12
Wieder im Museum, entrollte Charlotte rasch die aus ihrem Büro mitgebrachten Blaupausen und beschwerte die Ränder mit einem Locher und ein paar Kaffeebechern. Sie zitterte vor Wut. »Du hättest sie sehen sollen, Jonathan! Wie sie mich behandelt haben! Bei meiner Großmutter hätten sie nie gewagt, einfach in einer Konferenz aufzustehen.«
»Laß dich von solchen Leuten nicht ärgern, Liebes«, murmelte Jonathan, der damit beschäftigt war, den Plan der Anlage zu prüfen.
Er tippte auf eine Ecke der Zeichnung. »Hier ist es. Nicht gerade leicht zugänglich.«
Sie folgte seinem Blick. Es war ein kompliziertes Diagramm des Kommunikationsnetzes für das gesamte Unternehmen.
»Ich muß dort hinein«, erklärte er, »aber zuerst …« Er ging zum Schreibtisch, an dem er schon vorher seinen mitgebrachten Laptop angeschlossen hatte, und installierte mit geschickten Bewegungen ein kleines schwarzes Kästchen mit grüner Digitalanzeige. »Das ist der Empfänger für die Sender, die ich in euren Büros angebracht habe. Wenn ich ihn hiermit verbinde«, er zeigte auf den Überwachungsmonitor, »können wir jedes Gespräch abhören. Und das«, fügte er mit einem Lächeln hinzu und hielt ein kleineres Gerät hoch, aus dem ein Kabel heraushing, »ist mein Geschenk vom Weihnachtsmann. Agent Knight!« Triumphierend steckte er das Kabel in die Rückseite seines Laptops. »Schau!« Er deutete auf den Monitor. Man sah Valerius Knight, der sich an seinen Schreibtisch setzte und auf die Tastatur einhämmerte. Gleichzeitig hörte man in Jonathans Laptop das Tippen, und auf dem Bildschirm erschien eine Reihe von Buchstaben.
Charlottes Augen wurden groß.
Jonathan lächelte stolz. »Ein kleines Stück Software, von mir selbst erfunden. Ich habe einen Sender an Knights Laptop befestigt. Der Empfänger hier nimmt die Signale auf und leitet sie in meinen Computer, wo dann mein Programm die Anschläge in Buchstaben übersetzt.«
»Du hattest doch auch eine Kamera, Johnny. Was wolltest du damit?«
»Das wird dir Spaß machen.« Er setzte sich an den Computer ihrer Großmutter und nahm die handgroße Kamera aus der Gürteltasche. »Die Software dazu habe ich vorhin installiert.«
Er stöpselte die Kamera ein. Gleich darauf erschienen auf dem Bildschirm Schwarzweißaufnahmen einer nackten Blondine in verführerischen Posen.
»Was ist denn das?«
»Damit, Charlotte, war Desmond beschäftigt, als du deine Sitzung einberufen hast. Als ich die Wanzen anbrachte, habe ich alle aktiven Monitore aufgenommen. Wir können uns jetzt ansehen, was jeder an seinem Computer gemacht hat.«
Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Triumph und Belustigung. Charlotte mußte an einen jüngeren Johnny denken, der einmal voller Leidenschaft gesagt hatte: »Sie sind die verdammt besten Hacker auf der Welt, Charlie, und ich möchte einer von ihnen sein.«
Das war im Frühjahr 1980 gewesen, und er hatte damit das Institut für Computerwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology gemeint. Und während er fortfuhr, ein Loblied auf das MIT zu singen, hatte die dreiundzwanzigjährige Charlotte ihre Tasse mit dem kalten Kaffee festgehalten und den Regen vergessen, der vor dem Caféfenster auf die Straße in Boston strömte, weil sie nur noch einen Gedanken gehabt hatte: Er kommt zurück nach Amerika!
