Die vierte Zutat für guten Sex
Wir haben bisher drei der vier Zutaten für guten Sex zusammen:
die Entscheidung, was wir wollen
die Lust am Unterschied
Neugier und Spielfreude
Die vierte Zutat müssen wir erörtern. Sind Sie bereit, die Risiken einzugehen und vielleicht auch etwas zu verlieren? Manchmal müssen wir etwas Altes aufgeben, damit Neues entstehen kann. Veränderungen haben manchmal einen Preis. Im letzten Kapitel haben wir Ihre Spielfreude angesprochen – mit vielen Möglichkeiten, wie Sie erotische Entwicklungen anstoßen können. Wenn Sie sie bereits genutzt haben, sind Sie schon auf dem Weg – und können das Buch jetzt beiseite legen.
Wenn Sie aber den Eindruck haben, dass das zwar alles interessant ist, aber nicht ganz einfach in die Tat umzusetzen, weil es so viele Hindernisse gibt – dann ist das Ihr Kapitel! Hier drehen wir eine Analyserunde durch Ihre Zweifel. Danach zweifeln Sie vielleicht immer noch – aber Sie wissen genauer, warum.
Ambivalenzen: das ewige Hin und Her
Wer sich mit seinem Partner schon einmal auf eine Fernreise in ein unbekanntes Land vorbereitet hat, kennt die verschiedenen emotionalen Zustände, die man gemeinsam durchläuft, während das Reisedatum immer näher rückt. Ganz am Anfang, in der Zeit, in der die Entscheidung fällt, die Reise anzutreten, sind wir fasziniert von unseren Fantasien und Sehnsüchten über das Reiseziel. Wir stellen uns ein wunderbares Land vor. Wir schwärmen von exotischen Plätzen, interessanten Erkundungsfahrten, spektakulären architektonischen oder archäologischen Sehenswürdigkeiten und freundlichen Menschen.
Im Lauf der weiteren Planungen mischen sich die fantastischen Vorstellungen mit praktischen Überlegungen: Wie sicher ist das Reisen in diesem Land? Wie bewegen wir uns vor Ort? Wie verständigen wir uns mit den Einheimischen? Welche Gesundheitsvorsorge ist angemessen? Welche konkreten Ziele wollen wir überhaupt ansteuern? Wie werden wir das Essen vertragen? Gibt es überhaupt genug zu essen? Die Vorfreude wird durchwachsen. Zu viele Dinge in der Fremde entziehen sich unserer Kontrolle.
Ein paar Tage vor dem Abflug steigt die innere Anspannung. Von der Schwärmerei für das fremde Reiseziel ist kaum mehr etwas zu spüren. Plötzlich rückt Angst in den Vordergrund. Was machen wir dort? Muss die Reise denn sein? Warum verlassen wir die vertrauten heimischen Gefilde? Warum begeben wir uns in eine Welt, deren Regeln wir nicht kennen? In eine Welt, von der wir nicht wissen, wie sie tickt?
Doch nicht zu reisen, hätte auch seinen Preis. Der Flug ist bezahlt. Die Stornokosten wären noch zu verkraften. Aber wir würden die fremden Welten nicht kennen lernen. Wir würden unser Wissen und unseren eigenen Horizont nicht erweitern.
Jetzt, so kurz vor Abflug zu kneifen, kommt doch nicht mehr infrage. Aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Dieses Gefühl begleitet uns, bis wir das erste Mal den Fuß in das fremde, unbekannte Land setzen. Bis wir uns ein Getränk bestellen und versuchen, die unbekannten Münzen auseinander zu halten, die wir beim Bezahlen vom Kellner als Wechselgeld bekommen haben. Bis wir das erste Mal das Gefühl haben, etwas davon zu verstehen, wie die Uhren in diesem Teil der Welt ticken. Bis sich Vertrautheit einstellt.
