32
1928 – San Francisco, Kalifornien
Ich erwachte vom lauten Geschrei und den Rufen »Feuer!«.
Ich rannte ans Fenster. Vor dem Nachthimmel standen Flammen. Bedrohliche Rauchwolken quollen empor. Schnell zog ich einen Morgenrock über und lief nach unten. Dabei stieß ich mit Mr. Lee zusammen, der ebenfalls dabei war, sich hastig einen Bademantel überzustreifen. Wir hörten das Läuten der Feuerwehr näher kommen, aber wie sollte sie den Brandort erreichen?
Und dann wurde mir bewußt, was da brannte. Es war Mr. Huangs Lagerhaus.
Mehrere Menschen hatten bereits eine Eimerkette gebildet. Mr. Lee und ich reihten uns hastig ein und begannen fieberhaft, Eimer weiterzureichen. Dabei schwappte soviel Wasser über, daß die Eimer halb leer an der Brandstelle ankamen. »Laßt den Löschwagen durch! Laßt den Löschwagen durch!« schrien die Leute.
Plötzlich hörten wir eine Frau kreischen. »Wo ist mein Mann? Wo ist Mr. Huang? Aii-yah!«
Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, rannte Mr. Lee in das brennende Haus. Sofort hatten Flammen und Rauch ihn verschlungen. Ich rannte hinterher, wurde aber von den mit Schläuchen herbeieilenden Feuerwehrmännern zur Seite gestoßen.
»Sie müssen ihn rausholen!« brüllte ich. »Mr. Lee ist im Haus!«
Das Pflaster war naß und schlüpfrig. Ich verlor das Gleichgewicht und rutschte aus, aber jemand fing mich auf. Ich drehte mich um und blickte in ein besorgtes Augenpaar.
»Gott sei Dank, du lebst«, sagte Gideon.
»Mr. Lee ist dort drin!« schrie ich.
Gideon riß sich die Jacke vom Leib und stürzte sich mit vor das Gesicht gehaltenen Armen in die Flammen. Ich bedeckte meinen Mund mit den Händen, als ich die Situation begriff: drei Männer steckten in dieser Hölle, zwei davon waren meine guten Freunde, der dritte war der, den ich liebte. »Hilfe!« schrie ich und rannte von einem Feuerwehrmann zum anderen. »Sie müssen sie retten! Holen Sie sie raus!«
Aber alle Leute schrien auf einmal, es kamen neue Löschwagen und Schläuche, und in all dem Rauch und der Hitze herrschte ein solches Durcheinander, daß ich den Feuerwehrmännern nicht einmal mehr sagen konnte, wo genau Mr. Lee und Gideon verschwunden und in welchen Eingang sie gerannt waren.
Feuerwehrleute mit Äxten versuchten einzudringen, wurden aber von den Flammen bald wieder hinausgetrieben. Ich wollte selbst hineinlaufen, aber Hände packten mich und zerrten mich zurück.
»Gideon!« schrie ich. »Gideon!«
Dann bemerkte ich Mr. Huang, der am Straßenrand saß und sich den versengten Kopf hielt. Ich rannte zu ihm. Hatte er Mr. Lee gesehen? Wußte er, wo Gideon war?
Betäubt vom Schock schüttelte er den Kopf. Seine Frau umarmte ihn und rief immer wieder seinen Namen.
Voller Grauen starrte ich auf die Fenster, aus denen Flammen schlugen und in den schwarzen Himmel leckten. Rauchfahnen stiegen auf wie böse Geister, wuchsen und wurden breiter, bis sie die Sterne verdunkelten. »Gideon«, schluchzte ich. Neben mir tauchte plötzlich Mrs. Po auf. Ihr kurzes Haar stand in alle Richtungen. »Sie kommen, Sie kommen«, sagte sie immer wieder. Sie mußte mich mit Gewalt von dem brennenden Haus wegziehen, die Straße hinunter und in eine kleine Gasse. Ich stolperte und schaute unter Tränen zurück. Gideon …
Aber als ich um die Ecke bog, hinter der noch mehr Feuerspritzen mit langen Schläuchen, Menschen und Autos standen, bemerkte ich nur einen Mann – Gideon, der an einem Laternenpfahl lehnte und sich über die Stirn fuhr.
Ich flog zu ihm. Er fing mich in den Armen auf.
Sein Mund auf meinem schmeckte nach Feuer und Hitze.
»Wo ist Mr. Lee?« fragte ich dann.
»Unversehrt. Wir konnten alle beide durch die Hintertür ins Freie torkeln. Er ist wieder hingegangen, um dem anderen Herrn zu helfen – Gott im Himmel, es war die Hölle da drin.«
Mir wurde klar, daß sie durch den Hintereingang entkommen waren, an der Stelle, wo die Lastwagen immer ihre Kräuter abluden und wo meine kleine Fabrik lag. Das Feuer hatte sich nicht so weit ausgedehnt.
Ich schluchzte, und Gideon nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. »Ich dachte, ich hätte dich verloren!« rief ich – oder war es Gideon, der das sagte? Wieder suchten seine Lippen meinen Mund, mitten auf der belebten Straße, umwogt von der Menge. Ich stand im Morgenrock da, die Haare offen bis über die Taille, vor mir Gideon im modischen Smoking, das Gesicht schwarz von Ruß. Wir hielten einander umschlungen und ließen uns nicht los, betäubt von Lärm, Rauch und Hitze.