Vier Jahre zuvor, als sie beide gerade die High School abgeschlossen hatten, erfuhr sie von Johnny, daß ihn sein Vater nach Cambridge in England auf die Universität schicken wollte. Nach jahrelangen Versuchen, seinen Sohn in einen Amerikaner zu verwandeln, hatte Robert Sutherland auf einmal gewollt, daß Jonathan in England Mathematik studierte. »Er eröffnet in London ein neues Büro«, hatte Johnny verdrossen erklärt. »Ich will nicht dahin, aber ich glaube, er fühlt sich einsam.«
»Geh mit ihm, Johnny«, hatte sie gedrängt. Es waren die schmerzlichsten Worte gewesen, die sie ihm je gesagt hatte. »Wir können uns immer noch im Sommer sehen, so wie früher.« Also war er nach Cambridge gegangen, und obwohl sie sich schrieben und ab und zu telefonierten, hatten sie sich in den vier folgenden Jahren nur zweimal gesehen. Als sie den Brief bekam, in dem er sie bat, ihn in Boston zu treffen, hatte sie keine Ahnung, was er ihr mitteilen wollte. Sie hatte angenommen, er würde ein Aufbaustudium in England anschließen wollen.
Statt dessen hatte er erklärt: »Ich habe mich für das MIT entschieden.« Er würde auf demselben Erdteil wohnen wie sie und nicht mehr durch ein Meer von ihr getrennt sein.
Als sie ihm jetzt zusah, wie er schnell und energisch mit Apparaten, Drähten und Tastaturen hantierte, zuerst auf dem Computer ihrer Großmutter tippte, dann rasch auf seinen eigenen wechselte, kam die Erinnerung an das, was er ihr an jenem verregneten Tag im Jahr 1980 gesagt hatte, erneut in ihr auf und erfüllte das Büro ihrer Großmutter mit seiner jugendlichen Leidenschaft und Begeisterung.
»Die Hacker dort sind absolute Spitze, Charlie! Ich hab einen Typ kennengelernt, der behauptet, es gäbe kein System, in das er nicht hineinkäme.« Johnny hatte geredet und dazwischen von seinem Hamburger abgebissen, wobei er sich gelegentlich mit dem Handrücken das Kinn abwischte. »Sitzt der Kerl da in der Kneipe und quatscht so gelassen, als ob wir über Fußballergebnisse reden würden. Dann zählt er mir alle auf, die er geknackt hat: Teradyne, Fermilab, Union Carbide. Ich hab gesagt, leck mich am Arsch! Und er erzählt mir, er geht nach Ostberlin und verkauft einzelne Zugangskonten zu diesen Systemen, Paßwörter und Einlogg-Namen! Prahlt, er bekäme über hunderttausend Deutsche Mark für ein Paßwort und Logg-in für das Jet Propulsion Laboratorium in Pasadena!«
Charlotte hatte auf einmal Angst bekommen. »Johnny – du machst doch nicht auch so etwas?«
»Keine Sorge, Liebes.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas. »Kann ich mir nicht leisten, oder?«
Charlotte wußte von den beiden letzten Ereignissen, bei denen er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Einmal war er am University College von London in das System gestolpert und hatte durch Zufall einen Zugang gefunden, der erstaunlicherweise zu einer geheimen amerikanischen Militärdatenbank im Anniston Army Depot geführt hatte. Johnny hatte es hinbekommen, daß man ihn für unschuldig erklärte. Der gute Name seines Vaters hatte geholfen. Das zweite Mal hatte man ihn verhaftet, weil er in das private E-Mail-Netz der rivalisierenden Schule in Oxford eingedrungen war. Dort hatte er sich einen besonders unbeliebten Professor herausgesucht, dessen ausgehende Computerpost abgefangen, den Text verändert und sie umadressiert. Die gefälschten Briefe waren an Amnesty International gegangen und hatten großzügige Spenden angeboten. Als die dankbaren Vertreter der Organisation bei ihm erschienen, um das Geld abzuholen, war der erschrockene Professor so peinlich berührt gewesen, daß er es ihnen gegeben hatte. Danach hatte er sich geschämt, weil man ihn erst in Verlegenheit bringen mußte, damit er für einen wohltätigen Zweck spendete, und so schließlich auf die Weiterverfolgung der ganzen Angelegenheit verzichtet.
Charlotte hatte sich damals gefragt, ob Jonathan es wirklich schaffen würde, am MIT nichts mehr anzustellen. Er konnte einfach nicht anders. Wenn er einen Computer fand und ein System, das angeblich nicht zu knacken war, mußte Jonathan mit Zähnen und Klauen darauf losgehen, bis er doch hineinkam.
