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Schon von weitem erkannte Charlotte Margos Parfüm: »Tuscany« von Estée Lauder. Sie wußte, daß Margo niemals Produkte von Harmony benutzte. Ihre Bäder zu Hause und das Privatbadezimmer neben ihrem Büro waren voll mit Sachen von Clairol, Lancôme, Elizabeth Arden … als wollte sie betonen, wie sehr sie das Unternehmen verachtete, das sie doch so gerne besessen hätte.
Margo drehte sich um, und Charlotte bemerkte die harten Wutfalten um ihre Augen. Das Lächeln für die Öffentlichkeit war selbstverständlich da – niemand verstand es besser als Margo, einen guten Eindruck zu machen. Nicht umsonst war sie als Vizepräsidentin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Aber unmittelbar unter der Oberfläche brodelte es.
Margos Blick huschte nach unten, und Charlotte wußte genau, wonach sie Ausschau hielt. Charlotte trug das Medaillon aus der Shang-Dynastie nicht immer, sondern nur an Tagen, die innere Stärke von ihr forderten. Wie ihr Sohn Desmond hätte Margo sie nur allzugerne gefragt, was sich in jenem Sommer, als Charlotte verschwunden gewesen war, abgespielt hatte. Aber Charlotte wußte auch, daß Margo im Gegensatz zu Desmond stumm bleiben würde.
Sie hatte nur einmal gefragt.
Nie würde sie Margos überraschende Einladung zu einem Einkaufsbummel vergessen, die einzige Gelegenheit, an die sie sich erinnern konnte, bei der Margo nett zu ihr gewesen war. Charlotte, damals erst fünfzehn, hatte sich geschmeichelt gefühlt und. keinerlei Verdacht gehegt. Erst als Margo beim Mittagessen das Gespräch geschickt auf Charlottes geheimnisvolle dreiwöchige Abwesenheit gelenkt hatte, war ihr klargeworden, worum es bei. dieser Einladung eigentlich ging. »Charlotte, Liebes, wo warst du denn nun wirklich mit deinem Onkel?«
Charlotte hatte das häßliche Wort, das man hinter ihrem Rücken flüsterte, damals noch nicht gekannt: Inzest. Erst Jahre später, als Desmond in einer seiner bissigen Stimmungen zu ihr gesagt hatte: »Aber du weißt doch, was die Familie glaubt, was zwischen dir und meinem Großvater passiert ist?«, hatte sie es begriffen. Sie hatte ihm nicht erzählt, was er wissen wollte, so wenig wie Margo bei jenem Mittagessen, oder Tante Olivia, oder sonst irgend jemandem. Der einzige, dem sie es anvertraut hatte, war Jonathan.
»Charlotte! Liebling!« Margo küßte die Luft neben Charlottes Wangen. »Das ist ja furchtbar, wirklich furchtbar! Adrian und ich haben beschlossen, daß diese Last für dich allein einfach zu schwer ist. Laß dir von uns helfen. Leg einen Teil deiner Verantwortung auf unsere Schultern. Du mußt zugeben, daß es nur vernünftig ist, wenn du in dieser schrecklichen Krise für eine Weile zurücktrittst und die Kontrolle Erfahreneren überläßt.«
»Ich schaffe es schon, Margo«, erwiderte Charlotte und dachte an Margos Wut und Empörung, als Charlotte die Führung des Unternehmens geerbt hatte. Margo war sicher gewesen, sie oder Adrian würden den Posten bekommen.
»Aber, Liebes, die gräßlichen Demonstranten da draußen mit ihren Schildern! Diese ganze widerliche Tieraffäre wird wieder an die Öffentlichkeit kommen. Bist du sicher, daß du das alles noch einmal durchmachen willst?«
Sie schien voller Anteilnahme und Fürsorge, aber Charlotte durchschaute diese Fassade und dachte: Sie hat mir immer noch nicht verziehen, daß ich ihr das Geheimnis nicht anvertraut habe.
»Margo, ich habe eine Konferenz angesetzt.«
»Eine Konferenz! Wann?«
»Jetzt gleich. Du, Adrian, Desmond und Mr. Sung. Im Sitzungszimmer der Geschäftsleitung.«
Margo gab einen müden Seufzer von sich. »Es kann wohl nicht warten, Herzchen?«
»Nein. Würdest du bitte Adrian Bescheid sagen?«
Bevor Margo weitere Einwände erheben konnte, war Charlotte den Gang hinuntergegangen, um die anderen Teilnehmer zu holen. Im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter fand sie Agent Knight, der sich Kaffee aus dem Automaten holte. Als sie ihn einlud, an der Sitzung teilzunehmen, akzeptierte er auf eine Weise, die ihr sagte, daß er ohnehin teilgenommen hätte, aufgefordert oder unaufgefordert.