Als meine Augen nicht länger tränenblind waren, suchte ich in Gideons Gesicht nach Verletzungen, aber er schien sich nichts Schlimmeres zugezogen zu haben als verrußte Wangen und versengte Haare. Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn in meine Wohnung, wo ich hartnäckig darauf bestand, daß er einen Kräutertee trank, den er ebenso hartnäckig ablehnte.
Das Feuer war inzwischen unter Kontrolle und konnte nach einiger Zeit gelöscht werden. Ein Teil der Nachbarn ging zurück ins Bett, während andere stehenblieben und kopfschüttelnd den Schaden besahen. Die meisten Bewohner erinnerten sich an den großen Brand von 1906, als ganz Chinatown zerstört worden war.
Ich zog mich im Schlafzimmer an, während Gideon im Wohnzimmer seinen Tee trank. Er war seit sechs Wochen zu Hause. Ich hatte nichts von ihm gehört, jedoch sein Foto im Gesellschaftsteil der Zeitung gesehen.
Als ich ins Wohnzimmer kam, sah er mich mit großen Augen an. »Wie ist es möglich«, begann er nach einer Weile, in der wir die Stille mit unseren Augen und das Jahr der Trennung mit einer fast greifbaren Sehnsucht ausgefüllt hatten, »daß du bei jedem Wiedersehen schöner bist? Ich war auf einer Party oben auf dem Hügel. Als ich das Feuer sah, konnte ich nur noch an dich denken. Ich bin weggerannt, ohne jemandem einen Ton zu sagen.«
»Du bist seit sechs Wochen zu Hause.« Warum sagte ich das? Es klang wie ein Vorwurf. Es klang, als sei er verpflichtet, zu mir zu kommen – etwas, das nicht stimmte.
»Ich weiß. Ich wollte dich auch sehen, Harmonie. Aber beim letzten Mal hast du mich versetzt, weißt du nicht mehr? Ich habe damals auf dich gewartet, den ganzen Abend habe ich gewartet, Harmonie, und du hast nicht einmal angerufen. Das wollte ich mir nicht noch einmal antun. Aber verdammt, ich habe das letzte Jahr in einem stinkenden Dschungel verbracht und dabei nur an dich gedacht. Warum gehst du mir nicht aus dem Sinn?«
Wir verstummten, und der Straßenlärm wehte zu uns herauf. Die Feuerwehr fuhr ab, die Nachbarn riefen sich etwas zu. Jemand spielte eine Platte auf seinem Grammophon.
Ich ertrug seinen Blick nicht mehr, darum trat ich ans Fenster und betrachtete die geschwärzten Fenster von Mr. Huangs Lagerhaus. »Gideon, ich fühle mich ganz elend«, sagte ich und wußte selbst nicht genau, ob ich das Feuer meinte oder sein plötzliches Erscheinen.
»Warum?« fragte er, folgte mir ans Fenster und lächelte mich versöhnlich an. »Hast du etwa das Feuer gelegt?«
»Nein, aber es galt mir.«
»Dir? Wieso?«
»Weil ich diese Räume für meine neue Fabrik mieten wollte. Aber es war ein Geheimnis. Niemand wußte es.«
Er rieb sich das Kinn, das immer noch Rußspuren zeigte, und sagte: »Komm, wir machen eine Autofahrt.«
»Eine Autofahrt! Um diese Zeit?«
»Wir müssen aus diesem Rauch raus. Unterwegs kannst du mir alles erzählen.«
Wir fuhren die Columbus Avenue hinunter nach Fisherman’s Wharf. Es kam mir seltsam vor, in einem Auto zu sitzen, ich hatte dazu sonst kaum Gelegenheit. Noch seltsamer war die große Nähe zu Gideon, fast wie auf einem kleinen Sofa, und doch ohne jede Intimität, denn durch die offenen Fenster wehte ein kalter Wind, und wenn die Reifen über die Cable-Car-Schienen fuhren, wurden wir kräftig durchgerüttelt.
»Du meinst also, daß man das Feuer gelegt hat, damit du mit deiner Fabrik nicht dorthin umziehen kannst. Warum?«
Während ich die schlafende Stadt vorbeifliegen sah und vor uns aus dem Nebel undeutlich die Bucht auftauchte, eine immer näher kommende schwarze Wand, berichtete ich Gideon die Ereignisse des vergangenen Jahres.
Mein Unternehmen hatte sich vergrößert. Das neue Markenzeichen, die Trauerweide am See, war bekannt geworden. Leute, die nicht lesen konnten, sahen das Bild und wußten, daß sie dem dazugehörigen Heilmittel vertrauen konnten. Aber obwohl ich jetzt Geld verdiente, standen meine wenigen Artikel in ihren blausilbernen Packungen in den Regalen immer noch neben Bergen von rotgoldenen Roter-Drache-Produkten, von denen viele nutzlos oder sogar gefährlich waren. Wie sollten die Käufer sich da entscheiden? Mein Traum war es, die kleine Fabrik zu erweitern und mit meinen Arzneien so viele Menschen zu erreichen wie mein großer Konkurrent.
Eines späten Abends, als ich nach einem Tag des Abfüllens, Etikettierens und Verpackens mit meinen Arbeiterinnen Tee trank, hatte ich mit Mr. Lee darüber gesprochen. Er schlug vor, ich sollte alle meine Preise um einen Cent senken, denn kein Chinese kommt an einem Schnäppchen vorbei. Aber als ich am nächsten Tag die Runde in den Läden machte, entdeckte ich, daß alle Roter-Drache-Artikel soeben einen Cent billiger geworden waren.
