5
Auf die Woge von Gefühlen, die sie überschwemmte, als sie ihn dort stehen sah, wie aus ihren Gedanken entsprungen, war Charlotte nicht vorbereitet.
Die Liebe, die sie einst für diesen Mann empfunden hatte – eine tiefe, verzweifelte Liebe, nun schon so lange begraben –, kehrte machtvoll zurück, gewaltig wie ein Monsun in Singapur.
»Hallo, Liebes«, hatte er gesagt, und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Er nannte sie »Liebes«. Aber dann fiel ihr ein, daß die Ladeninhaber in London, wenn sie einem das Wechselgeld zurückgaben, auch immer sagten: »Hier, Liebes.«
Sie mußte mit aller Kraft an sich halten, um sich nicht in seine Arme zu werfen. Beim Anblick des vertrauten Lächelns fand sie sich jäh in die Zeit zurückversetzt, als sein Mund den ihren zum ersten Mal berührt hatte. Sie und Jonathan hatten in seinem Geheimversteck gesessen, und er hatte geweint. Als sie ihn mit den Worten »Mach dir keine Sorgen, Johnny« getröstet und ihn ungeschickt umarmt hatte, hatten ihre Lippen sich irgendwie getroffen. In dieser Sekunde hatte die fünfzehnjährige Charlotte zwei schmale hohe Kerzen vor sich gesehen, wie Fackeln, die sich zueinander neigten, bis sie zu einer einzigen Flamme verschmolzen, heiß und verzehrend.
Nach diesem jugendlichen Kuß voller Leidenschaft hatten sie und Jonathan sich atemlos voneinander gelöst, weil sie beide die Grenze erkannt hatten, an der sie standen, und sich davor fürchteten. Aber Charlotte hatte das Gefühl gehabt, nur noch die Hälfte dessen zu sein, was sie Augenblicke zuvor noch gewesen war. Es war, als hätte erst Johnny sie zu einem Ganzen gemacht. Ohne ihn würde sie sich nie wieder als Ganzes fühlen.
Und auch Johnny hatte es so empfunden. Er hatte es nicht gesagt, weil Johnny nie fähig gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Aber seine Augen sagten alles. Sie wußten es beide. Charlotte und Jonathan waren verwandte Seelen, und in ihrer Welt konnte es nie andere Menschen geben.
»Ich weiß, ich hätte erst anrufen sollen, ob du meine Hilfe überhaupt willst«, sagte er mit einem dunklen, schwermütigen Blick, der sie an die Leidenschaft vergangener Zeiten erinnerte. »Aber ich dachte, vielleicht lehnst du meine Hilfe ab, und dann hätte ich trotzdem kommen müssen, und es wäre alles ganz peinlich gewesen.«
Er ist sehr britisch geworden, dachte Charlotte. Als ob er es bewußt darauf angelegt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie er sich gegen die Versuche seines Vaters gewehrt hatte, ihn zu einem richtigen Amerikaner zu machen, obwohl Jonathan Sutherland rein technisch gesehen Amerikaner war – so stand es in seiner Geburtsurkunde. Ihr fiel ein, daß es das erste war, was sie über ihn erfahren hatte: daß sein Herz nicht für diesen Erdteil schlug. Deshalb hatte sie sich in ihn verliebt.
