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1927 – San Francisco, Kalifornien
»Harmonie, Sie brauchen einen Namen«, erklärte Mr. Lee unvermittelt an einem schwülen Nachmittag, während er an einem seiner Tuschbilder arbeitete.
Seine Worte erschreckten mich, denn ich dachte, er meine einen anderen Namen, den Namen, an den ich auch gerade gedacht hatte. Aber dann wurde mir klar, daß ich ihn mißverstanden haben mußte, denn ich hatte Mr. Lee nie etwas von meiner heimlichen Suche erzählt.
Als ich sagte, der Dieb, der meine Wohnung ausräumte, habe mir zumindest meine Identität gelassen, stimmte das nicht ganz, denn ich besaß nach wie vor nur eine halbe Identität. Ich war Vollkommene Harmonie. Doch ich hatte keinen Nachnamen.
»Wenn du deinen Vater findest«, hatte meine Mutter am letzten Tag in Singapur zu mir gesagt, »wird er dich als Tochter anerkennen. Er wird dir eine ordnungsgemäße Geburtsurkunde verschaffen, und du trägst dann seinen Namen.«
Ich trug nicht den Familiennamen meiner Mutter, denn sie hatte diese Familie entehrt und sich selbst zur Ausgestoßenen gemacht. Darum hatte sie den Namen ihres Vaters abgelegt und nannte sich nur Mei-ling. Ich war nach Amerika gekommen, um meinen Namen einzufordern, doch statt dessen mußte ich feststellen, daß mein Vater auf See verunglückt war und mich nichts weiter mit ihm verband als sein Ring und der Brief, den er meiner Mutter zurückgelassen hatte.
Das genügte nicht, um vor Gericht zu gehen. Das bestätigten mir auch die Anwälte, die ich aufsuchte, zuerst die chinesischen, dann die amerikanischen. Sie sagten: »Damit kriegen Sie keinen Fuß auf den Boden.«
Immer noch fuhr ich mit dem Cable Car die California Street hinauf und starrte auf das große Haus hinter dem hohen Zaun – die Villa Barclay. Sie gehörte meinem Vater und hätte nun mir gehören müssen. Einer der Anwälte hatte es herausgefunden: Richard Barclay hatte keine Blutsverwandten hinterlassen, sondern nur einen Adoptivsohn. Ich war sein einziges leibliches Kind. Der Anwalt meinte, ich könne Anspruch auf das Haus erheben und hätte sogar, auch wenn es viel Geld und Zeit kosten würde, die Chance, es zu bekommen.
Aber ich wollte dieses große Haus mit den vielen Räumen und Fenstern gar nicht. Es genügte mir, über der Glücklichen Wäscherei zu wohnen, denn ich war, seitdem meine Arzneien sich gut verkauften, wieder in den zweiten Stock gezogen, in die geräumigen Zimmer, in denen das gute chi floß und die in der glückbringenden Ost-West-Richtung lagen.
Alles, was ich wollte, war ein Name.
»Sie können nicht beweisen, daß der Brief an Ihre Mutter gerichtet war«, sagte der eine Anwalt, »Sie können nicht beweisen, daß Richard Barclay ihr den Ring geschenkt hat«, ein anderer. Der dritte meinte: »Fiona Barclay ist eine sehr reiche und mächtige Frau, die nie zulassen würde, daß Sie ihren Namen tragen. Sie können nicht gewinnen.« Und der vierte nahm mein Geld und erklärte: »Wollen Sie meinen Rat? Gehen Sie zurück nach China.«
Ich war neunzehn Jahre alt, aber in meinen Papieren stand ein- undzwanzig. Es war höchste Zeit, daß ich einen Namen bekam.
Ich hatte den Anwälten den Brief meines Vaters nie vorgelegt, immer nur davon gesprochen, denn ich hatte meiner Mutter versprochen, ihn nur Richard zu zeigen. Aber der Brief war der einzige Beweis dafür, daß er tatsächlich mein Vater war, und nun war Richard Barclay tot. Was sollte ich tun?
Ich hatte daran gedacht, Gideon den Brief zu bringen, denn ich fühlte, daß er mich nicht betrügen würde. Aber ich konnte meinen Gefühlen für ihn nicht trauen. Es war leichter gewesen, als ich noch verwirrt war und glaubte, mich in meinen eigenen Bruder verliebt zu haben. Als ich dann erfuhr, daß wir gar nicht verwandt waren und ich mich ganz normal in einen Mann verliebt hatte, wurde die Last unerträglich, denn nun quälte mich die Frage: Konnten wir jemals zusammenkommen?