Daraufhin kam mir die einzigartige Idee, meine Sachen über andere Läden zu vertreiben, zum Beispiel über Lebensmittelgeschäfte, Zigarettenhändler und sogar Fahrradwerkstätten. Aber nur wenige Tage, nachdem ich den Plan mit Mr. Lee erörtert hatte, tauchten plötzlich im Lebensmittelgeschäft, beim Zigarettenhändler und in der Fahrradwerkstatt Roter-Drache-Mittel auf.
Diese Zufälle verwunderten mich. Dann erfand ich eine neue Art von Tabletten für frischen Atem, viereckig, flach und hart. Sie bestanden im wesentlichen aus Lakritze und Menthol, und noch bevor ich sie überhaupt in die Läden gebracht hatte, verkaufte Roter-Drache ein brandneues, ganz ähnliches Produkt, das aber angeblich nicht nur für frischen Atem sorgte, sondern auch Halsschmerzen heilte.
Das letzte war, daß ich beschloß, meinem Goldlotuswein rote Farbe hinzuzufügen, um die Leute daran zu erinnern, daß es ein Mittel zur Blutauffrischung war, und weil mir die Farbe passender erschien als der ursprüngliche Bernsteinton. Sofort färbte Roter-Drache seinen beliebten Hautbalsam rot und behauptete nun auch noch, er »kräftige das Blut«.
Ich wußte also, daß jemand meine Geheimnisse an die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft verriet.
Gideon stimmte mir darin zu. »Du mußt eine Spionin unter deinen Mädchen haben, Harmonie. Eine, die dem Roten-Drachen alles meldet, was in deinem Betrieb vorgeht.«
»Mr. Huang hat vorhin noch gesagt, das Feuer sei kein Zufall gewesen. Ein Feuerwehrmann fand einen leeren Benzinkanister und Lumpen. Meine Firma ist so klein, Gideon, und Roter-Drache so groß. Warum sollten diese Leute so etwas tun?«
Der Wind peitschte Gideons schönes Haar, der mir durch das Dröhnen seines Automotors hindurch antwortete: »Ich weiß, wie groß sie sind, Harmonie. Wo immer ich bisher tätig war, habe ich gesehen, daß die Arbeiter Roter-Drache-Mittel benutzten. Ich selbst halte das Zeug übrigens auch für minderwertig.« Ein Lächeln blitzte auf. »Keine so hervorragende Qualität wie deine Sachen. Leider hat Roter-Drache Abkommen mit allen großen, ausländischen Unternehmen – auch mit der Titan Minengesellschaft, bei der ich unter Vertrag bin. Das Unternehmen stellt seinen Arbeitern als freiwillige Sonderleistung Unterkunft, Essen und medizinische Versorgung.«
Wir hielten an einer Ampel und sahen einen Lastwagen vorbeirollen. Das Licht wechselte, und wir beschleunigten wieder.
»Roter-Drache ging vor ungefähr zwanzig Jahren nach Südostasien«, fuhr Gideon fort, »und hat seitdem die Auslandsfirmen dort ziemlich gut im Griff. Die einheimischen Arbeiter bekommen am Arbeitsplatz die Sachen von Roter-Drache. Sie nehmen sie mit nach Hause und geben sie ihren Frauen. Wenn die Frauen dann selbst Medikamente im Dorf kaufen, sehen sie die vertrauten rotgoldenen Etiketten, und schon greifen sie zu. Jeder verwendet Roter-Drache, einfach, weil es in allen Läden steht, nicht, weil es gut ist.«
Ich legte die Hand auf das Armaturenbrett, verwundert darüber, daß Menschen reisen konnten, wenn ihnen die Straße derart schnell unter den Füßen davonlief. »Aber trotzdem – Roter-Drache ist so groß. Warum verfolgen sie ein so kleines Unternehmen wie meines?«
Er schenkte mir ein wundervolles Lächeln. »Deine Konkurrenz muß sie ziemlich beeindrucken, wenn sie sich die Mühe machen, eine Spionin einzuschmuggeln. Hast du den Besitzer von Roter-Drache je kennengelernt?«
Ich hatte sein Bild in der Zeitung gesehen. Er war ein Chinese, der Jazzmusik liebte und mit weißen Frauen in Flüsterkneipen ging, ein Mann, dem es gleichgültig war, daß seine Heilmittel nichts taugten, daß sie sogar schädlich sein konnten und daß sie falsche Versprechungen machten.
Wir brausten über den Highway, der sich an die Bucht schmiegte, und fuhren mit dem Mond, der über das schwarze Wasser eilte, um die Wette. Chinatown, Fisherman’s Wharf und den Yachthafen hatten wir weit hinter uns gelassen. Weiter vorn lag Fort Point und dahinter das goldene Tor … Golden Gate.
Endlich lenkte Gideon den Wagen von der Hauptstraße auf einen kleinen, ungepflasterten Weg, der zu einer grasbewachsenen Klippe führte. Ich seufzte erleichtert auf. Er hielt an, stieg aus, kam auf die andere Seite und öffnete meine Tür. Dann nahm er meine Hand, um mich in die belebende Nachtluft zu heben.
Er führte mich zum Klippenrand, wo der Wind an unseren Kleidern zog und uns gierig in die Haare griff. »Schau dorthin, Harmonie.« Er schwenkte den Arm. »Was siehst du?«
Ich sah den Nachthimmel, einen schwarzen Ozean, in dem Sterne funkelten, und die Ewigkeit.
Wir gingen durch das Gras und atmeten den Salzgeruch der See ein. Das grüne Gebirge gehörte uns ganz allein, und es war, als wären wir die beiden einzigen Menschen auf der Welt.
