum konnte sie sich nicht bewegen?
Allmählich wich das taube Gefühl – sie spürte etwas Hartes im Rücken, grelle Lichter über dem Kopf, Schmerzen in den Handgelenken. Sie schlug die Augen auf und erkannte die riesige Decke der Fabrikhalle mit ihren Laufstegen, Strahlern und Rohrleitungen. Sie begriff, daß sie auf dem Rücken lag, die Arme über den Kopf gestreckt und irgendwo festgebunden. Eine scharfe Metallkante schnitt in ihren Rücken, als hinge sie von einem Stahltisch herunter. Gesäß und Beine baumelten frei. Sie fühlte keinen Boden unter den Füßen.
Sie rollte den Kopf nach links und bemerkte eine Metalltafel mit Drähten und Kabeln. Dann schaute sie nach rechts.
Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Augen wieder klar wurden, dann aber erkannte sie mit wachsendem Grauen, wo sie sich befand.
Man hatte sie mit Handschellen an das computerisierte Meß- und Dosierungssystem für Ampullen gefesselt – die Anlage, die Flüssigkeiten in Ampullen spritzte und sie dann verschloß und versandfertig machte. Vor wenigen Stunden erst hatte sie sie Jonathan voller Stolz vorgeführt.
Jetzt lag sie nur wenige Fuß von dem Roboterarm entfernt, mit dem Oberkörper auf dem Band voller leerer, offener, sorgsam aufgereihter Ampullen, die darauf warteten, gefüllt und versiegelt zu werden.
Warum war sie hier? Wer hatte sie überfallen?
Auf einmal hörte sie ein Geräusch. Sie erschrak. Ein Motor war angesprungen. Sie rollte den Kopf wieder nach rechts und sah, wie der Roboterarm der Anlage lebendig wurde und sich in Bewegung setzte.
Verwirrt beobachtete sie, wie das System seine Arbeit aufnahm. Die Nadeln schossen in die Ampullen und spritzten sie voll Flüssigkeit. Sofort roch sie das Rosenöl. Dann wanderte der Arm weiter, die Nadeln gingen nach oben, und drei Flammen loderten herunter und erhitzten die Ampullenspitzen. Sekunden später erloschen die Flammen, und drei grausame Zangen sausten nieder, preßten das geschmolzene Glas zusammen, schnitten die Spitze ab und versiegelten es.
Der Arm schob sich nach links.
Er kam auf sie zu.
Jetzt erst verstand Charlotte ihre Situation und die Absicht ihres Peinigers. Sie war mit den Händen an etwas gefesselt, das sich wie ein Metallpfosten anfühlte. Ihr Unterkörper schwang so über dem Boden, daß ihre Füße ihn nicht berührten. Dadurch konnte sie sich weder befreien noch überhaupt bewegen. Das Gewicht ihres Körpers drückte sie quer auf das Band, genau in die Bahn des sich nähernden Greifarms.
Drei Nadeln, drei Flammen, drei Zangen.
Ihr Kopf lag so, daß sie nicht ausweichen konnte.
»Hilfe!« sagte sie und etwas lauter wieder, »Hilfe!«
Der Motor lief so leise, daß sie das Echo ihrer Stimme hören konnte, aber die Fabrikhalle war besonders gut isoliert, damit die Maschinen und Bänder das friedliche Palm Springs nicht störten.
Niemand würde merken, daß die Ampullenanlage in Betrieb war, und niemand würde Charlottes Hilferufe hören.
Sie rief trotzdem. »Hilfe! O Gott, Hilfe!«
Drei Nadeln. In Ampullen gespritztes Rosenöl. Heiße Flammen, die das Glas schmolzen. Scharfe, schwere Zangen – zwick, schnapp …
Der Roboterarm schwenkte nach links.
Nein, dachte sie, das darf einfach nicht sein.
Fieberhaft mühte sie sich, ihre Hände zu befreien. Aber sie fand nirgends Halt, baumelte schlaff wie eine Lumpenpuppe. Wenn sie nur die Füße auf den Boden bekäme!
Aber als sie die Beine zu strecken versuchte, schnitt ihr die scharfe Kante des Fließbandes so tief ins Rückgrat, daß sie meinte, es müsse brechen. Das einzige, was sie bewegen konnte, war ihr Kopf, aber auch den nur von einer Seite zur anderen. Sie hatte die Wahl: entweder den Blick abwenden oder zuschauen, wie die Nadeln langsam und unaufhaltsam auf sie zukamen.
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen sah sie die Nadeln erneut nach unten schießen, mit furchtbarer Entschlossenheit, wie ihr jetzt schien. Hatten sie immer etwas so Tödliches gehabt? Wenn sie sonst ihrer neuen Errungenschaft stolz bei der Arbeit zugesehen hatte, dann hatte Charlotte über soviel Tüchtigkeit gestrahlt, begeistert, daß damit in nur einer Stunde Hunderte von Ampullen mit kostbarem Rosenöl hergestellt werden konnten, die dann in die ganze Welt geliefert wurden.