Wegen der Ereignisse, die dann kamen, hatte Charlotte sich stets angestrengt, die Erinnerung an diesen Tag zu unterdrücken. Jetzt genoß sie die Erinnerung. Dabei fiel ihr etwas ein, das sie wirklich vergessen hatte … der Bundesagent an dem anderen Tisch im Café.
»Johnny«, hatte sie geflüstert und sich dicht zu ihm hinübergebeugt. »Ich weiß, daß ich es mir nur einbilde, aber ich könnte schwören, der Mann dort belauscht uns.«
Er hatte sich umgedreht und dem Mann freundlich zugewinkt.
»Keine Einbildung, Schätzchen. Er ist vom FBI. Sie glauben, ich stehle Regierungsgeheimnisse.«
»Was!«
»Keine Sorge, Liebes. Meine Art zu Stehlen tut keinem weh. Wenn überhaupt, erweise ich ihnen damit sogar einen Gefallen.« Seine braunen Augen funkelten vor Vergnügen. »Das elektronische Universum wächst, Charlie, und es ist voll gähnender Löcher. Die Streiche, die ich ihnen spiele, machen diese Blödmänner auf die Schwachstellen ihrer Netze aufmerksam. Eigentlich sollten sie mir dankbar sein.« Er lachte und fuhr mit dem Rest seines Hamburgers über den Teller. »Ein Russe war schon bei mir und hat mir ungeheure Summen für amerikanische Software geboten. Ich hab den Bastard hochkant rausgeschmissen.«
Dann hatte er sie angesehen, und sie hatte gemerkt, wie zwei elektrische Blitze bis in ihren Hinterkopf geschossen waren. »Aber hauptsächlich«, hatte er ruhig gesagt, »habe ich mich für das MIT entschieden, weil ich näher bei dir sein wollte.«
Es war ebenjener Tag gewesen, das wurde Charlotte jetzt bewußt. Sie hatten in dem verräucherten Café gesessen, nur durch einen zerkratzten Tisch getrennt, und es war der schönste Tag gewesen, den sie und Johnny jemals zusammen verbracht hatten. Schöner noch als jene Herbst- und Frühlingstage in San Francisco, die Nächte, in denen sie sich geliebt hatten, schöner als sie alle zusammengenommen, war dieser Tag, dieser eine Augenblick, in dem Johnny endlich sein Herz geöffnet und ihr seine Gefühle gezeigt hatte, der Höhepunkt ihrer Beziehung gewesen. Denn danach fiel alles auseinander und konnte, wie Humpty Dumpty, das geplatzte Ei, nicht mehr zusammengesetzt werden.
»So, das war’s«, sagte Jonathan jetzt, erhob sich unvermittelt vom Computer und begann seine Weste aufzuknöpfen. »Ich habe euer Sicherheitssystem geprüft – es ist ausgezeichnet. Euer internes Telefonnetz hängt nicht am Computernetz, und ihr macht keinen Gebrauch von den Standardsicherungsanweisungen, die zur Software gehören. Es gibt auch keinen beliebigen Zugang vom Netz zu sensiblen Informationen, nicht einmal vom Anschluß deiner Großmutter. Wer immer euer Sicherheitssystem installiert hat, leistete erstklassige Arbeit. Ich hätte es selbst nicht besser gekonnt.«
Er faltete seine Weste sorgfältig über die Stuhllehne, an der bereits seine Jacke hing. Dann griff er in seine schwarze Werkzeugtasche und holte eine schwarze Nylonkugel heraus, die sich, als er sie schüttelte, als Anorak entpuppte. »Ich habe auch die E-Mail-Protokolle aller Mitarbeiter überprüft. Die Botschaften unseres Erpressers kommen nicht aus dem Haus, es sei denn, über ein verstecktes Modem. Außerdem habe ich die Rezepturen in der Datenbank mit den Sicherheitsaufzeichnungen verglichen – alles scheint normal, nichts verändert. Wenn also die Manipulation hier im Werk vorgenommen wurde, dann bei einem anderen Schritt in der Bearbeitung.«
Charlotte sah zu, wie er in den schwarzen Anorak schlüpfte. Eine Million Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie wollte wissen, was er an jedem einzelnen Tag der letzten zehn Jahre getan hatte – was hatte er zum Frühstück gegessen, was für Filme gesehen, aß er immer noch gerne Scones mit Marmelade? Aber wie konnte sie fragen? Wo sollte sie überhaupt anfangen? »Wo willst du hin?« sagte sie endlich.