»Genau hier wird eine Brücke entstehen, quer über die Bucht, eine Verbindung zwischen San Francisco und Marin.«
»Aii-yah«, flüsterte ich. »Wie kann das sein? Es ist zu weit und das Wasser zu tief. Die Brücke würde einstürzen.«
Er lachte. »Es wird auch keine gewöhnliche Brücke sein, Harmonie, sondern eine Hängebrücke auf Stelzen. Paß auf!« Er holte ein kleines Notizbuch aus der Jacke und blätterte es auf. Seiten voller Diagramme und Zahlen flogen vorbei. Endlich fand er ein leeres Blatt und fing im Mondlicht zu zeichnen an. Dabei erklärte er: »Die Idee dazu ist mir eines Nachts im Traum gekommen. Was man tun muß, ist folgendes: man braucht drei getrennt gegossene, massive Betonsockel, die durch eine Treppenstufenkonstruktion ineinander verkeilt sind. Siehst du?« Ich schaute hin, aber ich sah nichts. Mein Blick galt der Hand des Zeichners, nicht dem Gezeichneten. Gideon hatte schöne Hände, schmal und ausdrucksvoll, die Hände eines Dichters, nicht eines Baumeisters.
»Zweck dieser Verankerung ist es«, fuhr er fort und zog Linien hierhin und dorthin, zeichnete Bögen und Pfeile, schraffierte blitzschnell Flächen mit Tinte, und ließ ein Bild entstehen, das mir sinnlos schien, aber offensichtlich das wiedergab, was sein Geist vor sich sah. »Zweck dieser Verankerung ist es, dem durch Gewicht und Brückenlast entstehenden Zug der Kabel Widerstand zu leisten.«
»Die Kabel halten die Brücke?«
Er strahlte mich an. »Genau. Es gibt allerdings einen starken Widerstand gegen den Bau einer Brücke über das Golden Gate. Die Leute sagen, sie würde die Landschaft entstellen. Aber das stimmt nicht. Sie wird ein wundervolles Denkmal dafür sein, wie Mensch und Natur zusammenarbeiten können. In Harmonie!« fügte er mit dem komischen Lachen hinzu, das ich so liebte.
Er wollte das Notizbuch wieder einstecken, aber ich legte schüchtern die Hand auf seinen Arm und griff nach der bekritzelten Seite. Immer noch lachend riß er sie heraus und gab sie mir. Während ich sie sorgsam zusammenfaltete und in der Tasche meines Kleides verstaute, sah er auf die Bucht hinaus und meinte: »Alle sagen, es sei unmöglich. Wir müßten Wind, Nebel und Gezeiten jeden einzelnen Schritt abtrotzen. Das stimmt, aber es ist trotzdem möglich. Und ich bin der Mann, dem es gelingen wird.«
»Ja, das bist du. Ich weiß, daß du es schaffen kannst.«
Er drehte sich um und sah mich fest an, die Hände auf meine Arme gelegt. »Du glaubst an mich, nicht wahr? Ich lese es in deinen Augen. Weißt du, daß mich keine andere Frau je so angesehen hat? Und wenn ich dich anschaue, empfinde ich etwas, das ich nie zuvor gefühlt habe.«
Ich empfand es auch. Und ich wußte, was es war. Wir führten Auge-in-Auge-Gespräche.
Unvermittelt trafen sich unsere Lippen. Ich schlang die Arme um seinen Hals, und diesmal war es kein fieberhafter Kuß voller Panik und Furcht und brennender Häuser, sondern ich küßte meinen geliebten Gideon so, wie ich es mir erträumt hatte, zärtlich und voller Liebe.
Er hob den Kopf und blickte mich aus grauen, erstaunten Augen an. »Heirate mich, Harmonie«, stieß er hervor und sah plötzlich ganz überrascht aus. »Ja!« bestätigte er lachend. »Das ist es! Wir heiraten!«
Ich war zu bestürzt, um zu antworten.
Er deutete mein Zögern falsch. »Ich kann für dich sorgen, Harmonie. Ich bin sechsundzwanzig und fange an, mir in meinem Beruf einen Namen zu machen. Mit dir als Frau …«
»Ach, Gideon!« rief ich, denn ich sah, daß er es wirklich ernst meinte. »Wir können nicht heiraten! Hast du vergessen, was damals im Drugstore passiert ist?«
»Du kannst unmöglich noch daran denken! Das war ein kleiner Laden und der Besitzer ein ungebildeter Idiot.«
»Gideon, ich gelte hier als Farbige. Das Gesetz verbietet mir, einen Weißen zu heiraten.«
»Dieses Gesetz gilt nicht für uns. Du bist schließlich Amerikanerin.«
»Aber ich bin auch Chinesin.«
»Und ich liebe euch zufällig beide.«
»Und du fällst in mein Leben wie Regen!« rief ich. »Man weiß nie, wann er kommt und wann er geht, ob es ein sanfter Regen oder ein Wolkenbruch sein wird. Ich wünsche mir Beständigkeit, Gideon. Ich möchte ein Heim.«
»Aber das meine ich doch. Ich werde nicht mehr weggehen. Wenn mein jetziger Vertrag abgelaufen ist, bleibe ich in San Francisco. Ich habe schon einen Antrag für das Brückenprojekt eingereicht, und man hat mir mitgeteilt, ich hätte gute Aussichten, den Zuschlag zu bekommen. Sag, daß du mich heiraten willst, Harmonie, dann habe ich alles, was ich mir vom Leben wünsche.«
Aber ich konnte die Szene im Drugstore nicht vergessen – den Kellner, die Kunden, die uns anstarrten und schwiegen, Gideons hilflosen Zorn.