Auf den Tag genau ein Jahr, nachdem er morgens um acht Uhr abgesegelt war und mein Herz mitgenommen hatte, kehrte Gideon nach San Francisco zurück. In den zwölf Monaten seit seiner Abreise hatte ich mich ganz meinen Arzneien gewidmet. Ich machte sie überall in Chinatown bekannt, verbesserte sie und verbreitete sie, so gut ich nur konnte. Ich begann sogar Patienten zu empfangen – meist ältere Menschen, die sich keinen erfahrenen Arzt leisten, oder solche, die überhaupt nichts bezahlen konnten. Es war ein bescheidener Anfang, und man betrachtete mich mit Vorsicht, weil ich noch so jung war, aber allmählich sprach es sich herum, und mein Ansehen wuchs. Darum vermißte ich auch mein Herz nicht besonders. Ausgefüllte Tage und Nächte mit tiefem Schlaf lassen keinen Raum für Sehnsucht. Aber als ich aus der Zeitung erfuhr, daß ein riesiger Ozeandampfer angelegt hatte, die Namen der Prominenten auf der Passagierliste las und dann noch ein Foto von Gideon fand, das ihn auf einer Begrüßungsparty in der Villa Barclay zeigte, zu der selbst der Bürgermeister von San Francisco und mehrere bekannte Filmstars und Politiker geladen waren, da fühlte ich, wie sich mein Herz in meiner Brust zurückmeldete und mir von neuem süßen Kummer brachte.
Die blonde Olivia war mit Gideon auf dem Bild zu sehen. Sie hatte ihn untergehakt, und so, wie sie mit glückseligem Lächeln zu ihm aufsah, während er direkt in die Kamera strahlte – Olivia, die »Freundin der Familie«, deren Foto er in seiner Brieftasche trug –, wußte ich, daß meine heimliche Liebe sinnlos war.
Als er mir einen Boten mit einem Brief sandte und fragte, ob er mich besuchen dürfe, antwortete ich nicht. Als eine Woche später ein zweiter Brief kam, schickte ich den Boten zurück.
Den dritten Brief überbrachte Gideon selber.
Ich hatte zu der Zeit schon einen kleinen Raum im Hinterhaus von Mr. Huangs Handelsgesellschaft gemietet, so daß die Kräuter und Mineralien, die ich von ihm bezog, ohne Umwege an die Arbeitstische, Spülbecken und Herde gingen, an denen eine kleine Truppe von vier Mädchen mir dabei half, meine Heilmittel herzustellen, sie zu verpacken und sie dann auszuliefern.
Wir waren ein bescheidener Betrieb. Jedes kleine Päckchen, jedes schmale Fläschchen, jeder Tontopf wurde von Hand gefüllt, etikettiert, eingewickelt und in Kisten verpackt. Eines der Mädchen saß an einem vollgestopften Schreibtisch und beschriftete mit größter Sorgfalt die Etiketten in chinesischer und englischer Sprache, wobei sie sowohl das Herstellungsdatum als auch die enthaltenen Kräuter aufschrieb. Die meisten Naturheilmittelhersteller führten keine Inhaltsstoffe auf, weil sie fürchteten, andere könnten die Mischung nachahmen. Aber manche Menschen sind gegen bestimmte Kräuter allergisch, wie ich es gegen Jimsonkraut bin, und es kann zu ernsthaften Beschwerden kommen.
Zuerst wollten die Besitzer der Kräuterläden von Chinatown meine Mittel nicht führen. »Wir haben jede Menge Roter-Drache-Artikel. Warum sollen wir Ihre Sachen ans Lager nehmen?« Also ging ich von einem zum anderen und überreichte jedem drei Flaschen Goldlotus, drei Packungen Wonne und drei Krüge mit Mei-ling-Balsam. Ich sagte: »Behalten Sie das Geld, das Sie damit verdienen. Was Sie nachbestellen, gebe ich Ihnen in Kommission.« Soviel Vertrauen hatte ich zu meinen Produkten. Die Kräuterhändler verkauften die Artikel und bestellten neue bei mir nach. Damit begann ich zu verdienen.
Wenn ich einer Freundin oder Nachbarin etwas verkaufte, erklärte ich immer: »Wenn es nicht wirkt, gebe ich Ihnen Ihr Geld zurück.« Aber mit Ausnahme von Mrs. Po war es allen zu peinlich, mir etwas wiederzubringen, und ich glaube, ihre Scham führte auch dazu, daß sie gesund wurden.
Und so geschah es am Jahrestag meiner erhörten Gebete, ein Jahr, nachdem Kwan Yin mit der Stimme meiner Mutter zu mir gesprochen und mich gelehrt hatte, mit Augen und Erinnerungen anstatt mit den Ohren zu lauschen, daß Gideon Barclay von neuem in mein Leben trat.
Ich trug eine Metzgerschürze und hatte das lange Haar unter einer weißen Chirurgenhaube aufgesteckt. Ich stand am Herd, rührte in meinem empfindlichen Balsam und ließ das feste Wachs vorsichtig schmelzen, bevor ich die Vaseline und das erste Kraut hinzufügte. Plötzlich merkte ich, daß meine Mädchen aufgehört hatten zu schwatzen – sonst war es in meiner kleinen Fabrik niemals still. Ich drehte mich um und wollte nachsehen, was passiert war. Da stand ein langer Amerikaner in der Tür, das Gesicht gebräunter, als ich es in Erinnerung hatte, das Haar ein wenig länger. Und er lächelte, wenn auch nicht mehr so jungenhaft wie damals im Drugstore.