»Ich muß auf eurem Kommunikationsfeld einen elektromagnetischen Pulsmonitor anbringen.« Er griff in die Werkzeugtasche und nahm Handschuhe, Taschenlampe und Seitenschneider heraus. »Man schließt ihn an einen Stromkreis an, wo er dann die unterschiedlichen Arten ausgehender Signale aufnimmt – in diesem Fall Tastenanschläge innerhalb einer bestimmten Bandbreite. Wenn also jemand heimlich das Internet benutzt, erfahren wir es.«
Er lächelte sie zuversichtlich an, aber seine Augen blieben ernst, und Charlotte überlegte, ob auch sein Kopf voller Fragen steckte.
»Sieht aus, als würdest du überall Fallen stellen«, sagte sie.
»Als nächstes kommt der Käse und die Schachtel auf dem Zweig«, antwortete er und zwinkerte ihr zu. »Verschließ die Tür hinter mir …«
Der Computerton meldete einen Posteingang.
»Eine Frage, Charlotte: in den Abendnachrichten wurde nicht erwähnt, wie viele Kapseln Wonne das Opfer eingenommen hat. Aber es waren mehr als zwei, nicht wahr, Charlotte? Denn von zweien wäre ihr lediglich übel geworden.
Sie mußte drei oder mehr schlucken, damit die Dosis tödlich wirkte. Habe ich recht?«
Jonathan sah sie an. »Stimmt das?«
»Agent Knight sagt, in der Packung fehlten vier Kapseln.«
»Wie hoch ist die empfohlene Dosis für Wonne?«
»Zwei Kapseln.«
»Also wollte er nur, daß ihr schlecht wurde?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Weil es für Naturheilmittel keine bundesgesetzlichen Vorschriften gibt, glauben viele Leute, es könnte nicht schaden, die Menge zu verdoppeln oder zu verdreifachen, um eine noch bessere Wirkung zu erzielen.«
Jonathans Miene verfinsterte sich. »Unser Freund weiß das und hat darauf gezählt, daß jemand genau das tun würde. Also wurde die Getötete nicht gezielt ausgesucht, sondern war ein Zufallsopfer. Und wie ich schon vermutete, ist er in Wirklichkeit hinter dir her.« Er verstummte und schaute sie aus schwermütigen Augen an. »Charlotte, ich wünschte, du würdest meinem Rat folgen und dir irgendwo einen sicheren …«
»Wenn wir nur wüßten, wie er die Sachen vergiftet hat!«
Er warf ihr einen Blick zu, der zugleich Ärger und Stolz verriet. Es war ihm klar, daß sie sich nicht verstecken würde. »Das wäre dann der nächste Schritt. Wenn ich zurückkomme, möchte ich, daß du mir die Labors und die Fabrikationsanlagen zeigst.«
»Wozu?«
»Das sage ich dir, wenn ich wieder hier bin.«
»Okay. Ich werde sehen, wann Schichtwechsel ist, damit wir die kurze Pause ausnützen können und keiner dich sieht. Wie ich Margo kenne, verschwindet sie jetzt sofort in ihrem Büro und ihrem privaten Badezimmer, um zu duschen und sich komplett neu zu frisieren und zu schminken, bevor sie noch mehr Leuten gegenübertritt. Außerdem hat sie ihrer Sekretärin gesagt, sie sollte bei Aphrodite anrufen und eine Masseurin bestellen. Bei Adrian können wir sicher sein, daß er auf fünf Apparaten gleichzeitig telefoniert, so daß Desmond den ganzen anderen Ärger am Hals hat. Das gibt uns die Chance, die wir brauchen, um dich in die Labors zu schmuggeln.«
»Inzwischen«, fuhr Jonathan fort und hakte sich Rollen von rotem und blauem Draht an den Gürtel, »solltest du versuchen, den gemeinsamen Nenner der drei Produkte herauszufinden, die vergiftet wurden. Es könnte eine Chemikalie sein, oder der Abpacktag, oder vielleicht der Transport im selben Lastwagen. Gibt es darüber Aufzeichnungen in eurer Datenbank?«