Endlich hatten sich alle am Ende des langen, polierten Tisches im Geschäftsleitungszimmer eingefunden. Charlotte räusperte sich, tastete nach dem elektronischen Stöpsel in ihrem Ohr und sagte: »Desmond, würdest du bitte die Tür schließen?«
Während sie zu der kleinen Gruppe sprach und dabei betete, daß Jonathan schnell und ungehindert arbeiten konnte, wanderten Charlottes Gedanken zu dem Foto ihrer Großmutter als Schulmädchen in Singapur. Ob Jonathan sich wohl noch an den Tag erinnerte, als sie ihn zum ersten Mal ihrer Großmutter vorgestellt hatte und er zum Abendessen geblieben war und alles, was ihre Großmutter gekocht hatte, so gierig verschlang, als hätte er seit Ewigkeiten nichts mehr zu sich genommen? Ihre Großmutter hatte ihn geschickt dazu gebracht, von sich zu erzählen, und so hatte Charlotte seine Lebensgeschichte erfahren, die ihr so wunderbar tragisch und romantisch vorgekommen war.
Obwohl Jonathan in Amerika geboren war, hatte er seine Kindheit in Schottland verbracht, am östlichen Rand der Highlands, in einem kleinen Dorf nördlich von Dundee. Sein Vater war ein reicher amerikanischer Geschäftsmann, der einer Laune folgend durch Schottland gereist war, um seine Clan-Wurzeln zu suchen. Im idyllischen Sommer war Robert Sutherland der hübschen Mary Sutherland – keine Verwandte, es sei denn vielleicht wenn man die Stammbäume über Jahrhunderte zurückverfolgte – begegnet und hatte sich in sie verliebt. Die Flitterwochen im malerischen Inverness brachten ein gutes Zeichen für die Ehe: innerhalb von zwei Monaten war Mary schwanger. Dann aber hatte Robert seine schwangere junge Frau in die USA mitgenommen, in sein Penthaus in Manhattan, zu den Geschäftsessen und Opernabonnements, und Mary hatte durchgehalten, bis das Baby sechs Monate alt gewesen war. Als sie dann erklärte, sie wolle nach Hause zurück, erhob Robert keine Einwände, denn ihre Liebe war irgendwo zwischen der Heide und dem Horizont abgestorben.
Die Scheidung fand einvernehmlich und in aller Stille statt, und Mary durfte den Jungen behalten. Danach sah Jonathan seinen Vater nur noch in den Ferien. Ein Privatflugzeug holte ihn ab, und er verbrachte zwei Wochen in San Francisco, Honolulu oder Chicago, gewöhnlich in der Gesellschaft von Kammerdienern und Leibwächtern, um dann mit Koffern voller nutzloser, teurer Geschenke für die einfachen Leute zu Hause in den Highlands wieder zurückgeflogen zu werden. Mit zwölf Jahren lehnte er die Einladung, Weihnachten mit seinem Vater zu verbringen, schließlich ab. Robert Sutherland bestand nicht darauf. Als Jonathan dreizehn wurde, erkrankte seine Mutter und starb an einer nicht erkannten, angeborenen Herzkrankheit. Der Vater erhob pflichtgemäß Anspruch auf seinen Sohn und holte ihn »heim« nach San Francisco, wo der ungeschliffene Hochlandjunge auf ein teures Privatgymnasium in Pacific Heights geschickt wurde, um ein »richtiger« Amerikaner zu werden. Das war, als Charlotte ihn damals gefunden hatte, weinend im Park, weil er nicht wußte, wohin er gehörte. Und sie hatte ihn damit getröstet, daß sie auch nicht wüßte, ob sie nun Chinesin oder Amerikanerin sei.
Jetzt stellte sie ihn sich vor, wie er ausgesehen hatte, als er vor wenigen Stunden angekommen war. Sein grauer Dreiteiler mit den feinen maßgeschneiderten Details wie richtigen Ärmelknopflöchern für die Manschettenknöpfe – ein unauffälliger Hinweis auf Geschmack und Reichtum des Trägers – hatte sie an die Abende erinnert, an denen sie mit Jonathans Vater gegessen hatten. Robert Sutherland führte die beiden Halbwüchsigen in die teuersten Restaurants an der Bucht. Bei Kaviar und Wachteleiern, Châteaubriand mit Sauce Béarnaise und stets flambierten Desserts pflegte er sich dann zu räuspern und zu erklären: »Charlotte ist ein Name von großer Bedeutung in der Literaturgeschichte. Man denkt an Charlotte Brontë.« Oder: »Die Chinesen besitzen eine reiche und alte Kultur. Von ihnen haben wir die Spaghetti, wißt ihr, jawohl, das stimmt, Marco Polo …« Und er hielt ihnen nette kleine Vorträge, um die Kluft zwischen sich selbst und den beiden Kindern zu überbrücken, die ihn verwirrte.