»Hallo, Harmonie«, sagte er.
Die Mädchen kicherten und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Ich ließ Judy Wong den Balsam weiterrühren und ging, ohne auch nur Schürze und Haube abzulegen, mit Gideon nach draußen. Es war nur ein kurzes Gespräch. Er wollte mir sagen, daß er nicht lange zu Hause bleiben würde, weil schon ein neuer Auftrag in Panama auf ihn wartete. Aber er hatte jetzt sein Diplom. Er war Ingenieur und konnte auf der ganzen Welt Brücken, Dämme und Straßen bauen. Und die Nachfrage war groß.
War es das, was er mir in Wirklichkeit sagen wollte? Daß er nie ein fester Bestandteil meines Lebens sein konnte? Daß unser Schicksal die gestohlenen Begegnungen zwischen seinen Aufträgen in fernen Ländern bleiben würden?
Er blickte durch die offene Tür auf meine fleißig arbeitenden Mädchen und sagte: »Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, scheint es dir besser zu gehen. Bist du glücklich, Harmonie?«
»Ich habe viel zu tun, meine Stunden sind ausgefüllt.«
Er war näher gekommen, an diesem Nachmittag vor über einem Jahr, so nahe, daß ich einen winzigen Punkt in seinem rechten Auge sehen konnte, einen Fleck aus Gold, der in der rauchgrauen Iris schwamm. »Bist du glücklich?« wiederholte er leiser, und wenn er mich damals geküßt hätte, wären alle meine guten Vorsätze vergessen gewesen. Ich hätte Chinatown und meine Arzneien verlassen und wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt.
Aber er trat plötzlich zurück, und seine Miene verfinsterte sich. »Du willst es mir nicht verraten, nicht wahr? Warum bist du so voller Geheimnisse, Harmonie? Warum muß ich dauernd an dich denken?«
»Du darfst nicht an mich denken.«
»Warum nicht?«
Weil ich den Namen deines Vaters haben will. Ich will als seine Tochter anerkannt werden, als sein einziges Kind. Ich würde dich verdrängen, Gideon. Wir würden Rivalen werden.
Aber ich sagte nur: »Weil ich Chinesin bin und du Amerikaner.«
»Verflixt, Harmonie, du denkst immer noch an diesen Mistkerl von Kellner im Drugstore!«
Und wie sollte ich das nicht? Schlechter als ein Hund behandelt zu werden, nur wegen der Form meiner Augen?
»Ich möchte mit dir reden, Harmonie. Wenn dir ein persönliches Gespräch unangenehm ist, kannst du es als geschäftliche Verhandlung sehen. Ich bin daran interessiert, in deine Arzneimittel zu investieren. Du brauchst nicht mit vier Mädchen in einem Hinterzimmer zu arbeiten. Du könntest eine Fabrik kaufen und überall in die Vereinigten Staaten liefern. Würde dir das nicht gefallen?«
Ja, das würde mir gefallen, aber von welchem Geld? Aber dann begriff ich: Er wollte mir das Geld geben.
Ich schüttelte den Kopf. Es war eine Sache, daß ich etwas von ihm angenommen hatte, als ich ihn für meinen Bruder hielt. Aber jetzt, nachdem wir nicht einmal miteinander verwandt waren, kam es überhaupt nicht in Frage.
Ich sagte, ich müsse wieder zu meinem Balsam zurück. Er wollte nicht gehen, bevor ich nicht versprach, ihn am nächsten Abend zum Essen zu treffen. Ich willigte ein. Aber ich ging nicht hin. Danach hörte ich nichts mehr von ihm.
Und nun, an einem schwülen Nachmittag ein Jahr später, malte Mr. Lee an einem Tuschbild und verkündete plötzlich und unerwartet, daß ich einen Namen brauchte.
Ich liebte es, ihm bei seiner Kunst zuzuschauen, denn er brachte in seinen Bildern die taoistische Bewunderung für die Schönheit der Natur zum Ausdruck. Jeder von Mr. Lees Pinselstrichen erfolgte auf präzise, traditionelle Art. Die Pinselhaare küßten das Reispapier und ließen Farbe darauf zurück – das Abbild dessen, was sein geistiges Auge sah. Er malte Tiger, die einem aus dem Papier entgegensprangen, und atemberaubende Landschaften zwischen Himmel und Erde. Die Menschen waren begeistert von seinem Talent, kein anderer Künstler in Chinatown malte so lebensecht. Ich glaube, das Geheimnis seiner Kunst lag darin, daß Mr. Lee jeden Morgen, wenn er seine Tuschsteine und Lammwollpinsel vorbereitete, schweigend um innere Erleuchtung betete.