Reise in ein unbekanntes Land der Erotik
Nicht anders ist es beim Aufbruch in das unbekannte Land neuer erotischer Erfahrung. Wenn Sie und Ihr Partner sich auf den Weg machen, sich erotisch weiterzuentwickeln, so träumen Sie zunächst von unbeschwerter, leidenschaftlicher Erotik. Erst im zweiten Schritt überlegen Sie, was sich zwischen Ihnen und Ihrem Partner verändern würde, gingen Sie tatsächlich neue Wege. Ihnen wird plötzlich klar, dass es auch riskant sein kann, in unbekannte Welten aufzubrechen. Vielleicht müssen Sie vorsorgen, um das Risiko zu begrenzen. Vielleicht müssen Sie gemeinsam neue Verständigungsformen entwerfen. Vielleicht müssen Sie sich gegenseitig darüber informieren, wie Ihre Rollen jeweils aussehen. Wie auch immer, der Aufbruch in ungewisse neue erotische Welten ist jedenfalls mit Ungewissheit verbunden.
Güterabwägung
Ein Risiko der Veränderung könnte sein, mehr zu verlieren als zu gewinnen. Was, wenn die Entscheidung, die sexuelle Unzufriedenheit anzugehen, vom Partner abgelehnt wird? Sie riskieren eventuell die Stabilität der Beziehung und entfernen sich voneinander. Warum sollte Ihr Partner bereit sein, das Vertraute aufzugeben, wenn das Zukünftige so ungewiss erscheint? Sind Sie bereit, die Kosten dieses Risikos zu tragen?
Andererseits: ohne Einsatz kein Ertrag. Sie müssen bereit sein, etwas preiszugeben – von sich, von Ihren Sehnsüchten, Fantasien, von Ihrem sexuellen Profil. Wie viel davon nötig ist, um erotische Spannung zu erzeugen, müssen Sie ausprobieren. Ohne Einsatz allerdings wird sich nicht viel verändern. Zum Einsatz zählen Zeit, Aufmerksamkeit, Kreativität und Spielfreude.
So sieht die Abwägung zwischen Einsatz und Chance, zwischen Risiko und Gewinnaussicht aus.
Die Risiken
vielleicht den lieben Beziehungsfrieden stören
die manchmal mühsam erhaltene Harmonie kaputt machen
sich die Rückzugsmöglichkeit verbauen, dass wir es doch ganz anders gemeint haben könnten
vertraute Gewohnheiten aufgeben
den Gleichmut verlieren, Dinge geschehen zu lassen wie bisher
Übersicht und Eindeutigkeit verlieren
die Berechenbarkeit des Partners nicht mehr kennen
Der mögliche Gewinn
mehr sexuelle Selbstbestimmung
Sex, der Ihren Bedürfnissen entspricht, ohne die Ihres Partners zu verletzen bzw. zu ignorieren
die Erweiterung Ihrer Handlungsmöglichkeiten
ein höheres Maß erotischer Spannung
mehr Bereicherung durch Seiten Ihres Partners, von denen Sie bisher nichts wissen wollten bzw. nicht wissen konnten
Übung 32: Güterabwägung
Mit der folgenden Übung können Sie Ihre Güterabwägung etwas planen. Sie überlegen zwei Alternativen: einmal, dass Sie alles so lassen, wie es ist. Und dann, dass Sie sich für die Veränderung entscheiden und auf die erotische Entwicklungsreise begeben. Für beide Alternativen denken Sie zwei Fälle durch: den bestmöglichen optimalen Fall und den schlechtesten möglichen Fall. Damit haben Sie vier verschiedene Situationen, die Sie vergleichen können.
Vorbereitung: Nehmen Sie ein Blatt Papier (DIN A 4) und unterteilen es in vier Felder. In die beiden Zeilen tragen Sie die Alternativen »Nicht-Veränderung« (= alles so lassen, wie es ist) und »Veränderung« ein. In die beiden Spalten tragen Sie den bestmöglichen und den schlimmsten Fall ein. Das sieht dann so aus:
Nicht-Veränderung |
bestmöglicher Fall Was kann im besten Fall passieren, wenn ich alles so lasse, wie es ist? | schlimmster Fall Was kann im schlimmsten Fall passieren, wenn ich alles so lasse, wie es ist? |
Veränderung |
bestmöglicher Fall Was kann im besten Fall passieren, wenn ich mit der Veränderung anfange? | schlimmster Fall Was kann im schlimmsten Fall passieren, wenn ich mit der Veränderung anfange? |
Tragen Sie ein, was Ihnen zu jedem Feld einfällt. Schreiben Sie es möglichst konkret auf. Und scheuen Sie dabei auch vor großen Hoffnungen und schrecklichen Befürchtungen nicht zurück.