»Woher wußtest du, daß ich Hilfe brauche?«
Jonathan schloß die Tür hinter sich, zog den nassen Regenmantel aus und antwortete: »Ich gucke Fernsehen. Als ich von den Todesfällen hörte, habe ich ein paar Telefongespräche geführt.« Ein kurzes, schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich habe immer noch Freunde bei der Agentur. In den ersten beiden Fällen scheint die Verpackung nicht beschädigt gewesen zu sein, bevor die Opfer sie öffneten. Eine vorläufige Grobanalyse der unverdauten Produkte ergab, daß der gesamte Inhalt der Packungen verändert worden war, nicht nur das, was die Opfer zu sich genommen hatten. Ich betrachte das als deutlichen Hinweis dafür, daß die Produkte bereits hier im Werk manipuliert worden sind. Nun weiß ich zufällig«, er stellte seine schwarze Nylonreisetasche auf ihren Schreibtisch und öffnete den Reißverschluß eines Seitenfachs, »daß die chemische Verarbeitung und Herstellung hier bei Harmony vollständig computerisiert ist …«
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht«, sagte sie, verblüfft, wie sehr er immer noch die Fähigkeit besaß, die Dinge in die Hand zu nehmen – ein richtiger Mann.
»Darum werden wir den Täter, oder zumindest seine Spuren, irgendwo in eurem Datensystem finden. Und da ich zufällig der absolut beste Computerdetektiv auf diesem Erdball bin …«
»Kannst du es besser als ein Team von Bundesagenten?«
Jonathan lachte auf. »Die Kerle können nicht mal eine Festplatte von einer Schallplatte unterscheiden. Also gut. Was kannst du mir noch über den Fall erzählen?«
Sie sah seinen herausfordernden Blick und verstand, daß es bei Jonathans Erscheinen hier um weit mehr ging als um die Suche nach einem Killer. Jonathan hatte sechsundzwanzig Jahre Geschichte mitgebracht – ihre gemeinsame Geschichte. Charlotte spürte die plötzliche Angst, daß sie im Begriff waren, ein sehr gefährliches Raubtier von der Kette zu lassen.
Sie wollte sagen: »Ich bin froh, daß du gekommen bist.« Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Statt dessen erzählte sie ihm alles, was sie wußte, auch von dem Unfall in der Garage, und dann zeigte sie ihm die E-Mails.
Finster betrachtete er den Bildschirm. »Wer wußte von der Sache mit der Garage?«
»Meine Haushälterin und ihr Mann. Ich habe es auch Desmond erzählt. Aber jemand könnte uns belauscht haben. Es war bestimmt ein Unfall, Jonathan, und dieser Mensch will mir einfach nur Angst machen.«
Sein Blick war ausdruckslos. »Wozu soll diese öffentliche Erklärung dienen, die du innerhalb von zwölf Stunden abgeben sollst?«
Charlotte studierte sein Profil und erinnerte sich an eine Zeit, in der Jonathan seine große Nase peinlich gewesen war. Aber natürlich war er mit der Zeit in sie hineingewachsen und hatte zudem noch ein kräftiges Kinn und eine Stirn bekommen, die sie immer sexy gefunden hatte. Sein dunkelbraunes Haar war nach wie vor dicht und ohne jegliches graues Haar, obwohl er in Kürze vierzig werden würde. Sein Körper machte einen durchtrainierten Eindruck. »Erpressung, nehme ich an«, antwortete sie und merkte, wie das alte Verlangen in ihr aufwallte. »Eine solche Erklärung würde meine Firma ruinieren. Der Kerl hofft zweifellos, ich würde ihm anbieten, mich freizukaufen.«
»Und die Todesursache beim dritten Opfer, die Gehirnblutung … du bist sicher, daß niemand davon weiß?«
»Agent Knight hat mir gesagt, daß er diese Information zurückhalte. Ich habe nicht einmal Desmond davon erzählt. Wer also außer dem Killer könnte davon wissen?«
»Es gibt Wege, auch an geheime Informationen heranzukommen«, versetzte Jonathan nachdenklich, den Blick auf den Monitor geheftet. »So, so«, sagte er leise. »Desmond ist also immer noch in der Firma?«
»Er ist Vorstandsmitglied.« Charlotte dachte an die erbitterte Rivalität, die zwischen Jonathan und ihrem Cousin geherrscht hatte. Wie oft mußte sie damals Frieden stiften!
»Gibt es eine Möglichkeit, diese Briefe zurückzuverfolgen?« fragte sie.