An diesem drückenden Nachmittag nun, ein Jahr, nachdem Gideon wieder in mein Leben getreten war und es gleich darauf von neuem verlassen hatte, hob Mr. Lee den Blick von seiner Malerei und sah mich mit seinen seltsam hellen Augen an. Ein Chinese mit solchen Augen war ungewöhnlich, aber an Mr. Lee war alles ungewöhnlich. Er hatte mir erzählt, er sei noch nicht dreißig, aber er wirkte älter. Sein Haar wich von der Stirn zurück, und er trug eine sehr dicke Brille. Seine Schultern waren von den vielen Jahren, die er nun schon über seinen Bildern saß, und auch davon, daß er sehr hochgewachsen und deshalb verlegen war, leicht nach vorn gebeugt. Er war so schüchtern, bescheiden und zurückhaltend, daß ich oft dachte, Mr. Lee gehöre eigentlich in eine andere Zeit, in die ferne Welt klösterlicher Gelehrter, die raschelnde Seidengewänder trugen und über das Wesen der Engel nachsannen.
In den letzten beiden Jahren war er im wahrsten Sinne des Wortes heruntergekommen, denn er wohnte jetzt unter mir in dem kleinen Raum, den ich auch für kurze Zeit bezogen hatte. Obwohl er ein hervorragender Künstler war – der beste in Chinatown –, arbeitete er qualvoll langsam, zu langsam für die Touristen, die schnell hingeworfene Bilder wollten und keinen Wert auf Qualität legten. Als andere Künstler zuzogen und Erfolg hatten, verlor Mr. Lee allmählich an Boden. Er verkaufte nur noch wenige Gemälde und fürchtete schon, unter großem Gesichtsverlust zu seiner Familie zurückkehren zu müssen. Aber wenn er es in Kalifornien nicht aus eigener Kraft schaffte, mußte er eben über seinen Schatten springen und wieder nach Hawaii gehen.
»Sie brauchen einen Namen«, wiederholte er sanft und legte den Pinsel beiseite.
Und er hatte recht. Nachdem mein bescheidener Ruf sich zu verbreiten begonnen hatte, fingen die Leute an, in die Kräuterläden zu gehen und zu den Inhabern zu sagen: »Ich brauche etwas von dem rosa Balsam, den dieses Mädchen macht, das über der Glücklichen Wäscherei wohnt.« Wie umständlich und mühsam! Der Kunde konnte viel leichter sagen: »Roter-Drache-Balsam, bitte.«
Aber welchen Namen sollte ich meinen Mitteln geben, welches Symbol für sie wählen? Die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft verwendete Rot und Gold, die Farben des Glücks, und natürlich das Drachenbild, das bei allen Chinesen als mächtigstes Glückszeichen gilt. Und obwohl meine Arzneien in ihren neuen, hübschen Flaschen und Verpackungen ansprechend aussahen, fielen sie im Regal nicht so auf wie die Roter-Drache-Mittel.
Ich hatte den Mann, dem die Roter-Drache-Gesundheitsgesellschaft gehörte, nie gesehen, aber ich kannte seinen Ruf. Ich glaube sogar, daß es Ladenbesitzer gab, die Angst hatten, seine Erzeugnisse nicht zu führen, und es nur deshalb taten, weil man sie einschüchterte. Denn wie anders ließ es sich erklären, daß Medikamente von so geringer Qualität – einige davon waren meines Erachtens geradezu gefährlich – immer wieder in den Regalen angesehener Kräuterläden standen?
»Sie brauchen ein Symbol, Harmonie«, sagte Mr. Lee, »damit Ihre Heilmittel auffallen und die Leute sich daran erinnern.«
Aber was für ein Symbol? grübelte ich. Was konnte sich mit einem Drachen messen?
Das große Haus auf dem Hügel war vollgestopft mit schweren, viktorianischen Möbeln. Ich saß inmitten der prunkvollen Einrichtung mit ihren Topfpflanzen, den sanft tickenden Uhren und dem köstlichen Duft von Zitronenöl auf Holz, und mußte immer daran denken, wie es gewesen wäre, wenn mein Vater das Schiffsunglück überlebt hätte. Würde er meine Mutter und mich hierhergeholt haben? Bestimmt wäre unser Leben in diesem Haus ganz anders verlaufen.
Ich war gekommen, um endlich mit Fiona Barclay zu reden. Ich wollte sie um den Namen meines Vaters bitten.
Als sie eintrat, erhob ich mich respektvoll. Ich hatte noch nie ein westliches Haus betreten und mit Ausnahme der Damen aus der Missionsschule in Singapur, bei denen ich Englisch gelernt hatte, keine westliche Frau kennengelernt.
Sie sagte: »Sie möchten mich sprechen?« Dann blieb sie plötzlich stehen und starrte mich an.