»Und was ist mit Olivia?« fragte ich.
»Olivia? Was soll mit ihr sein? Sie und ich sind lediglich Freunde.«
Aber ich hatte auf den Zeitungsfotos gesehen, wie sie Gideon anschaute. Es war kein »Lediglich-Freunde«-Blick.
»Und deine Mutter?«
»Meine Mutter wird mich verstehen, wenn ich ihr erkläre, wie sehr ich dich liebe. Sie mag kalt und herzlos wirken, aber sie weiß, was Liebe ist. Sie und Richard Barclay verband eine Leidenschaft, wie sie nur wenige Glückliche erleben dürfen. Vielleicht ist sie darum so geworden, wie sie heute ist. Sie begegnete Richard, als sie verwitwet war und sich allein mit einem Kind durchschlagen mußte. Es war eine Romanze aus dem Märchenbuch, und dann verlor sie ihn. Sie kennt die Liebe, Harmonie. Sie wird uns verstehen.«
Ich unterdrückte mühsam die Tränen. Richard Barclays Brief an meine Mutter – »eine Ehe ohne Liebe … ich habe Fiona aus Mitleid geheiratet … er hatte sie sitzengelassen …«
Gideon durfte es nie erfahren.
Er nahm wieder meine Hände. »Du bist damals zu meiner Mutter gegangen und hast gehofft, sie würde dich als Tochter ihres Mannes anerkennen. Du wolltest den Namen deines Vaters. Es war dein gutes Recht. Sie hätte dich nicht so behandeln, sie hätte dir seinen Ring nicht wegnehmen dürfen. Olivia hat mir alles erzählt. Aber wenn du mich heiratest, Harmonie, bekommst du den Namen deines Vaters, und den Ring gebe ich dir auch zurück.«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz war so voll, daß ich erst kein Wort herausbrachte. Doch dann sagte ich: »Ich werde dich nicht deshalb heiraten, Gideon. Alles, was früher war – die Vergangenheit, mein Vater, unsere beiden Mütter –, das alles bedeutet mir nichts mehr, denn mein Leben beginnt jetzt in diesem Augenblick – mit dir. Ja, mein Geliebter, ich möchte dich heiraten.«
Er zog mich an sich und murmelte: »Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt.« Dann küßte er mich wieder.
Wir liebten uns, dort unter den Sternen über dem Golden Gate, dort, wo Gideons und mein Traum seinen Anfang nehmen sollte.
Ich musterte die acht Mädchen, die für mich arbeiteten. »Eine von euch verrät meine Geheimnisse an die Roter-Drache-Gesellschaft. Wer ist es?«
An der Art, wie sie einander ansahen und mit niedergeschlagenen Augen schwach protestierten, sie wüßten nicht, wovon ich redete, erkannte ich, daß sie die Schuldige deckten.
Wie sollte ich das Problem lösen? Was würde Gideon raten? Trotz meiner unerfreulichen Lage mußte ich lächeln. Wie konnte ich anders, als zu lächeln, wenn ich an meinen Geliebten dachte? Erst fünf Wochen war er weg, und schon zählte ich die Tage bis zu seiner Rückkehr. Zehn Monate schienen eine Ewigkeit. Aber wenn er dann nach Hause kam, würde er hierbleiben und nie mehr von mir fortgehen.
»Ich bin gut zu euch gewesen«, sagte ich zu den Mädchen. »Dafür hätte ich zumindest so etwas wie Treue erwartet. Was eine von euch getan hat, schadet dem Haus und damit allen, die hier arbeiten. Ist es das, was ihr wollt?«
Sie machten beschämte Gesichter und wollten mir nicht in die Augen sehen. Was konnte ich tun? Keinesfalls konnte ich alle entlassen, weil eine davon eine Verräterin war.
Ich dachte daran, Mr. Lee um Rat zu bitten, aber er hatte eigene Sorgen, die schwer auf ihm lasteten. Noch immer beugten sich seine Schultern unter den Geldsorgen seiner Familie, und er sah mit seinen dreißig Jahren wie sechzig aus. Ich bot ihm ein Darlehen an, aber er wollte es nicht nehmen. Und weil er sich solche Sorgen machte, konnte er sich nicht einmal mehr auf die wenigen Aufträge konzentrieren, die er noch bekam. Meine Etiketten entwarf und druckte jetzt ein Betrieb in Oakland, so daß auch ich keine Arbeit mehr für Mr. Lee hatte. Manchmal erzählte ich ihm, jemand sei in meine Fabrik gekommen und hätte sich nach dem Mann erkundigt, von dem meine Etiketten stammten, und gefragt, ob er wohl für einen Privatkunden ein größeres Bild malen würde. Dann blühte Mr. Lee für eine Weile auf, beschäftigte sich mit Tusche und Pinseln, verlor aber bald wieder die Lust. Er beschimpfte sich selbst als Versager, das Bild wurde nie vollendet, und ich mußte ihm versichern, daß der Kunde – der nur in meiner Phantasie existierte – Verständnis haben und warten würde, bis das Gemälde fertig sei.
Ich sah meine acht Mädchen an und entschied, daß ich im Augenblick nichts tun konnte. Bevor er abreiste, hatte Gideon mir das Versprechen abgenommen, nichts zu unternehmen, was die Aufmerksamkeit der Roter-Drache-Gesellschaft erregen konnte. Ich sollte meine Pläne zurückstellen, jeden, auch den kleinsten Erweiterungsversuch unterlassen und nicht mit neuen Arzneien experimentieren … mein Leben einfach vertagen, bis er zurück wäre. »Das nächste Mal könnte es deine Wohnung sein, die brennt«, hatte er gesagt, als über der Bucht der Morgen dämmerte und wir zum Auto zurückgingen. Er hatte nur noch drei Stunden gehabt, um zu packen und zum Hafen zu fahren.