Auswertung: Lassen Sie sich dann Zeit und achten Sie darauf, wo es Sie hinzieht, wo Ihr Blick verweilt. Was ist das am meisten anziehende Feld?
Und Ihr Partner?
Nun spielt bei der Güterabwägung der Blick auf Ihren Partner mit die größte Rolle. Ob jedoch der geliebte Mensch an Ihrer Seite ebenso zu neuen Ufern aufbrechen möchte, ist keineswegs sicher. Ändern sich bei einem Partner Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, heißt das noch lange nicht, dass der andere Partner ebenfalls bereit ist, seine Sichtweisen und seine Erotik infrage zu stellen. Meist ist das Gegenteil der Fall. Ich will – und mein Partner zieht nicht mit. Bremst, spielt herunter, verweist auf die guten Dinge, die die Beziehung bisher zusammengehalten hätten, bezweifelt, dass es notwendig sei, sich zu verändern.
Und Sie könnten auf den vorschnellen Gedanken kommen: Ich kann leider nicht, weil mein Partner nicht mitzieht. Dieser Gedanke regt Sie wahrscheinlich auf – und entlastet Sie gleichzeitig. Aber er ist falsch! Denn wahrscheinlich haben Sie eine heimliche Arbeitsteilung in Ihrer Beziehung.
Veränderung und Nicht-Veränderung: die Arbeitsteilung in der Beziehung
Der Abschied von dem, was sich lange bewährt hat, fällt jedem schwer. Etwas Neues zu versuchen, geht immer mit einem Unterstrom von Angst einher, das Neue könnte scheitern. Daher ist es meist leichter, am Alten und Erprobten festzuhalten. Paare verhalten sich oft so. Der Konflikt – wegen der sexuellen Unzufriedenheit und der unterschiedlichen sexuellen Bedürfnisse – schweißt ja auch zusammen. Streit nervt – und bindet. Für manche Paare sind intensive Streits die einzige Leidenschafte, die sie teilen.
Die Angst vor der Ungewissheit des Neuen ist einer der Gründe, warum Paare Veränderung vermeiden. Deswegen versuchen die Partner mit hohem Aufwand und hoher Toleranz dem eigenen Leiden gegenüber, die bestehende Situation zu erhalten. Sind Paare in eine Situation sexueller Lustlosigkeit und Unzufriedenheit geraten, entwickeln sich oft Verhaltensweisen, die die bestehende Struktur dauerhaft machen. Obwohl beide darunter leiden.
Bernd sieht sich selbst als einen Menschen, der ein »natürliches« Verhältnis zur Sexualität hat. Seit Jahren möchte er seine Freundin Anna davon überzeugen, ebenso »natürlich« mit ihrer Sexualität umzugehen wie er mit seiner. Zu dieser Natürlichkeit gehört für Bernd ein zwangloser Umgang mit Nacktheit, ein leichter Hang zu obszöner Sprache und anzüglichen Witzen sowie die ständige Bereitschaft, Sex zu haben, egal wo sie sich befinden.
Er sähe nichts lieber, als dass Anna sich seiner Haltung wenigstens ein Stück annäherte. Doch Anna bleibt zurückhaltend, kommt selten von sich aus auf die Idee, aktiv zu werden. Bernd erlebt Annas Reserviertheit zwar als kränkend, aber er bringt Verständnis auf – und drängt seine Freundin zu nichts. Manchmal sagt Anna dann, dass sie in Ruhe gelassen werden möchte. Ein andermal wiederum wünscht sie sich mehr Zärtlichkeit. Aber was sie sonst noch will, welchen Sex sie haben möchte, das sagt sie nicht.