Ich weiß nicht, was bei amerikanischen Frauen als schön gilt, aber ich fand Fiona Barclay hübsch. Sie war geschickt geschminkt und trug das Haar so frisiert, wie ich es in einer Zeitschrift gesehen hatte. Ihre Kleidung war aus Seide und elegant. Sie zeigte die Haltung und Würde, die der Herrin eines so großen Hauses angemessen war. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig, aber ich bemerkte eine sonderbare Atemlosigkeit in ihrer Art zu sprechen – es klang wie bei Mrs. Pos Schwiegermutter, einer Frau fortgeschrittenen Alters, wenn sie einen Tag mit ihrer Pfeife verbracht hatte.
»Sind Sie das Mädchen, das den Ring meines Mannes hat?« fragte sie, als sie mich lang genug angestarrt hatte.
»Ich ehre Sie, Erste Gemahlin.«
»Ich bin keine Erste Gemahlin. Ich bin die Gemahlin, und der Ring gehört mir.«
»Verzeihen Sie mir, aber dieser Ring ist alles, was ich von meinem Vater besitze.«
Sie bot mir weder einen Stuhl noch Tee an. Vielleicht ehrten die Amerikaner ihre Gäste anders als wir. »Ihr Vater?« fragte sie.
In diesem Moment betrat eine andere Frau den Raum. Ich erkannte sie von dem Foto in Gideons Brieftasche – es war Olivia, die Gideon seine Freundin genannt hatte. Jetzt sah ich sie aus der Nähe, sah, wie hübsch sie war, wie ihr blondes Haar glänzte, so als sei sie ein Filmstar. Ich erinnerte mich, daß mir Gideon damals vor zwei Jahren im Drugstore erzählt hatte, Olivia sei siebzehn. Also war sie jetzt neunzehn, so alt wie ich. Sie lächelte und fragte, ob ich gerne eine Tasse Tee hätte.
Mrs. Barclay unterbrach sie. »Keinen Tee, Olivia. Diese Frau bleibt nicht lange.« Sie richtete den kalten Blick auf mich. »Sie behaupten, Richard sei Ihr Vater. Können Sie das beweisen? Haben Sie eine Heiratsurkunde?«
Die Heiratsurkunde war gefälscht. Mein Vater hieß darin Richard Smith, irgendein Nachname, damit ich in die Vereinigten Staaten einreisen konnte.
»Eine Geburtsurkunde?«
Ebenfalls gefälscht.
»Junge Dame, ich weiß nicht, was Sie für einen Plan haben, und es ist mir auch gleichgültig. Aber der Ring gehört mir, und ich will ihn wiederhaben.«
»Ich habe keinen Plan.«
»Was wollen Sie dann? Einen Teil der Erbschaft? Geld? Vielleicht in diesem Haus wohnen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts davon.«
»Aber irgend etwas müssen Sie doch wollen.«
»Ich will seinen Namen.«
Sie sah mich mit aufgerissenen Augen an. Olivia beobachtete uns mit verwirrter Miene. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mein Name. Sie sind die einzige, die ihn mir rechtmäßig zurückgeben kann.«
Richard Barclays Witwe musterte mich einen langen Augenblick. Um uns herum ertönten die Geräusche des Nachmittags, das Klingeln der Cable Cars und das ferne Dröhnen der Nebelhörner, die vor dem heranziehenden Nebel über der Bucht warnten. »Ich sollte eigentlich überhaupt keine weitere Minute an Sie verschwenden«, sagte sie endlich, »aber ich gestehe, daß ich neugierig auf die unverschämte Geschichte bin, die Sie mir offenbar auftischen wollen. Wie soll denn mein Mann Ihre Mutter kennengelernt haben?«
Ich erzählte ihr, wie man Richard zusammengeschlagen und meine Mutter ihn gepflegt hatte. Ich berichtete von seinem Gedächtnisverlust und den tiefen Wunden. Ich sagte ihr nicht, daß sich alles im geheimen über Madame Wahs Seidengeschäft abgespielt hatte, und auch nicht, daß meine Mutter und Richard nicht verheiratet gewesen waren, als sie zueinanderfanden.
»Gedächtnisverlust? Woher wissen Sie dann, wer er war?«
Ich erklärte ihr, was ich mit dem Ring im Juwelierladen erlebt und wie der Juwelier den jungen Mann mit »Mr. Barclay« angeredet hatte. Was ich verschwieg, war, daß Gideon mich in einen Drugstore geführt und versucht hatte, mich zu einem heißen Karamelsundae einzuladen. Ich glaubte ihm, daß er sein Wort gehalten und seiner Mutter erzählt hatte, er habe mich nicht finden können.