»Nein. Sie sind über einen anonymen Provider gekommen. Es ist so gut wie unmöglich, ihren Weg zum Absender zurückzuverfolgen.« Er sah sich im Büro um. »Wer könnte hier hereinkommen und deinen Computer anstellen?«
»Praktisch jeder. Er braucht nur zu wissen, wo die Schlüssel liegen.«
»Wer kennt dein Paßwort?«
»Keiner außer mir, und es gibt keine Möglichkeit es herauszufinden. Ich habe es nirgends aufgeschrieben.«
Sie bemerkte, wie Jonathan aufmerksam ihr Büro musterte, als suche er nach Hinweisen und Antworten. Sie erinnerte sich daran, daß er schon immer so gewesen war und in seiner Umgebung nach Antworten gesucht hatte, die am Ende meist aus seinem eigenen Inneren kamen. Sie bemerkte, daß seine Augen auf dem geöffneten Wandsafe ruhten, worin der in Leder gebundene Gedichtband zu erkennen war. Und in seinem Blick flackerte etwas auf, was Charlotte für einen Moment erschrecken ließ: es schien ihr, als sei es tiefer Schmerz. Aber das konnte nicht sein. Sie war diejenige gewesen, der man weh getan hatte.
Sie beobachtete ihn, wie er sich mit langen, eleganten Fingern das nasse Haar zurückstrich, und dachte an den unschuldigen Anfang ihrer Liebe, damals, als sie unzertrennlich gewesen waren, zwei Kinder, die gemeinsam vom Sprungbrett hüpften oder einander umarmten, atemlos vor Lachen, Jonathans Finger um ihr Handgelenk, als er sie endlich an seinen erstaunlichen und geheimen Ort führte. Damals waren sie dreizehn gewesen, vierzehn, fünfzehn.
Für einen Augenblick wäre Charlotte an diesem stürmischen, alptraumhaften Abend, an dem das Licht flackerte und es überall nur so von Bundesagenten wimmelte, am liebsten in den Schatten der Golden-Gate-Brücke zurückgekehrt, um dort zu sitzen und die Schiffe zu zählen, während Jonathan ihr ein Armband aus Gras flocht. Aber als sie sah, wie er gekleidet war – der maßgeschneiderte Anzug aus London, das Hemd mit den französischen Manschetten und die perfekt geknotete Seidenkrawatte –, wurde sie in die schmerzhafte Wirklichkeit zurückgeholt. Was hatte sie denn erwartet – zerrissene Jeans und ein Grateful-Dead-T-Shirt? Den Jonathan gab es nicht mehr. Dieser Jonathan jetzt, wohlhabend und erfolgreich, war ein Fremder. Es würde kein Zurück mehr geben.
Er drehte sich um und wollte etwas sagen. Doch als er innehielt und sie mit ernsten Augen ansah, wußte Charlotte, daß auch er an die Vergangenheit dachte.
Er streckte den Arm aus und berührte den Anhänger ihrer Kette, der auf ihrer Brust lag. »Du trägst ihn immer noch.«
»Damit ich mich immer daran erinnere.« Jonathan war der einzige Mensch, der die Wahrheit über ihr Verschwinden in jenem Sommer kannte, damals, als sie fünfzehn gewesen war. Er war auch der einzige, der wußte, was das Medaillon enthielt.
Er ließ den silbernen Bernsteinanhänger los und sagte: »Harmony Biotec.«
Sie wußte, was er meinte. Sie hatte den Namen geändert, als sie die Firma nach dem Tod ihrer Großmutter übernahm. »Es war an der Zeit moderner zu werden«, erwiderte sie ein wenig abwehrend. »Kräuter allein genügen nicht. Die Menschen brauchen auch echte Arzneien.«
»Die wichtigste Medizin, die deine Großmutter zu bieten hatte, kam nicht aus einer Flasche«, sagte Jonathan leise, und in seinen dunkelbraunen Augen schienen sich Erinnerungen zu spiegeln. »Ihr wirkungsvollstes Heilmittel war ihr Mitgefühl. Sie hatte begriffen, daß Zuwendung von großer Bedeutung für einen Heilungsprozeß ist«.
