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Charlotte riß die Tür zum Museum auf und ging schnurstracks zu einem riesigen Möbelstück, das allein im Licht eines milden Scheinwerfers stand und mit drei Samtschnüren abgesperrt war. Auf dem Schild stand »Die hohe Kunst der Chinoiserie« und darunter »Sekretär, um 1815«. Er hatte in der Bibliothek des großmütterlichen Hauses gestanden, solange sie zurückdenken konnte, bis ihre Großmutter ihn hierher ins Museum bringen ließ.
Charlotte hakte eine Samtschnur los und trat auf das kleine Viereck aus grauem Teppichboden.
Der Sekretär aus schwarzem Lack war weit größer als sie und über und über mit atemberaubenden Gold- und Bronzemotiven verziert. Er bestand aus unzähligen Schubladen und Steckfächern. Die Schreibplatte war aufgeklappt und mit antiken Schreibfedern, einem Tintenlöscher und einer altmodischen Brille dekoriert. Die Steckfächer enthielten Briefpapier, und eine der Schubladen stand offen und zeigte Siegellackstangen und Kordel.
Desmond hatte gesagt, Olivia sei wie besessen gewesen, sie hätte Stunden damit verbracht, Briefe zu schreiben.
Charlotte griff nach oben und zog aus einem der Fächer ein Bündel Umschläge. Sie trugen ein kunstvolles Wappen und waren mit einem Band zusammengebunden. Sie hatte sie immer für bloße Dekoration gehalten. Jetzt erkannte sie, daß es sich um echte Briefe handelte.
Rasch schob sie sie zu den anderen Dingen, die sie eingesteckt hatte, in die Ledertasche, wo sich auch ein altes Tagebuch befand, das sie in einer Schublade der Küchenecke gefunden hatte.
Jetzt erst bemerkte sie Jonathans Zettel. »Ich muß noch etwas draußen am Hauptkommunikationsfeld einstellen. Wir treffen uns am Auto.«
Seine Sachen waren fort. Er hatte alles mitgenommen, auch seinen Regenmantel. Aber dort auf dem Stuhl hing noch sein Jackett, das er beim eiligen Aufbruch offenbar vergessen hatte. Charlotte nahm es und legte es über ihren Arm. Dabei fiel seine Brieftasche heraus und öffnete sich, als sie am Boden aufschlug. Charlotte hob sie auf. Ein Stück Papier sah heraus. Ihr Blick fiel auf ein vertrautes Bild: der Mond mit einem Katzengesicht darin.
Sie zog es heraus. Es war ein mehrfach gefalteter Brief, der an Jonathan adressiert war. Charlotte erkannte das Briefpapier sofort. Es gehörte Naomi.
»Mein lieber Freund«, hatte Naomi geschrieben. »Es ist so lange her, daß wir uns das letzte Mal begegnet sind. Ich möchte Dir meine neue Anschrift mitteilen. Wir dürfen den Kontakt nicht verlieren! Friede und liebe Grüße, Naomi.«
Charlotte suchte das Datum. Drei Jahre war das her.
Jonathan kannte Naomi.
Als sie Stimmen hörte, drehte sie sich um. Auf dem Überwachungsmonitor erschienen Valerius Knight und seine Männer, die vor dem Hauptgebäude aus zwei dunklen Limousinen stiegen. Knight erteilte Anweisungen. Die Männer sollten Charlotte Lee finden und festhalten.
Man wollte sie verhaften.
Sie blickte auf den Zettel in ihrer Hand – Jonathan kannte Naomi. Er hatte sie angelogen, vielleicht sogar verraten – sie war außer sich vor Zorn. Es war ein Zorn, explosiv wie der Feuerball in Naomis Haus und wild wie der Höllenbrand, der das Tierversuchslabor von Chalk Hill zerstört hatte.
Wie konnte er ihr das verschweigen? Warum die Geheimnistuerei? Warum die vielen Fragen über Naomi, wenn er sie längst kannte?
Blindlings schleuderte sie das Papier auf den Boden. Sollte Jonathan doch am Auto auf sie warten, bis er schwarz wurde. Sollte er doch Knight erklären, wohin sie verschwunden war. Sie war allein, wie sie es immer gewesen war, und konnte sich nur auf sich selbst verlassen.
Verdammt sollst du sein, Johnny, mich so getäuscht zu haben.
Sie wollte gerade gehen, als der Computeralarm ertönte. Am liebsten hätte sie den Bildschirm eingeschlagen. Statt dessen blieb sie stehen, bis sie erkannte, was sie vor sich hatte: die Videoaufnahme einer hohen, schwarzen Metallkiste, die an einer hellen Wand aus Ziegelsteinen hing. Oben führten Drähte hinein und unten wieder hinaus.