»Aber das ist nicht alles«, fuhr ich hoffnungsvoll fort. »Mein Vater konnte sich zwar an nichts erinnern, was ihn selbst betraf. Aber er erinnerte sich an San Francisco und erzählte meiner Mutter Geschichten …«
Fiona hob die Hand. »Genug. Nichts von dem, was Sie mir da erzählen, ist ein Beweis.«
Aber ich hatte einen Beweis: den Brief, den Richard Barclay meiner Mutter hinterlassen hatte. Mrs. Barclay würde seine Handschrift und seinen Namenszug wiedererkennen. Der Brief steckte in meiner Handtasche, und ich wollte gerade danach greifen, als Mrs. Barclay plötzlich sagte: »Das ist alles zu schmerzlich für mich. Ich hätte Sie nicht empfangen dürfen.« Sie holte schwer Atem. »Geben Sie mir den Ring meines Mannes, und ich sehe davon ab, die Polizei zu rufen.«
»Aber ich habe einen Beweis«, beharrte ich und holte den Brief heraus. Mrs. Barclay hätte nur einen kleinen Teil davon zu lesen brauchen, um zu erkennen, daß ich wirklich Richards Tochter war.
»Ich interessiere mich nicht für Ihren sogenannten Beweis«, antwortete sie und atmete noch mühsamer.
»Fiona …« Olivias Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.
Mrs. Barclay winkte ab. Sie legte die Hand auf ihre Brust und sagte mit gepreßter Stimme: »Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig. Aber falls Sie glauben, ich nähme diese Angelegenheit leicht: Richard Barclay war mein geliebter Gatte. Er liebte mich von ganzem Herzen, wir waren unzertrennlich, und wenn Sie nun hier mit Ihren schmutzigen Geschichten auftauchen …« Sie fing plötzlich an zu keuchen.
Olivia eilte herbei und half ihr in einen Sessel.
»Der Ring«, flüsterte Mrs. Barclay heiser. »Ich muß den Ring …«
Olivia rannte in die Diele und schrie: »Rufen Sie Dr. Hafner! Mrs. Barclay hat einen Anfall! Schnell!«
Sie kam zurück, lief zu Mrs. Barclay und bemühte sich ungeschickt, die Knöpfe an ihrem Kragen zu öffnen. Aber Fiona versuchte zu atmen. Sie stieß Olivia zurück und riß den Mund weit auf, um nach Luft zu ringen.
»Kämpf nicht dagegen an, Fiona!« rief Olivia. »O mein Gott!«
Ich warf meine Tasche auf einen polierten Tisch, stopfte den Brief hinein und zog ein Fläschchen Goldlotus heraus, das ich für den Notfall immer bei mir trug. Ich hielt es Olivia hin. »Geben Sie ihr das.«
»Sehen Sie nicht, daß sie nicht atmen kann? Sie erstickt!«
Ich ging zu Fiona, legte ihr den Arm um die Schultern und hielt die geöffnete Flasche an ihre Lippen. »Kämpfen Sie nicht dagegen an«, sagte ich, »wehren Sie sich nicht. Sie haben genügend Luft in den Lungen. Nehmen Sie einen Schluck hiervon. Es löst den Krampf.«
Nach dem ersten Schluck hustete, spuckte und keuchte Fiona nur noch mehr. Aber ich blieb hartnäckig. »Versuchen Sie zu schlucken«, sagte ich und flößte ihr noch etwas ein, aber es lief ihr nur das Kinn hinunter.
»Was tun Sie da?« schrie Olivia.
Mrs. Barclays Augen waren angstgeweitet. Ich sah die bläuliche Verfärbung ihrer Lippen. Kurzentschlossen hielt ich ihre Schultern fest und kippte die Flasche in ihren aufgerissenen Mund. Sie hustete wieder und spuckte den Wein nach allen Seiten.
»Sie werden Sie ertränken!« kreischte Olivia und versuchte mich wegzureißen.
Andere Leute kamen herbeigerannt. Jemand rief: »Öffnen Sie die Fenster, damit Luft hereinkommt!«, und jemand anders sagte: »Doktor Hafner ist unterwegs.«
Ich kümmerte mich nicht um sie und versuchte erneut, Fiona den Goldlotuswein einzuflößen. Nicht aus Liebe zu Mrs. Barclay war ich so hartnäckig, denn ich mochte sie nicht. Ich tat es für Gideon. Beim vierten Versuch schluckte sie den Wein. Der Husten ließ nach und das mühsame Schnaufen beruhigte sich. Sie füllte ihre Lungen und brach in meinen Armen zusammen. Ich ließ sie in den dicken Polstersessel sinken und trat zurück, damit die anderen sich um sie kümmern konnten. Ein großer Mann mit Gärtnerschürze hob die fast Bewußtlose auf seine Arme und trug sie aus dem Zimmer.
Gleich darauf war ich allein. Niemand sagte etwas zu mir oder würdigte mich eines einzigen Blickes.
Während ich in dem großen, stillen Empfangszimmer saß und wartete, holte ich den Brief meines Vaters heraus und las ihn, obwohl ich ihn schon so oft gelesen hatte, daß ich ihn auswendig konnte.