»Zuwendung heilt keinen Krebs. Harmony steht kurz davor, ein neues Mittel herauszubringen, das ihn bekämpfen kann. Klinische Tests von GB4204 an freiwilligen Probanden haben erwiesen, daß die Überlebensrate um fast fünfzig Prozent zu steigern ist. Denk doch nur – fünfzig Prozent!«
Er lächelte. »Nach so vielen Jahren erfüllt sich endlich dein Traum.«
Ihre Miene verfinsterte sich. »Oder zerspringt in tausend Scherben.«
Wieder blickte er auf den Monitor und las erneut die letzte bedrohliche E-Mail. »Vielleicht findet sich hier auch das Motiv unseres Freundes. Denn schließlich würde Harmony mit GB4204 sehr hohe Gewinne erzielen.« Er zog sein Handy aus der schwarzen Tasche, und tippte eine Nummer ein.
»Glaubst du, daß hier die Konkurrenz am Werk ist?« fragte Charlotte.
»Wenn jemand Harmony vernichten will, hat er mit diesen drei Todesfällen eine ziemlich gute Eröffnung hingelegt.«
»Falls er es tatsächlich auf Harmony abgesehen hat.«
Er horchte auf das Klingeln am anderen Ende. »Die große Frage ist, was genau unser Freund vorhat in zwölf Stunden zu tun, wenn du nicht diese lächerliche öffentliche Erklärung abgibst.« Er hielt die Hand hoch und sagte ins Telefon: »Thorne, bitte. Ja, ich warte.« Dann legte er die Finger über die Sprechmuschel und fuhr fort: »Charlotte – dieser FDA-Agent, der den Fall bearbeitet. Wie hieß er noch gleich?«
»Valerius Knight.«
»Was hat er bis jetzt gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Wir sind nicht gerade ein Herz und eine Seele. Ich traue ihm nicht, Jonathan. Zufällig weiß ich, daß Knight mit allen Mitteln an seiner Beförderung arbeitet. Er verfolgt hier seine persönlichen Ziele, und die machen ihn äußerst voreingenommen. Das macht mir große Sorgen.«
»Wem hast du von diesen E-Mails erzählt?«
»Bis jetzt noch keinem.«
»Gut.« Er sprach schnell, die Hand immer noch über der Sprechmuschel. »Im Moment interessieren sich die Leute vom FBI noch nicht für euer Computersystem, außer daß sie vielleicht die Produktionsprotokolle und die Dateien mit den Rezepturen prüfen. Finden sie jedoch etwas über diese E-Mails heraus und falls diese von jenseits der Staatsgrenze kommen, und das FBI zum Ergebnis kommt, daß ein Hacker aus einem anderen Bundesstaat eure Formeln manipuliert hat, dann wird daraus eine bundesweite Angelegenheit. In einem solchen Fall werden sie sich eures gesamten Computernetzes annehmen. Sie werden das System so sichern, daß wir keine Möglichkeit mehr haben werden hineinzukommen. Wenn sich dieser Kerl in das Biotec-Netz hineingeschleust hat, ist euer System aber auch die einzige Verbindung zu ihm und damit unsere einzige Hoffnung, ihn zu erwischen. Wenn das FBI es erst einmal kontrolliert, werden wir ihn niemals kriegen.«
»Mit anderen Worten, die Zeit ist in jeder Hinsicht knapp, nicht nur was das Zwölf-Stunden-Ultimatum betrifft!« Charlotte wandte sich brüsk von ihm ab und lief durch das Zimmer, so als wolle sie gleich mit dem Kopf durch die Wand. Schließlich drehte sie sich wieder um. »Kannst du es schaffen? Kannst du ganz allein diesen Kerl schnappen?«
»Ich arbeite am besten allein, das weißt du doch.«
Sekundenlang war sie in seinem Blick gefangen, und Charlotte bemerkte überrascht, daß sie plötzlich an Jonathans komische Art zu lachen denken mußte. Es hatte sich immer so angehört wie das Geräusch, das ein Auto von sich gibt, wenn es an einem kalten Wintermorgen nur mit Mühe anspringt. Ga-ha! Ga-ha! Ga-haha-ha! Sie hatte sich damals immer lustige Sachen ausgedacht, nur damit er lachte und sie auch lachen mußte, bis sie alle beide brüllten und sich den Bauch hielten, einfach weil es so schön war und einem dann nichts mehr weh tat, nicht einmal wenn man mit Steinen und Hundekot beworfen und als »Schlitzauge!« auf der California Street beschimpft wurde.