»Alles, was bei Harmony Biotec geschieht, kommt ins Computersystem.«
»Weiß man schon, woran genau diese Frauen gestorben sind?«
»Agent Knight wollte mich informieren, sobald die Analyse vorläge. Ich glaube allerdings nicht, daß wir mit einem schnellen Bericht von ihm rechnen können.«
»Ihr habt keine Proben der entsprechenden Produktionsgruppen?«
»Das FDA hat alles mitgenommen, bis zur letzten Flasche und Packung. Ich habe sogar versucht, in einem Gesundheitsladen noch etwas aufzutreiben, aber es war vergeblich. Wir liefern überall in die USA … und weltweit.«
»Ich weiß.« Jonathan erinnerte sich schmerzhaft an einen Vorfall vor zwei Jahren, als er sich zu einer Sicherheitsberatung in Paris aufgehalten hatte. Er hatte gewußt, daß Harmony-Produkte auf der ganzen Welt verkauft wurden, daß es sogar einen Katalog gab und eine Kette kleiner, vornehmer Geschäfte unterhalten wurde. Aber er hatte nicht gedacht, daß es so ein Schock sein würde, an der Ecke Rue d’Odéon und Boulevard St. Germain einen kleinen Laden zu sehen, auf dessen Schild »Parapharmacie et Herboristerie« stand und in dessen Schaufenster die Kräuterprodukte von Harmony ausgestellt waren.
»Gut«, sagte er und wandte sich zur Tür. »Uns bleiben weniger als elf Stunden.«
Er stockte, drehte sich wieder um, kam näher, um für einen Moment in ihren klaren, grünen Augen zu baden. Er sah, wie ihre Pupillen sich weiteten und der Atem in ihrer Kehle stockte, und wußte, daß das alte Verlangen noch da war, denn es war auch sein Verlangen. »Charlotte«, begann er in plötzlicher Leidenschaft, »es tut mir leid, daß ich auf diese Weise zurückkommen mußte. Es tut mir leid, daß es einer Tragödie bedurfte, damit wir uns wiedertrafen. Aber bei Gott, ich bin froh, daß ich hier bin, und ich schwöre dir bei allem, was mir lieb und wert ist, daß ich bei dir bleibe, bis dieser Alptraum vorbei ist.«
Ihre Lippen öffneten sich leicht. Vor vielen Jahren, als sie noch sehr jung gewesen waren, hatte er sich immer ausgemalt, wie es sein würde, Charlotte zu küssen. Es hatte Gelegenheiten gegeben und sogar Momente, in denen er gedacht hatte, sie lade seinen Mund dazu ein, wenn sie einander im Golden-Gate-Park gejagt hatten und er sie fing, und sie sich dann zu ihm umdrehte und zu ihm aufschaute, und ihr Mund sich ihm anbot wie eine exotische Frucht. Doch mit fünfzehn hatte Jonathan nicht den Mut gehabt, diesen Schritt zu wagen. Aber ein Jahr später hatte er es getan, als sie ihn umarmt hatte, weil er weinte, und er ihren weichen Körper an seinem und ihren warmen Atem auf seiner Wange gespürt hatte, während sie flüsterte: »Wein nicht, Johnny, es wird alles wieder gut.«
Plötzlich erschüttert von dem unerwarteten Aufwallen seiner Begierde, trat er zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen, um den Bann zu brechen. »Es dauert nicht lange«, sagte er und war schon fort.
Sie sah ihm nach. Die Tür fiel ins Schloß. Einen langen Augenblick stand sie da wie verzaubert.
Vor weniger als zwei Stunden hatte sie sich in einer Welt, die auseinanderbrach, gänzlich allein gefühlt. Nun war Johnny hier. Er hatte nicht gefragt. Er war einfach gekommen.