Robert Sutherland, dachte Charlotte, war vierzig gewesen, als er nach Schottland reiste. Ein Millionär und Selfmademan, ein kinderloser Junggeselle, auf der Suche nach seinen Wurzeln. Er fand sie nicht, aber er pflanzte ein Samenkorn. Charlotte staunte, wie ähnlich Jonathan seinem Vater geworden war. Von dem langhaarigen Rebellen gegen das Establishment, dem das FBI auf den Fersen gewesen war, weil er sich in fremde Telefonnetze eingeschlichen hatte, war nichts geblieben. Jetzt arbeitete er mit dem FBI zusammen und zeigte den Leuten dort, wie man internationale Hacker aufspürte.
Dieses Jahr wirst du vierzig, Johnny, hätte sie am liebsten gesagt. Wohin wird deine Midlife-Krise dich führen? In wessen Arme?
Als sie die ungeduldigen Gesichter vor sich wahrnahm, wurde ihr klar, daß sie allmählich den Eindruck erwecken mußte, die anderen nur hinhalten zu wollen, indem sie ihnen Einzelheiten erzählte, die sie schon kannten. Sie schaute auf die Wanduhr. Wieviel Zeit war vergangen? Reichten Jonathan wirklich zehn Minuten, um die Büros zu verwanzen? Außerdem hatte er eine Kamera mitgenommen. Wozu?
»Okay«, fuhr sie fort, »wir müssen also etwas unternehmen. Desmond, ich möchte, daß du dich mit sämtlichen Handelsvertretern in Verbindung setzt und ihnen mitteilst, sie sollen jeden einzelnen Großhändler in ihrem Gebiet persönlich aufsuchen. Sie sollen fragen, ob jemand etwas Verdächtiges bemerkt hat, ob sich Kunden über Harmony beschwert haben …«
»Charlotte!« Die Brauen hinter der Sonnenbrille waren finster zusammengezogen. »Das ist die Aufgabe des FDA, nicht unsere!«
»Des, ich möchte, daß wir der Sache selbst nachgehen. Es ist nicht unmöglich, daß jemand etwas gesehen hat, zum Beispiel einen Kunden, der an unseren Packungen herumhantierte.«
Sie machte eine Pause und wartete vergeblich auf Jonathans geflüsterte Entwarnung in ihrem Kopf. Dann wandte sie sich Margo zu. »Ich werde morgen früh als erstes eine Presseerklärung abgeben. Ich möchte, daß du für möglichst weite Verbreitung sorgst.«
Margo antwortete nicht. Sie nahm keine Anweisungen entgegen, nicht, seit Charlotte, die fast dreißig Jahre Jüngere, Vorstandsvorsitzende geworden war.
Wieder spähte Charlotte auf die Uhr. Sie sah, daß Agent Knight das gleiche tat. Kein Flüstern von Jonathan.
Desmond stand auf. »Wenn es dir recht ist …«
»Adrian, ich möchte, daß du die Gratifikationen auszahlen läßt. Die Mitarbeiter werden darin ein gutes Zeichen dafür sehen, daß unser Unternehmen nicht gefährdet ist.«
»Tja …« Adrian zögerte. »Aber das stimmt nicht, oder?«
Beeil dich, Jonathan, dachte sie, als Desmond zur Tür ging.
»Desmond, wir sind noch nicht fertig. Adrian, es ist wichtig für uns, alles zu tun, um Mitarbeitern und Privatinvestoren zu zeigen, daß Harmony eine gesunde Firma ist und wir die Situation unter Kontrolle haben.«
Adrian murmelte etwas von dringenden Telefongesprächen und stand auf. Margo folgte seinem Beispiel, ebenso Mr. Sung, der die ganze Zeit über kein einziges Wort gesagt hatte.
Charlotte suchte krampfhaft nach weiteren Themen. »Ich dachte, ihr hättet auch noch etwas beizutragen«, begann sie.
Desmond hatte die Hand schon an der Klinke. »Mein einziger Beitrag gilt im Augenblick mir selbst: ein dickes Steak, saftig und roh, das in Ketchup schwimmt.«
Agent Knight stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und sagte: »Ich stimme für den Steak-Antrag.«
Desmond riß die Tür auf. Man sah den äußeren Empfangsbereich, die Korridore und die Türen zu den Büros.
Charlotte klopfte das Herz bis zum Hals.
Und dann …
»He, Charlotte. Wo bist du? Ich bin auf halbem Weg nach China.«