»Ich verlasse Dich nur ungern, Mei-ling, mein kostbarer Schatz. Aber bevor wir heiraten können, muß ich zu Hause etwas in Ordnung bringen, und ich muß es selbst tun. Mein Liebling, ich bin an eine Ehe ohne Liebe gefesselt. Aus Mitleid habe ich eine Frau geheiratet, die ein gewissenloser Schuft mit ihrem Baby sitzenließ. Ich will nicht weiter mit Fiona leben.
Meine Anwälte sollen eine Regelung finden, damit sie und Gideon versorgt sind, und dann werde ich zu Dir, mein Herz, zurückkehren, und für immer mit Dir glücklich sein.«
Ich faltete den Brief sorgsam zusammen, steckte ihn wieder in die Handtasche und schaute an die Decke, als könnte ich durch sie hindurchsehen und beobachten, was im Obergeschoß vor sich ging.
»Richard Barclay war mein geliebter Gatte. Wir waren unzertrennlich.«
Mein Brief bewies, daß der Ring mir gehörte und ich ein Recht auf den Namen Barclay hatte. Aber wenn ich ihn Fiona zeigte, würde ich ihre kostbaren Erinnerungen an Richard und die Illusion seiner Liebe zerstören. Verschwieg ich ihn jedoch, konnte ich meinen Rechtsanspruch auf den Ring nicht nachweisen, und sie konnte mich verhaften lassen.
Was sollte ich ihr geben – Brief oder Ring?
Olivia betrat das Empfangszimmer. »Fiona möchte Sie sprechen. Würden Sie mir bitte folgen?«
Am Fuß der Treppe drehte sie sich zu mir um. »Das war sehr mutig und gut von Ihnen, vor allem, nachdem sie Sie so behandelt hat. Ich weiß nicht, was für Geschäfte Sie mit Mrs. Barclay haben und wie Sie zueinander stehen, aber ich finde, daß sie grob zu Ihnen war. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für Ihre Hilfe.«
Während ich ihr die große Treppe hinauf folgte, sah ich erst, wie groß das Haus wirklich war und wie voll von Reichtümern und Erinnerungsstücken an eine glorreiche Vergangenheit. Überall hingen Gemälde von Vorfahren in der Tracht ihrer Zeit. Es war dem Haus meiner Mutter in Singapur, das wir verlassen mußten, sehr ähnlich – bewohnt von Geistern früherer Generationen. Fiona Barclay hatte alles, und ich hatte nichts.
Ich traf meine Entscheidung. Ich würde ihr den Brief geben und meinen Namen fordern.
Doch dann betrat ich ihr Schlafzimmer. Ich sah mich um. Überall hingen und standen Bilder – gemalte Porträts, kleine Schnappschüsse, ausgeschnittene Zeitungsfotos – eine einzige Erinnerung an meinen Vater. In diesem Zimmer hatte Fiona ihren Mann und ihre Liebe zu ihm am Leben erhalten. Aber es gab auch noch andere Bilder: ein Baby, ein Krabbelkind, ein kleiner Junge in kurzen Hosen, ein älterer in weißem Tennisdreß, ein junger Mann in Blazer und bequemen Hosen – ihr Sohn, mein geliebter Gideon.
»Meine Mutter war verwitwet und ich ein Baby, als sie Richard Barclay heiratete«, hatte mir Gideon im Drugstore erzählt. Und doch hatte Richard in seinem Brief geschrieben, er hätte Fiona aus Mitleid zur Frau genommen, weil ein Schuft sie sitzengelassen hatte.
Gideon wußte also nichts davon. Fiona mußte ihm irgendeine Geschichte erzählt haben, vielleicht etwas ganz Edles – daß sein Vater als Kriegsheld gestorben war, zum Beispiel. Genauso hatte meine Mutter ihrer Dienerin befohlen, ihrem eigenen Vater zu berichten, sie sei in der Bucht ums Leben gekommen, während sie versuchte, ein ertrinkendes Kind zu retten.
Wie engherzig war ich doch gewesen! Ich hatte nur an mich selbst und Fiona Barclay gedacht und das Herz des Dritten in dieser Gleichung nicht berücksichtigt, das meines geliebten Gideon, dem das, was ich mitgebracht hatte, sehr weh tun würde.
»Ich kann so gut atmen wie schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Mrs. Barclay aus ihrem imposanten Himmelbett heraus. Sie war jetzt in Satin und Spitzen gehüllt und lehnte in üppigen weißen Kissen. »Olivia hat mir gesagt, Sie hätten mir etwas von Ihrer eigenen Medizin gegeben.«
Ich holte die Flasche Goldlotus aus der Tasche und gab sie ihr. Sie inspizierte das Etikett. »Ich werde es natürlich von meinem Drogisten analysieren lassen. Vielleicht kann er etwas davon für mich herstellen.« Sie stellte die Flasche beiseite. »Kann ich nun bitte den Ring meines Mannes haben?«
Ich sah auf die ausgestreckte Hand und überlegte, weshalb ich hergekommen war. Ich dachte an das, was in meiner Handtasche steckte. Ich betrachtete die Frau, die Gideons Mutter war, und das kleine Foto im silbernen Rahmen neben dem Bett: Gideon als kleiner Junge.