Mit dieser Anordnung und diesen beiden Rollen hat sich das Paar seit Jahren arrangiert. Sie kennt seine Wünsche und weiß, wie sie diese unterlaufen kann und er dennoch Verständnis zeigt. Er kennt ihre Ruheund ihre Zärtlichkeitsbedürfnisse und weiß, wie er damit umgehen muss. Auf seine Initiative und nach ihrer Einwilligung tauschen beide ab und an Zärtlichkeiten aus. Manchmal kommt es dabei auch zum Geschlechtsverkehr.
Die Konstellation von Bernd und Anna macht deutlich, wie ein Paar sich auf niedrigem erotischem Niveau einpendelt: Anna bestimmt, was passiert und was nicht passiert. Bernd ist verständnisvoll, ohne weitere Forderungen zu stellen. Über die Jahre zeigt sich nur: Bernd wird zunehmend verbittert und gereizt. Anna igelt sich immer stärker ein. Bernd drückt seine erotischen Wünsche, aber auch seinen Frust in seinen sexualisierten Sprüchen aus.
Für das Paar stellt der langjährig schwelende Konflikt gleichwohl eine Lösung dar: Beide vermeiden auf diese Weise, sich dem Kern zu nähern, nämlich dem erotischen Unterschied zwischen sich. Was will Bernd? Was will Anna? Und wie viel wollen sie voneinander? Will Bernd tatsächlich so viel von seiner Freundin, wie er vorgibt? Oder kann er ohne Risiko behaupten, Anna zu begehren, weil er weiß, dass sie ihm sowieso nicht entgegenkommt?
Für Bernd und Anna ist die sexuelle Unzufriedenheit ein Zustand, den sie loswerden möchten. Andererseits ist das Arrangement, das sie gefunden haben, ein Lösungsversuch, der die Liebesbeziehung stabil hält. Die Lösung von Bernd und Anna folgt einem bewahrenden Prinzip: Eine drohende Veränderung soll verhindert werden, auch um einen hohen Preis.
Wie sexuelle Unlust zum Dauerbrenner wird
Sexuelles Desinteresse, ausbleibende Feuchtigkeit oder Erektion sowie Orgasmusstörungen sind ebenso Teil alltäglicher Sexualität wie ihr Gegenteil: sexuelles Interesse, Erregung und Orgasmus. Treten sie nur vorübergehend auf, werden sie meist nicht als erklärungsbedürftig erlebt. Denn das Sexualleben unterliegt ähnlichen Schwankungen wie andere Lebensbereiche auch. Damit sich vorübergehende Erscheinungen wie sexuelles Desinteresse oder eine beeinträchtigte Erektion dauerhaft in der Beziehung einrichten können, müssen beide Partner etwas dafür tun.
Wie das? Ein ungewolltes Geschehen, das sonst schnell vorübergeht, wird erst vom Paar zu einem Dauerproblem gemacht? Wie funktioniert das? Paare erzählen von ihren sexuellen Konflikten häufig nach folgendem Muster: Einer der Partner versichert, er (oder sie) habe »nie Lust«, der andere bedränge ihn (bzw. sie) »ständig«. Man könnte denken, das seien eben individuelle Lust-Unterschiede der beiden Partner. Aber ganz so einfach ist das nicht. Im vorigen Kapitel hatten wir behandelt, wie sich ein Problemmuster zwischen zwei Partnern dadurch verfestigt, dass die beiden Partner sich in gegensätzliche Positionen hineintreiben. Sehen wir uns das jetzt noch genauer an:
Beide Partner sind mit ihrer Situation unzufrieden, der drängende Partner (im Beispiel auf Seite 203 Bernd) ist gekränkt, weil er sich zurückgewiesen fühlt. Der »lustlose« Partner (im Beispiel Anna) fühlt sich nicht respektiert. Dadurch etabliert sich schnell ein Problemmuster, in dem sich Drängen und Verweigern gegenseitig aufschaukeln. Dadurch kommt regelmäßig ein Partner in die sexuell fordernde Position und der andere in die sexuell zurückhaltende. Durch dieses Aufschaukeln kommt es dazu, dass die Partner sich einseitiger geben, als es in Wirklichkeit ihrem Wesen entspricht. Auf diese Weise zeigt sich in unserem Beispiel Bernd sexuell aktiver, als er »eigentlich« ist, und Anna sexuell abweisender, als sie »eigentlich« ist.