Der Schaltschrank für das Kommunikationsfeld.
Stirnrunzelnd näherte sie sich dem Monitor. Kam diese Sendung von Jonathan?
Der Bildausschnitt wurde größer. Irgend jemand war da und betätigte die Kamera.
Jetzt erkannte sie, was man ihr offenbar zeigen wollte: oben auf dem Schaltschrank, weit über Augenhöhe und ganz hinten an der Wand, wo niemand, der darauf zuging, ihn sehen konnte, stand ein kleiner Kasten. Er war grün, und rote und blaue Drähte ragten heraus. Ein rotes Licht blinkte.
Am unteren Rand des Bildschirms erschien ein Text, der von rechts nach links durchlief wie das Leuchtband am Times Square.
»Kleiner als die, die Naomis Haus in die Luft gejagt hat, aber ebenso wirkungsvoll.
Er braucht nur die Tür zu öffnen …«
Eine Bombe.
»Mein Gott«, flüsterte sie. »Jonathan!«
Er war noch nicht dort. Sie mußte ihn warnen. Aber wie? Sie drückte die Tasten für die Sicherheitskameras und prüfte ein Bild nach dem anderen, den ganzen Park, Büros, Türen, Gänge, Parkplätze …
Da war er! Sie erkannte die Stelle. Es war einer der Picknickplätze für die Mitarbeiter, wo sie im Freien ihr Essen einnehmen konnten. Jonathan sprach mit einem Mann in der Uniform des Sicherheitsdienstes von Harmony Biotec. Dabei zuckte er mit den Schultern und schüttelte den Kopf, als stelle der Wachmann ihm Fragen. Charlotte überlegte, ob Knight vielleicht schon vorher angerufen und ihr eigenes Sicherheitspersonal angewiesen hatte, sie aufzustöbern.
Sie versuchte nachzudenken. Sie konnte Jonathan nur dann warnen, wenn sie den Schaltschrank vor ihm erreichte. Aber wo stand er? Es gab mehrere dieser Schränke, einen für jeden Gebäudekomplex, weit verstreut über die gesamte Anlage.
Er hat gesagt, er würde zur Hauptverbindungsleitung gehen.
Schnell sah sie sich im Büro um. Aber Jonathan hatte die Blaupausen mitgenommen. Sie versuchte, sich die Pläne vorzustellen, wie sie auf dem Schreibtisch gelegen hatten. Jonathan hatte verschiedene Stellen markiert und mit dem Stift eine Linie gezogen, die vom Museum zum …
Es war der Schaltschrank hinter dem Lagerhaus.
Ohne eine Sekunde zu überlegen – vergessen waren Naomis Brief und ihre Wut, unwichtig die drohende Verhaftung durch Valerius Knight – rannte sie hinaus in das Unwetter, die lederne Umhängetasche über der Schulter. Ihr Herz schlug mit den schweren Schritten: Warte auf mich, Jonathan, warte!
Die Bundesagenten waren überall, aber Charlotte hatte den Vorteil, mit dem Gelände vertraut zu sein. Sie kannte die verborgenen Pfade und unerwarteten, mit Felsblöcken, Bäumen und Bänken angelegten Freiflächen. Sie hielt sich weitgehend an die überdachten Wege, blieb immer wieder stehen und vergewisserte sich, daß man ihr nicht folgte, um dann, so schnell sie nur konnte, dem Schrank mit dem Kommunikationsfeld zuzueilen.
Als sie um die Ecke des Kantinengebäudes bog, in dem auch die Speisesäle und Pausenräume für die Mitarbeiter untergebracht waren, stieß sie gegen ein festes Hindernis, das sie fast umgeworfen hätte. Eine Faust packte sie beim Arm und hielt sie fest.