Wieder hatte er mein Gesicht in seine Hände genommen und gefordert: »Versprich es mir, Liebste. Tu nichts. Keine Veränderungen, keine Einstellungen, keine Entlassungen. Ich traue diesem Roter-Drache-Bastard nicht. Laß ihn vorläufig glauben, er hätte dir Angst eingejagt.«
Also schickte ich die Mädchen wieder an die Arbeit. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Mann in Uniform an der Tür stehen. Einen Moment lang hielt ich ihn für einen Polizisten, bis ich seine dunkle Haut bemerkte. Afrikaner tragen die Polizeiuniform von San Francisco genausowenig wie Chinesen.
Er fragte mich, ob ich Vollkommene Harmonie heiße, und teilte mir dann mit, daß Mrs. Barclay mich sprechen wolle.
Ich hatte etwas Ähnliches bereits erwartet. Gideon hatte mir versprochen, seiner Mutter noch vor seiner Abreise von unserer Verlobung zu erzählen. Ich hatte mir schon fieberhaft überlegt, wie sie darauf reagieren würde. Nun würde ich es erfahren.
Ich hatte mit vielem gerechnet – von Geld bis zu Drohungen. Was ich mir nicht hatte vorstellen können, war eine lächelnde und wohlwollende Fiona Barclay, die im Fond einer langen, glänzenden Limousine saß – der Uniformierte war ihr Chauffeur – und mich einlud, in ihrem Club mit ihr zu Mittag zu essen. »Wir müssen die Vergangenheit vergessen«, erklärte sie mit Wärme in der Stimme. »Ich respektiere die Wünsche meines Sohnes. Sie werden zur Familie gehören. Es ist Zeit, daß wir einander kennenlernen.«
Wir verabredeten einen Tag in der nächsten Woche, an dem sie mich mit ihrem langen, glänzenden Wagen abholen wollte.
Ich machte mir große Sorgen wegen meiner Kleidung und suchte verzweifelt nach dem schönsten Cheongsam.
Aber als ich mir vor dem hohen Spiegel jedes einzelne Kleid vorhielt, begriff ich, daß ich damit einen schrecklichen Fehler begehen würde. Mrs. Barclay hatte bestimmt keine Lust, mit ihrer chinesischen Schwiegertochter essen zu gehen! Für diesen Anlaß mußte ich Amerikanerin sein.
Ich verließ Chinatown und fuhr zu einem Schönheitssalon in der Clay Street. Dort ließ ich mir das taillenlange Haar abschneiden. Was dann noch übrig war, wurde zu Locken gedreht, damit ich aussah wie Clara Bow auf dem Titelblatt von Photoplay. Ich kaufte die neueste Kosmetik – Elizabeth-Arden-Lippenstift und -Nagellack in Ochsenblutrot. Und schließlich erstand ich das modernste Kleid: saphirblauer Chiffon mit tiefblauen, losen Stoffbahnen, aufwendig verziert mit Perlen, Quasten und Schleifen. Die Verkäuferin erzählte mir, daß man dieses Modell in Paris als »le cocktail dress« bezeichnete.
Als Mrs. Barclays lange Limousine vorfuhr, standen alle Nachbarinnen auf dem Bürgersteig, bewunderten mich, machten ihre Bemerkungen und winkten mir zum Abschied zu. Mrs. Barclay lächelte und sagte, wie entzückend ich aussähe und daß sie sich darauf freute, mich ihren Freundinnen vorzustellen.
Der Club lag in der Nähe des Palastes der Schönen Künste und war, wie mir Mrs. Barclay erzählte, früher ein Privathaus gewesen. Jetzt hatte man einen Geselligkeitsclub für Damen daraus gemacht, wo man sich traf, um Tennis zu spielen und Wohltätigkeitsveranstaltungen abzuhalten. Ich war so aufgeregt, und mein Herz pochte so sehr in meinen Ohren, daß ich kein Wort von dem verstand, was sie sagte. Mit großen Augen sah ich zu, wie unser Wagen durch ein prachtvolles Tor aus Schmiedeeisen fuhr. Ein Mann in Uniform öffnete den Schlag und begleitete uns die Stufen zu einem imposanten Eingang hinauf.
Dort fanden wir uns in einer prächtigen Halle wieder, wo etliche vornehm gekleidete Damen unter kleinen, in Weidenkörbe gepflanzten Palmen saßen und Tee tranken. Der Club war wie ein Grandhotel. Ich war überwältigt.
Der Speisesaal, den sie Hofgarten nannten, hatte eine hohe Glasdecke, durch die verstreutes Sonnenlicht fiel. Der Raum war voller Grünpflanzen und Blumen, und Musiker mit Geigen und Harfen spielten reizende Melodien. Als wir dem Restaurantleiter zu einem Tisch folgten, war ich so selig, an einem solchen Ort zu sein und von Gideons Mutter so freundlich behandelt zu werden, daß ich mir wie in einem Traum vorkam.
Und dann hörte ich ein Flüstern. »Ich dachte, in diesem Club gäbe es Regeln.«
Und ich sah, wie alle Frauen mich anstarrten.
Aber Gideons Mutter schien die Blicke und das Getuschel nicht zu bemerken, und so erreichten wir endlich unseren Tisch. Olivia saß schon dort. Ich hatte nicht erwartet, daß Mrs. Barclay sie ebenfalls einladen würde. Olivias Mund lächelte, aber ihre Augen sagten: Das werde ich dir niemals verzeihen.