Charlotte fragte sich, ob Jonathan wohl immer noch so lachte. Plötzlich wollte sie es hören, sie wollte sagen: »Kennst du den schon?« Aber ihr fiel nichts Komisches ein.
Er schaute sie an. »Und was heißt das?«
»Was?«
»Dieser Ausdruck in deinem Gesicht. Ich wußte schon immer, wenn dir irgend etwas durch den Kopf ging.«
Das war früher, wollte sie antworten, mein Gesicht hat sich verändert. Du kennst es nicht mehr.
Er hob wieder die Hand. »Ja, Roscoe. Hier ist Jonathan Sutherland. Danke, bestens. Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich habe hier ein Täterprofil und wäre dankbar, wenn du es durch deine Datenbank laufen lassen könntest.«
Charlotte lief wieder auf und ab. Jonathan fuhr fort: »Zielgruppe ist Pharmazieunternehmen, insbesondere Naturmittelhersteller. Schickt per E-Mail Drohungen über anonyme Wiederversender. Einigermaßen vertraut mit Computern, möglicherweise Kenntnisse in Pharmazie und Biochemie. Eventuell Verbindung zu Harmony Biotec. Ja. Eine private Angelegenheit. Nicht zur allgemeinen Kenntnis. Bitte? Ja, ich bleibe dran.«
Während er darauf wartete, daß Thorne an den Apparat zurückkam, beobachtete Jonathan Charlotte, die kreuz und quer durch ihr geräumiges Büro stapfte. Er ließ seinen Blick ihren Rücken hinabgleiten und erinnerte sich daran, daß sie sich immer über ihre breiten Hüften beschwert hatte. Aber Jonathan liebte die Art, wie der schwarze Rock sich eng um die schmale Taille schmiegte und darunter weiter wurde. Gern hätte er die Hand auf diese großzügigen Hüften gelegt und wie einst ihren Rhythmus gefühlt.