»Mrs. Lee!« sagte Valerius Knight. »Da sind Sie ja! Ich habe Sie gesucht.«
»Bitte«, keuchte sie atemlos. »Lassen Sie mich los. Jonathan Sutherland ist in Gefahr.«
»Mrs. Lee, ich habe einen Haftbefehl für Sie.«
»Sie verstehen mich nicht!« Sie riß ihren Arm los. »Er kann in den nächsten Minuten ernsthaft verletzt, wahrscheinlich sogar getötet werden! Sie müssen mir helfen.«
»Das einzige, was ich muß, ist, Sie wegen Mordverdachtes festnehmen.«
»Um Himmels willen! Ja, ich kannte die beiden ersten Opfer, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Und das dritte auch. Ein erstaunlicher Zufall, nicht wahr?«
»Sie können mich nicht verhaften, weil es Zufälle gibt, Agent Knight.«
»Aber wir haben hier doch mit mehr als nur Zufällen zu tun. In der Wohnung des dritten Opfers fanden wir einen Brief, geschrieben auf Ihrem Briefpapier, unterzeichnet von Ihnen.«
»Wie bitte?«
»Es ist unzweifelhaft Ihre Unterschrift, wir haben sie überprüfen lassen. Mit dem Brief bieten Sie der Empfängerin eine kostenlose Probepackung Wonne an, die dem Schreiben anscheinend beilag.«
»Das heißt nicht, daß ich sie geschickt habe.«
»Mrs. Lee, wo waren Sie vor zehn Tagen?«
»Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Wo waren Sie am Neunten dieses Monats?«
Charlotte überlegte. »Ich war oben in Nordkalifornien, um einen unserer Höfe zu inspizieren. Agent Knight, wir müssen Jonathan finden.«
»In der Nähe von Gilroy?«
Sie hielt inne. »Ja.«
»Mrs. Lee, der Umschlag, in dem der Brief und die vergifteten Wonne-Kapseln waren, trägt einen Poststempel aus Gilroy, datiert am Neunten.«
Charlottes Magen schlug einen Salto. »Aber man versucht doch auch mich umzubringen. Glauben Sie, ich hätte den Unfall mit meiner Garagentür absichtlich inszeniert?«
»Tja …« Er zog ein Paar Handschellen unter dem Trenchcoat hervor. »Ich finde es jedenfalls interessant, daß Sie sich ausgerechnet an diesem Abend das andere Auto ausgesucht hatten. Da haben Sie wirklich Glück gehabt, stimmt’s?«
Beim Anblick der Handschellen begann Charlottes Herz zu rasen. »Hören Sie«, sagte sie und bemühte sich um einen vernünftigen Ton. »Sie müssen mir glauben. Jonathan ist in Gefahr. Es wird gleich eine Bombe explodieren.«
»Ich erinnere mich, daß Sie mir etwas Ähnliches erzählt haben, als Sie darauf bestanden, Ihre Häushälterin würde vergiftet.«
Er ergriff ihren Arm und schloß die Handschelle um ihr Handgelenk.
»Denken Sie wirklich, ich könnte drei Leute ermorden und versuchen, meine beste Freundin umzubringen?«
Er wollte die andere Hand fassen. »Ich denke, ein Mensch, der kaltblütig einem wehrlosen Hund den Schädel einschlägt, ist zu allem fähig. Wie sagten Sie damals so ausdrucksvoll? ›Wenn das der einzige Weg ist, wie wir uns Gehör verschaffen können, dann werden wir ihn eben gehen.‹«
In Charlotte riß etwas. Bevor Knight ihr die zweite Handschelle anlegen konnte, schnellte sie von ihm weg und gleich wieder vor. Dabei schwang sie mit aller Kraft die schwere, vollbeladene Umhängetasche und schleuderte sie dem verblüfften Agenten mitten ins Gesicht. Knight fiel zurück, stolperte über einen Bordstein und prallte krachend gegen eine Wand. Charlotte hörte es knacken, als sein Schädel gegen den Beton knallte.
Eine winzige Sekunde starrte sie auf den zusammengesackten Körper, dann stürzte sie davon.
Der schnellste Weg zum Schaltschrank führte durch die Fabrik. So ging sie auch den Agenten, die das Gelände absuchten, aus dem Weg und erreichte Jonathan über den Versorgungsweg.
Als sie das große Gebäude erreicht hatte, schlüpfte sie unter dem gelben Polizei-Absperrband hindurch, schob vorsichtig die Tür auf und spähte ins Innere. Der äußere Korridor lag verlassen. Ohne die Regale mit den Papieroveralls und -hauben zu beachten, schlich sie durch das stille Laboratorium.
Am anderen Ende huschte sie durch die Besucherhalle, einen weiteren Gang hinunter und in den Kontrollraum für die Haupt-Produktionsanlage. Von dort ging es ein paar Stufen hinunter und wenige Meter weiter zum Ausgang. Draußen, nicht weit entfernt, befand sich der Schaltschrank.
Bevor sie jedoch die Tür erreichte, vernahm sie hinter sich ein Geräusch. Sie wollte sich umdrehen, als sich plötzlich eine Hand auf ihren Mund preßte. Charlotte strampelte. Sie erkannte einen Geruch. Chloroform.
Nein!
Sie sah das weiße Taschentuch. Die Dämpfe brannten ihr in den Augen. Mit angehaltenem Atem kämpfte sie gegen die harte Hand des Angreifers. Ihre Lungen drohten zu bersten. Schließlich mußte sie doch den Mund öffnen. Keuchend schnappte sie nach Luft.
Dann wurde es dunkel um sie.