In diesem Moment wurde mir klar, daß ich alles falsch gemacht hatte.
Ich sah, wie Fiona und Olivia und die übrigen Damen gekleidet waren. Sie trugen schlichte Pullover und Faltenröcke in Beige, Weiß und Pastelltönen, und ich verstand, wie schockierend ich mit meinem gekrausten Haar, den knallroten Lippen und Fingernägeln und dem Pariser Cocktailkleid aussehen mußte.
Gideons Verlobte, ein Halbblut ohne jeden Geschmack.
Die Speisen waren mir fremd. Wir begannen mit Fischeiern – »Kaviar«, sagte Mrs. Barclay –, und ich beging den Fehler, mehrere große Löffel voll davon zu nehmen, was für die Gastgeberin eines chinesischen Essens ein Kompliment bedeutet hätte, hier aber, wie ich später lernte, grundfalsch war. Als nächstes gab es Artischocken, und ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas aß.
Die Dame zu meiner Rechten wandt sich mir lächelnd zu. »Erzählen Sie mir doch, Miss … äh …«
»Mein Name ist Harmonie.«
»Spielen Sie Bridge?«
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Was für eine Art Brücke meinte sie?
»Oder Tennis?«
Ich schüttelte den Kopf.
Die Damen unterhielten sich quer über den Tisch, alle um mich herum sprachen, über andere Clubmitglieder, Ferienreisen, neue Filme und Bücher, alles Themen, zu denen ich nicht das geringste zu sagen hatte.
Die Dame zu meiner Linken fragte: »Wo, sagten Sie, wohnen Sie, Liebes?«
Wie konnte ich antworten »Über der Glücklichen Wäscherei«? Ich konnte noch nicht einmal Chinatown erwähnen. Also erwiderte ich: »Jackson Street.«
»Oh! Ist das in der Nähe der Lovecrafts? Sie wohnen auch auf der Jackson Street, Höhe Broderick.«
Da begriff ich, daß sie das obere Ende der Jackson Street meinte, das oben auf dem Hügel lag, während ich von der Jackson Street unten in Chinatown gesprochen hatte. »Ich kenne sie nicht«, sagte ich.
Eine andere Dame schaltete sich ein. »Sie haben einen köstlichen Akzent, Herzchen. Darf ich fragen, woher Sie stammen?«
»Aus Singapur.«
»Ach ja! Dort war ich vor drei Jahren mit meinem Mann. Wir hatten das Glück, im Raffles-Hotel Mr. Somerset Maugham kennenzulernen. Sind Sie ihm schon einmal begegnet?«
Ich hatte nie von ihm gehört.
Und dann kam endlich der Moment, auf den ich die ganze Zeit gewartet hatte.
Diesmal war es der Restaurantchef selbst, kein kleiner Limonadenkellner. Der Kellner damals war jung gewesen, dieser Mann schon älter. Aber sein Gesichtsausdruck war genau der gleiche. »Es tut mir leid, Mrs. Barclay, die anderen Mitglieder haben mich gebeten …« Den Rest flüsterte er ihr ins Ohr, so daß ich ihn nicht hören konnte. Das war auch gar nicht nötig. Die anderen Damen am Tisch waren plötzlich damit beschäftigt, hierhin und dahin zu blicken, sie falteten ihre Servietten immer wieder neu und drehten Kristallgläser auf dünnen Stielen. Nur Olivia ließ mich nicht aus den Augen, als wolle sie sehen, wie ich reagierte.
»Sie können den anderen Mitgliedern sagen, Steven«, erklärte Mrs. Barclay ruhig, »daß diese junge Dame mit meinem Sohn verlobt ist und bald meine Schwiegertochter sein wird. Sie sehen also, daß sie ebenso berechtigt ist hier zu sein, wie ich.«
Der Mann wurde so rot, daß er mir leid tat.
In diesem Augenblick wurde mir bewußt, wie mein Leben mit Gideon aussehen würde: Speisen, von denen ich nicht wußte, wie man sie aß. Spiele namens »Bridge« und »Polo«. Menschen, die uns anstarrten, unbehaglich husteten und immer einen Weg finden würden, uns hinauszukomplimentieren.
Ich erhob mich. »Vielen Dank für die Einladung zum Essen, Mrs. Barclay.« Ich sah die anderen Damen an. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
Vom Clubhaus fuhr ich direkt nach Chinatown in meine Wohnung. Ich wusch mir die Locken aus dem Haar, schrubbte Elizabeth Arden von Gesicht und Fingernägeln, faltete mein Pariser Kleid zusammen und zog meinen Cheongsam wieder an. Dann ging ich hinüber in meine kleine Fabrik hinter Mr. Huangs Handelsgesellschaft und entließ die acht Mädchen fristlos. Ich schickte sie sofort nach Hause und schloß den Fabrikraum ab.
Anschließend suchte ich Mr. Lee in seiner Wohnung auf und sagte zu ihm: »Ich werde nach neuen Räumlichkeiten Ausschau halten, die ich mieten kann, um meine Fabrik zu erweitern. Ich möchte, daß Sie mir eine Werbekampagne entwerfen, komplett mit Plakaten, Zeitungsanzeigen und Anschlagtafeln. Ich werde dem Roten Drachen eine Schlacht liefern, die er so schnell nicht vergißt. Außerdem gebe ich Ihnen das Geld, um Ihre Familie aus Hawaii herzuholen, und jeder von ihnen kann in meiner Firma arbeiten. Es handelt sich dabei weder um ein Almosen noch um ein Darlehen. Sie bekommen das Geld für einen Gefallen, um den ich Sie bitten möchte.«
Schließlich kehrte ich in meine Wohnung zurück, setzte mich hin und schrieb einen Brief an Gideon.