Um sie herum war die Stille des Museums, das Echo einer anderen Stille aus vergangenen Tagen. Damals kam sie von der Schule heim in das große Haus, das nach Möbelpolitur und Vollkommenheit roch. Das Dienstmädchen begrüßte sie mit »Guten Abend, Miss«, und die Köchin zeigte ihr stolz die Glasnudeln, die sie extra für sie zubereitet hatte. Charlotte setzte sich an den Küchentisch und las die Nachricht ihrer Großmutter, die sich entschuldigte, nicht dasein zu können. Aber es war eine Ladung seltener Kräuter eingetroffen, die sie persönlich inspizieren mußte. Dann lauschte Charlotte den Nebelhörnern draußen in der Bucht und starrte auf den Teller mit den Glasnudeln, speziell für sie gekocht, weil es ihr Lieblingsessen war und sie der Köchin leid tat, und die Einsamkeit schnürte ihr die Kehle so zu, so daß sie nichts hinunterbrachte.
Wenige von ihren Schulfreundinnen kamen ein zweites Mal. Ihnen war das Haus zu fremd, vor allem, wenn ihre Großmutter im Cheongsam erschien, das Haar nach chinesischer Art mit Kämmen und Elfenbeinnadeln aufgesteckt. Die Mädchen hatten alle den Film »Suzie Wong« und im Abendprogramm die alten Charlie-Chan-Streifen gesehen. »Raucht deine Großmutter Opium?« hatte ein Mädchen unschuldig gefragt.
Charlotte hatte die Brücke nicht finden können, über die ihre amerikanischen Freundinnen in die chinesische Welt ihrer Großmutter gelangt wären. Sie schienen sich immer unbehaglich zu fühlen in dem großen Haus, als könne der böse Dr. Fu Manchu jederzeit plötzlich hinter einem Vorhang hervorspringen. Nur Johnny hatte den Übergang spielend geschafft, weil er schon darin geübt war, zwischen zwei Welten zu wandern.
Johnny hatte es geschafft, daß sich ihr Gefühl der Einsamkeit allmählich verlor. Johnny mit seiner impulsiven Art und seinem Hang zu Streichen, der plötzlich anrief und sagte: »He! Ich habe eine phantastische Idee!« Dann verbrachten sie den Tag womöglich damit herauszufinden, mit wie vielen Cable Cars sie fahren konnten, ohne zu bezahlen, indem sie jedesmal absprangen, bevor der Schaffner kam, und dann auf die nächste Bahn aufsprangen, nur um »das System zu schlagen«. Oder sie führten umsonst Telefongespräche nach Kairo und Athen. Das ging mit Hilfe einer Pfeife aus den Cap’n-Crunch-Cornflakes-Schachteln, deren Tonhöhe 2600 Megahertz betrug, derselbe Ton, der die Fernschaltungen von AT&T aktivierte.
Johnny verscheuchte aber nicht nur ihre Einsamkeit. Er machte das ganze Leben aufregend, spontan und überhaupt erst richtig lebenswert.
Und nun war er wieder da, mit all seiner Leidenschaftlichkeit und Intensität, und erfüllte sie mit verzehrender Neugier darauf, wie er selbst diese letzten zehn Jahre verbracht hatte. Aber sie würde ihn nicht fragen. Charlotte wußte, daß er nicht bleiben konnte, daß er zurück mußte zu seiner Frau und seinem Leben in einer anderen Welt.
Sie unterdrückte ihren Schmerz und ihre Angst und weigerte sich, an die Garagentür und Knights Vermutung, jemand hätte daran herummanipuliert, zu denken. Sie sah sich in dem Museum um, dessen Reliquien ihr aus den Glaskästen zuwinkten, und fragte sich, ob der Schlüssel zu dem Rätsel, wer sie und ihr Unternehmen attackierte, vielleicht wirklich, wie sie schon gedacht hatte, unter all diesen Erinnerungsstücken verborgen lag. Sie trat vor einen der beleuchteten Schaukästen. Ein kleines Kärtchen gab an: »Die Göttin Kwan Yin, etwa 1924. Singapur.« Ihre Großmutter hatte ihr die Geschichte der kleinen Porzellanfigur, die allein in der Vitrine stand, erzählt, aber Charlotte erinnerte sich nicht mehr daran.
Doch als ihre Finger sich jetzt um das zierliche Figürchen schlossen, fühlte sie, daß ihr alles wieder einfiel … das seltsame Schicksal einer Göttin, die nicht einmal ein Dieb zu stehlen wagte …