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23 Uhr – Palm Springs, Kalifornien

Es war eine schlechte Nachricht, und Jonathan mußte sich etwas einfallen lassen, um sie Charlotte vorsichtig beizubringen.

Durch die offene Tür zum Museum sah er sie vor einer Vitrine stehen, die mit Schachteln, Flaschen und Krügen in blausilberner Verpackung gefüllt war. Das Schild auf dem Glas lautete: »Harmony-Produkte, um 1927«.

Nachdem sie gelesen hatte, was Knight über ihre Verbindung mit dem zweiten Opfer schrieb, war sie wieder zurück ins Museum gegangen und hatte dort fieberhaft nach weiteren Hinweisen auf die Person gesucht, die es so grausam auf sie abgesehen hatte.

»Ich schwöre dir, Jonathan«, hatte sie erklärt, »daß an dieser Anklage wegen Ehebruchs kein wahres Wort ist. Dr. Laura Phillips’ Ehe zerbrach während der Chalk-Hill-Geschichte. Weil sie so fest davon überzeugt war, ich hätte mir ausgerechnet ihr Laboratorium für meine kriminellen Zwecke ausgesucht – die sie sich alle nur einbildete –, kam sie auf die verrückte Idee, daß ich außerdem noch eine Affäre mit ihrem Mann hätte. Der Mann und ich bestritten das gleichermaßen, und Dr. Phillips verzichtete schließlich auf einen Prozeß. Daß ich, als ich von dem zweiten Opfer las, den Zusammenhang nicht hergestellt habe, liegt daran, daß die Phillips’ sich inzwischen scheiden ließen und Laura wieder heiratete. Ich kannte ihren neuen Namen nicht, und sie ist vor fünf Jahren aus dem Labor ausgeschieden.«

Nie würde Jonathan diesen Schock vergessen, den er an einem nebligen Abend vor acht Jahren erlebt hatte, als er den Fernseher anstellte und den schrecklichen Filmausschnitt eines amerikanischen Nachrichtensenders sah. Es ging um ein Massaker an Tieren auf einer nordkalifornischen Versuchsstation. Zuerst hatte er Charlotte gar nicht erkannt, so wut- und schmerzverzerrt war ihr Gesicht. Aber als ihre Hände wieder und wieder auf den Kopf eines wehrlosen Schäferhundes niedersausten und ihm mit einem großen Stein den Schädel einschlugen, begriff Jonathan, daß die Charlotte Lee, die der Kommentator namentlich benannte, seine Charlotte war – auf den Knien, blutig, wild, die verkündete: »Wenn das die einzige Art ist, wie wir uns Gehör verschaffen können, dann werden wir es eben tun.«

Damals wie heute hatte er sich gewünscht, sie in die Arme nehmen und trösten zu können, denn er wußte, warum sie es getan hatte, auch wenn der Rest der Welt davon keine Ahnung hatte. Aber die unsichtbaren Schranken blieben unüberwindlich. Immer, wenn er es versucht hatte, war er gegen eine Mauer gestoßen.

Andererseits mußte er zugeben, daß auch er solche Mauern hatte. Auf der Rückfahrt von Naomis Haus hatten sie an einer roten Ampel angehalten, und mitten im Schweigen hatte Charlotte plötzlich gefragt: »Was ist damals in Amsterdam eigentlich passiert?« Sie meinte die Amsterdamer Acht, die Hackerbande, die Jonathan am Ende dazu gebracht hatte, seinen Posten bei der Spionageabwehr aufzugeben. Jonathan hatte es nicht fertiggebracht, ihr zu antworten, und sie hatte die Frage nicht wiederholt. »Charlotte«, sagte er jetzt. »Knights Leute sind soeben eingetroffen.«

Sie sah ihn ohne Überraschung an und folgte ihm ins Büro. Auf dem Überwachungsmonitor erkannte man zwei Personenwagen und einen Kleinbus, die gerade anhielten. Fahrer und Insassen sprangen hinaus in den Regen.

»Als erstes werden sie den Netzwerk-Server lahmlegen. Wir müssen sie aufhalten.« Er trat zum Computer und tippte einen Befehl, das Dateienverzeichnis aufzurufen, ein. »Ich habe angefangen, eure Datenbank zu kopieren, aber ich brauche mehr Zeit.«

Für einen Herzschlag trafen sich ihre Blicke. Beide wußten, um was es ging: Charlotte mußte einen Weg finden, um Knight und seine Leute zu blockieren. Das bedeutete aber auch, daß sie das Risiko einging, von Knight über die beiden Opfer ausgefragt zu werden, von denen sie behauptet hatte, sie nicht zu kennen.

»Wieviel Zeit?« fragte sie.

»Es sind neun Gigabytes. Ich mußte jedes Verzeichnis einzeln herunterladen. Ich brauche noch wenigstens dreißig Minuten. Nimm den Ohrstöpsel und warte auf mein Zeichen, bevor du sie an den Server heranläßt.«

Charlotte blickte wieder auf den Überwachungsmonitor. Die Bundesagenten beeilten sich, ins Hauptgebäude zu kommen. Sie sahen aus, als meinten sie es ernst. »Ich werde mir etwas ausdenken.« Sie fing an, in ihren Taschen herumzuwühlen. »Ich fürchte, ich habe den Stöpsel verloren. Er muß mir heruntergefallen sein.«

»Ich habe keinen anderen. Hast du einen Piepser?«

»Ja.«

Sie hakte den Piepser in ihren Rockbund, gab Jonathan die Nummer und erklärte: »Ich habe ihn auf Vibration gestellt. Piep mich an, sobald du mit dem Herunterladen fertig bist. Dann weiß ich, daß Knights Männer die Maschinen übernehmen können.«

»Ja, aber warte unbedingt auf mein Signal. Wenn sie ins System eindringen, während ich noch herunterlade, werden sie mich entdecken und finden. Sie werden mir Verfälschung von Beweisen vorwerfen und mich deshalb verhaften. Charlotte – ich darf nicht verhaftet werden, verstehst du? Nicht wegen eines Computerdelikts.«

»Schon verstanden. Mach dir keine Sorgen. Ich lasse nicht zu, daß sie dich erwischen.«

Er lächelte. »Und versuch, Knight möglichst aus dem Weg zu gehen. Er hätte genügend Gründe, dich für ein Verhör festzuhalten.«

»Mit Knight werde ich schon fertig.«

»Aber vor allem: halt sie vom Server fern.«

Das Haus der Harmonie: Roman
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