Als es an der Tür klopfte, dachte ich: Ah, ein später Gast. Aber als ich öffnete und Gideon draußen stehen sah, erstarrte ich hinter der erst einen Spaltbreit geöffneten Tür zu Stein.
»Ich weiß, ich hätte dich vorwarnen sollen«, sagte er schnell. »Aber ich wollte sofort zu dir.« Er unterbrach sich und riß die Augen weit auf. »Harmonie, du hast ja deine Haare abgeschnitten!«
Ich fuhr mit der Hand an den eckigen chinesischen Pagenschnitt, der mir knapp bis unter die Ohren reichte. »Du wolltest doch erst in acht Monaten wiederkommen«, sagte ich, gelähmt vor Entsetzen. Es war, als hätte ich einen Geist vor mir.
»Ich habe meinen Vertrag gekündigt. Als ich deinen Brief bekam …«
Ich sah den Schmerz und die Verwirrung in seinem Blick und den Brief in seiner Hand, meinen Brief, in dem ich ihm mitteilte, daß ich ihn nicht heiraten konnte.
»Was ist denn nur geschehen, Harmonie? Warum hast du deine Meinung geändert? Es war meine Mutter, nicht wahr? Was hat sie gesagt? Sie würde mir abraten, dich zu heiraten? Mein Gott, du glaubst doch nicht, irgend etwas könnte mich abhalten?«
»Deine Mutter war sehr freundlich zu mir. Sie hat mich zum Mittagessen eingeladen.«
Er legte die Hand an die Tür. »Bitte laß mich hereinkommen. Wir müssen reden.«
Aber ich ließ ihn nicht hinein. »Ich würde niemals in deine Welt passen, Gideon«, sagte ich fast flehend, »und du nicht in meine.«
»Dann bauen wir uns eine eigene Welt. Hier.« Er hielt mir lächelnd einen Umschlag hin. »Mein Hochzeitsgeschenk. Ich wollte bis zum Tag der Trauung warten, aber jetzt ist vielleicht der bessere Zeitpunkt.«
»Was ist das?«
Er öffnete den Umschlag und entfaltete mehrere zusammengeheftete Blätter. »Es ist ein Vertrag zwischen der Titan Minengesellschaft und den Chinesischen Heilmitteln von Vollkommener Harmonie. Darin steht, daß du die Alleinrechte für Vertrieb und Verkauf medizinischer Produkte an Angestellte und Arbeiter der Titan Minengesellschaft hast.«
Ich betrachtete ihn verstört. Sein Lächeln wurde breiter. »Es hat mich einige Mühe gekostet, aber endlich haben sie eingewilligt, ausschließlich deine Produkte zu führen. Das bedeutet Tausende von Arbeitern in ganz Asien, die alle deine Stärkungsmittel und Salben verwenden. Dein Zugang zum Exportmarkt! Diese Arbeiter werden deinen Goldlotuswein mit nach Hause zu Frau und Kindern nehmen und nie wieder etwas anderes kaufen. Roter-Drache wird nicht länger den Markt beherrschen. Nun? Willst du nichts sagen?«
»Ich wußte nicht, daß du so etwas vorhattest.«
»Es sollte eine Überraschung sein. Ich hatte so viele Pläne für die Zeit nach meiner Rückkehr, aber, mein Gott, als ich deinen Brief bekam und du mir schriebst, du hättest deine Meinung geändert, da verlor ich fast den Verstand. Darum bin ich abgereist. Ich habe den Leuten gesagt, es sei etwas Schlimmes zu Hause passiert. Übrigens wirst du sehen, daß mein Name auch im Vertrag steht.« Er grinste. »In deinem Brief stand nicht, warum du dich anders entschlossen hast, darum habe ich eine Klausel hinzugefügt, damit du dich noch einmal anders entschließen kannst. Wir sind Geschäftspartner, Harmonie. Der Vertrag besteht zwischen dir, der Titan Minengesellschaft und mir.«
Ich nahm die Papiere und starrte sie an.
»Harmonie, du bist mein Leben, meine Seele«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Ohne dich kann ich nicht leben. Es ist mir gleich, was meine Mutter denkt. Wenn ich zwischen dir und ihr wählen muß, entscheide ich mich für dich. Ich flehe dich an, Harmonie. Sag, daß du mich heiratest.«
Ich sah auf den Vertrag in meiner Hand und konnte vor lauter Tränen kaum die Sätze lesen, die mir garantierten, daß ich als einzige berechtigt war, Naturheilmittel und Medikamente für die Angestellten und Arbeiter der Titan Minengesellschaft zu liefern. Die Gesellschaft verfügte über Niederlassungen in Ländern, die ich sofort als bisherige Domäne der Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft erkannte. Ich fühlte, wie mir das Herz stockte, als ich meinen schrecklichen und furchtbaren Fehler begriff.
Ich konnte den ratlosen Ausdruck in Gideons Gesicht nicht ertragen, als ich zurücktrat und die Tür so weit öffnete, daß er die Menschen in der Wohnung sehen konnte, die angeschnittene Hochzeitstorte und Mr. Lee im Smoking des Bräutigams.
»Wer hat denn geheiratet?« fragte Gideon.
Ich hielt sein Hochzeitsgeschenk in der Hand, und in meinem Bauch regte sich mein zwei Monate altes Geheimnis. Und ich antwortete: »Ich.«