Schließlich nahm ich die Kette vom Hals und trennte mich zum ersten Mal, seit meine Mutter ihn mir gegeben hatte, vom Ring meines Vaters.
Ihre Finger umklammerten ihn. Sie schloß die Augen und führte die Faust an die Brust. Ich wußte, daß sie in dieser Sekunde ihren geliebten Richard umarmte.
Nach einer Weile sagte sie mit glänzenden Augen: »Ich bin jetzt müde. Olivia wird Sie hinausbringen.«
»Ich bin Richard Barclays Tochter«, erklärte ich sanft. Ich wollte, daß sie es bestätigte, hier vor Olivia, einer Zeugin, die es Gideon berichten würde. Ich verlangte nicht mehr. Nur ein »ja«.
Aber Fiona schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht die Tochter meines Mannes.« Sie rief einen Hausdiener, damit er ihr Mittagessen hereinbrachte, und bat Olivia, ihr die Kissen aufzuschütteln, die Vorhänge zu öffnen und ihr eine Zeitschrift zu reichen. Während der chinesische Junge, den ich draußen stehen gesehen hatte, mit dem Tablett kam und es an Olivia weitergab, die es dann auf Fionas Schoß stellte, blieb ich regungslos stehen. Worauf wartete ich noch? Ich wußte es nicht.
Fiona Barclay begann zu essen. Sie bemerkte, es fehle der Suppe an Salz, und fügte welches hinzu.
»Mrs. Barclay«, sagte ich, »als Sie vorhin herunterkamen, blieben Sie stehen und starrten mich an. Mein Anblick hat Sie erschreckt. Warum? Was haben Sie gesehen? Die Ähnlichkeit mit Ihrem verstorbenen Gatten?«
Ohne die Augen von ihrer Suppe zu heben, erwiderte sie: »Als mir das Mädchen eine Besucherin meldete, rechnete ich nicht mit einer Chinesin. Ich danke Ihnen, daß Sie mir meinen Ring zurückgegeben haben. Sie können jetzt gehen.«
Ich wartete weiter, bis schließlich Olivia zu mir kam und mit freundlicher Stimme sagte: »Bitte, kommen Sie. Ich bringe Sie hinaus.«
Aber ich hatte noch meine Würde. Ich konnte den Weg allein finden. Ich sah auf Fiona und verabschiedete mich. »Es war eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben, Erste Gemahlin.«
Halbblind vor Schmerz und Enttäuschung stolperte ich nach unten. An der Haustür war mir, als hörte ich jemanden leise nach mir rufen. Ich sah den chinesischen Jungen hinter einem Vorhang hervortreten. Er winkte mir, und ich ging zu ihm. »Ist okay«, sagte er auf englisch und grinste. »Alles okay.«
»Was ist okay?«
»Dame nicht nett zu Ihnen. Aber okay.« Sein Grinsen wurde breiter. »Ich pisse in ihre Suppe.«
Als ich in meine Wohnung zurückkam, fand ich dort Mr. Lee, der mich geduldig erwartet hatte. »Ich habe etwas für Sie, Harmonie«, sagte er und überreichte mir schüchtern ein kleines Blatt Papier. Es war das köstlichste Miniatur-Tuschbild, das ich je gesehen hatte: eine silberne Trauerweide, die sich in einem blauen See spiegelte. Geschickt in die Blätter und Zweige verflochten waren chinesische Schriftzeichen und englische Buchstaben mit dem Text
»Chinesische Heilmittel von Vollkommener Harmonie.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, erklärte Mr. Lee, »was für ein Symbol Sie benutzen könnten. Der Rote Drache ist rot und aggressiv, zuviel Hitze, zuviel Yang. Ihre Heilmittel sind sanfter, mehr Yin. Darum ist mir dieses Bild eingefallen. Wir können es auf allen Ihren Erzeugnissen anbringen.«
»Können Sie es vervielfältigen, Mr. Lee?« fragte ich. Obwohl wir uns seit zwei Jahren kannten, nannte ich ihn noch immer nicht beim Vornamen.
»Ich kann es einem Mann bringen, der so etwas macht. Und ich kann andere Bilder malen – Schildchen für Ihren Tee und Ihre Tabletten.« Ich merkte, daß wir plötzlich die gleiche Vision hatten: meine ganzen Heilmittel in den Regalen, alle mit diesen schönen, neuen, blausilbernen Etiketten, an denen die Leute sie sofort erkannten.
Lächelnd meinte er: »Jetzt haben Sie einen Namen.« Und als er meine Tränen sah, nahm er an, es seien Freudentränen.