Nun sah sie drei scharfe Speere herabsausen, die eine süßduftende Flüssigkeit ausströmten und tödlich waren wie Giftspritzen, wie eine Szene aus einem Horrorfilm.
Ihnen folgten die Flammen, abwärts zischend wie die Nadeln. Sie versengten und verbrannten das zarte Glas, bis es leblos und gefügig in sich zusammensank.
Und schließlich die Zangen. Schnapp! Spuck! Hoch! Sie waren vielleicht sogar das Schrecklichste.
Und sie kamen direkt auf ihr Gesicht zu.
Zuerst würden sie sich in ihren Arm bohren, den nur der dünne Stoff der weißen Bluse schützte.
Wann hatte sie eigentlich ihre Kostümjacke ausgezogen? Gar nicht. Sie wollte zu Jonathan laufen und ihn vor der Bombe warnen, und ganz sicher hatte sie dabei die Jacke angehabt.
Hatte man sie ihr ausgezogen, um sie noch verwundbarer zu machen?
Jonathan. O Gott. Die Bombe. War sie schon explodiert? War er tot? Würde sie jetzt auch sterben? Waren all ihre Anstrengungen umsonst gewesen, wenn sie jetzt auf diese grausame, würdelose Art starb?
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Bitte, lieber Gott, laß Jonathan nicht tot sein.
Die Anlage rückte näher.
Drei weitere Ampullen wurden durchbohrt, gefüllt, geschmolzen und versiegelt.
Charlotte trat der Schweiß auf die Stirn. Sie kämpfte gegen die Handschellen, die die empfindliche Haut an ihren Gelenken aufrissen. Die Metallkante des Fließbandes schnitt ihr in den Rücken.
»Hilfe!« kreischte sie und hörte das spöttische Echo ihrer Stimme an der hohen Decke und den Wänden. »Hilfe!«
Noch sechs Ampullen.
Der Rosenduft war überwältigend, erregte Übelkeit. Sie konnte die Hitze der Flammen schon fast spüren. Sie hörte die Zangen zuschnappen.
Zuerst würden sich die Nadeln mit dem Rosenöl in ihren Arm bohren. Dann würden die Flammen herabzischen. Würde die Bluse Feuer fangen? Und schließlich die Zangen – würden sie nur den Stoff erfassen oder auch die Haut an der Unterseite des Arms finden?
»O mein Gott!«
Sie schluchzte jetzt hemmungslos und zappelte wie eine Wahnsinnige, um ihre Hände zu befreien. Ihre Beine traten sinnlos um sich.
Noch drei Ampullen.
Und wenn sie den Angriff auf ihren Arm überstand? Das nächste Ziel würden ihre Augen sein. Zuerst die Nadeln – nein, sie konnte es nicht überleben. Rosenöl, direkt ins Gehirn gespritzt. Würde sie lange genug bei Bewußtsein bleiben, um zu fühlen, wie ihr die Flammen die Augen versengten? Würde sie die Zangen noch spüren?
»Hilfe! Bitte, lieber Gott!«
Keine weiteren Ampullen mehr zwischen ihr und den Nadeln.
Voller Grauen beobachtete sie, wie die Anlage sich umschichtete, nach links ruckte und ihren Zyklus von neuem begann.
Die Nadeln würden mit einer solchen Wucht herunterkommen, daß sie den Knochen treffen mußten.
Aus dieser Nähe konnte sie sogar das Kleingedruckte an der Gehäusewand lesen: Hergestellt in den Vereinigten Staaten, Kansas City, Mo.
O mein Gott!
Sie hörte das feine Surren des empfindlichen Mechanismus tief im Innern der Maschine, altmodische Getriebe, Zapfen und Räder, die dem Befehl eines unpersönlichen Computercodes gehorchten, eines Roboters, der den Unterschied zwischen einer Glasampulle und menschlichem Fleisch nicht kannte.
Schweiß lief ihr in die Augen, als sie das letzte Klicken hörte, mit dem der neue Arbeitsgang einsetzte.
Zuerst die Nadeln …
Sie schloß die Augen ganz fest. Jonathan!
Sie machte sich bereit für den Schmerz.
Sie wartete.
Sie schlug die Augen auf. Die Anlage hatte sich nicht bewegt.
Dann merkte sie, daß es still war. Jemand hatte das Band abgeschaltet.
Gleich darauf spürte sie Hände an ihren Gelenken, die sie hochzogen und von dem Pfosten lösten. Arme umschlangen ihre Taille und hoben sie vom Fließband. Ihre Beine waren taub. Sie warf die gefesselten Hände über seinen Kopf und klammerte sich weinend an ihn.
Er rannte mit ihr fort, weg von dem Metallungeheuer, das sie zerstören wollte, hinaus aus der Fabrikhalle, in den Regen und in die Nacht.