»Ja, Roscoe«, sagte er ins Telefon. »Ja, danke. Das ist die Nummer, unter der du mich erreichen kannst. Ich danke dir sehr für deine Hilfe. Mach’s gut.«
Er klappte das Telefon zu. »Ich brauche die Pläne der gesamten Anlage – Fabrik, Gelände, Büros – mit eingezeichneten Telefon- und Elektroleitungen.« Er sprach schnell, als eilten seine Gedanken den Worten voraus. »Und einen Plan, wenn du einen hast, von allen Modems und Computerterminals. Euer Internet-Server befindet sich vermutlich im Hauptgebäude?«
»Ja, im dritten Stock.« Sie erkannte, daß er in vielem der alte geblieben war. Jonathan war immer schon ungeduldig gewesen. Wenn ihm etwas nicht schnell genug ging, dann sorgte er dafür, daß sich das änderte, ungeachtet der Konsequenzen. Jetzt spürte sie wieder die alte Ungeduld in ihm und die vertraute, verbissene Entschlossenheit, die bedeutete, daß Jonathan diesem Geheimnis auf den Grund gehen würde, koste es, was es wolle.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und setzte sich dann rasch an ihren Computer. »Wie sicher ist euer System?«
»Wir haben zwischengeschaltete Sicherungssysteme, Paßwörter, Codes.«
»Die Hohenpriester geheuchelter Sicherheit.« Er tippte auf ein paar Tasten, schaute auf den Bildschirm und murmelte: »Dianuba-Software. Gut.«
Er sah zu ihr auf. »Gewährt ihr Dianuba Technologies für die Wartung Zugang zu eurem Netz?«
»Das müßtest du mit unserem Computerbeauftragten besprechen. Er ist allerdings, soviel ich weiß, schon nach Hause gegangen.«
»Hat euer Netz Modems mit automatischer Antwort? Auf diese Weise kommen die meisten Eindringlinge ins System.«
»Nein, wir haben Rückruf-Modems.«
»In Ordnung. Unser Freund hier wird sich zweifellos wieder mit dir in Verbindung setzen. Ich werde eine Falle mit Rückverfolgung einrichten. Kannst du eurem Computerbeauftragten trauen?«
Sie zögerte. »Laß nur«, fuhr Jonathan fort. »Wir arbeiten ohne ihn. Es geht schneller und ist sicherer.«
»Jonathan … diese Drohung, noch mehr Menschen zu töten. Wie will er sie wahrmachen? Wir haben jetzt alle unsere Produkte aus den Regalen nehmen lassen. Wir werden im Rundfunk und im Fernsehen Warnungen senden. Wie kann er so sicher sein, daß es trotzdem noch Leute gibt, die unsere Produkte einnehmen werden – und zwar Tausende von Leuten?«
»Er scheint sogar zu glauben«, Jonathan sah wieder auf die Uhr, »daß er es innerhalb von zwölf Stunden verhindern oder geschehen lassen kann. Charlotte, ich brauche einen Anschluß, an dem ich ungestört arbeiten kann und der den gleichen Zugangsstatus zu eurem Netz hat wie dein Computer.«
Sie mußte nachdenken. Im gesamten Gebäudekomplex wimmelte es von Bundesagenten und Polizisten. Es gab keinen Ort, an dem er …
»Ja«, sagte sie plötzlich. »Es gibt einen Anschluß. Ich glaube, niemand weiß, daß er überhaupt existiert.«
»Gut.« Er stand auf, verstaute das Handy wieder in der schwarzen Reisetasche und zog den Reißverschluß zu. »Niemand hat mich reinkommen sehen. Da draußen ist das reinste Irrenhaus. Ich habe Des zugewinkt, aber er hat mich mit der Bemerkung, er würde jetzt keine verdammten Fragen mehr beantworten, abgewimmelt. Ich glaube, er hat mich nicht einmal angesehen. Ich möchte, daß du jetzt hingehst und ihm sagst, daß du eine Weile zu tun hättest und nicht gestört werden möchtest. Schaffst du das?«
»Ja. Warte eine Minute.« Charlotte ging zu ihrem Cousin, der von klingelnden Telefonen, gehetzten Agenten und langsam durchdrehenden Angestellten belagert war. Sie zog ihn in eine Ecke und erklärte, sie wolle die Personalakten durchsehen, um eventuell Verdächtige herauszufinden. Außerdem habe sie vor, die Bücher und Konten auf Verdachtsmomente zu prüfen. Die E-Mail-Drohbriefe und Jonathan erwähnte sie nicht. »Ich brauche dich hier draußen, um die Firma zusammenzuhalten, Des.«
Er tätschelte ihre Hand und sagte hinter der dunklen Sonnenbrille: »Mach dir keine Sorgen, Charlotte. Ich werde mich um alles kümmern.«
Wieder in ihrem Büro, sagte sie zu Jonathan: »Das wäre erledigt. Wir können uns zur Hintertür hinausschleichen, über die Feuertreppe. Schnell!«