So kommt es zu einer Art sexueller Arbeitsteilung zwischen den beiden Partnern. Und beide fühlen sich damit unfrei: Anna kommt gar nicht mehr dazu zu überlegen, was sie eigentlich will, weil Bernd immer schon da ist mit seiner Lust. Wie beim Hase-und-Igel-Spiel.
Sam: Du forderst Sex, weil dein Partner Sex verweigert. Dein Partner verweigert Sex, weil du Sex forderst! |
So werden aber auch leicht die Rollen von »Gut« und »Böse«, von Opfer und Täter ausgehandelt. Aus dieser Situation ergeben sich zwei folgenreiche Fragen: Einmal die Frage, welches Verhalten von wem als »Störung« empfunden wird. Zum anderen die Frage, wer sich sexuell durchsetzt.
Der aktive Partner definiert die »Störung«
Oft sind sich die Paare einig: Der Partner mit der eher abweisenden oder passiven Haltung trägt die Verantwortung für den Konflikt. Würde dieser nur wollen, gäbe es kein sexuelles Problem. Hier liegt die »Schuld«. Diesem Partner fehlt der gesunde, der »natürliche« Zugang zur Sexualität: nämlich hin und wieder Lust auf sexuelle Aktivität zu haben. Der aktive Partner sieht sich dagegen in Übereinstimmung mit dem, was als normal und natürlich gilt. Er hat damit zunächst die stärkere Position, denn »gestört« ist der inaktive Partner. Dauert die Auseinandersetzung an, verschieben sich oftmals die Positionen. Der sexuell inaktivere Partner kann eine starke Gegenoffensive aufbauen. Er beklagt sich dann darüber, wie aufdringlich der Partner sei. Er wirft ihm vor, rücksichtslos zu sein. Im Konflikt kann es dann durchaus zu einem Rollenwechsel kommen: Der passive Partner verlässt die defensive Position, der aktivere Partner gerät in die Defensive – sofern er das zulässt!
Wer weniger will, ist mächtiger
Weil wir Freiheit und Selbstbestimmung wollen, sind wir uns darüber einig, dass sexuelle Interessen nicht mit körperlicher Gewalt durchgesetzt werden dürfen. Dem Sex müssen beide Partner zustimmen. Umgekehrt reicht das »Nein« eines Partners, um gemeinsame sexuelle Aktivität zu verhindern. Kurz: Zum »Ja« braucht es zwei Partner, zum »Nein« nur einen. Dies bringt den passiven Partner in eine starke Position. Wie auch immer der aktivere Partner drängt, letztlich entscheidet das »Nein« darüber, was getan und was unterlassen wird. Insofern übt derjenige ein Vetorecht über das sexuelle Verhalten aus. Und insofern ist »Nein« mächtiger als »Ja«.
Fallbeispiel
Bei Anna und Bernd können wir das genau sehen. Bernd zeigt sich zwar als der sexuell Interessierte und Aktivere. Er ist der Überzeugung, der ungestörte und »gesunde« Partner in der Beziehung zu sein. Das nützt ihm nur alles nichts. Anna hat das Heft in der Hand, wenn es darum geht, was gemacht wird. Richtiger gesagt: was nicht gemacht wird. Dadurch ist sie zwar mächtiger als Bernd, aber zufriedener ist sie damit auch nicht. Warum lassen die beiden es dann nicht bleiben und steuern um?
Sehen wir uns an, wie sie in ihre Lage hineingeraten sind: Es beginnt mit unausgesprochenen Vorstellungen der beiden. Bernd erwartet von Anna, dass sie auf die gleiche Weise Sex will wie er. Anna will aber etwas anderes (das sie allerdings nicht genau benennt). Bernd erträgt das nicht. Um ihn nicht zu kränken, sagt sie lieber, dass sie nicht wisse, was sie will. Lieber unwissend als eigensinnig.. Bernd erleichtert das und so kritisiert er sie nicht richtig. Sie weiß es ja schließlich nicht. Das wiederum entlastet Anna, weil er sie deshalb in Ruhe lässt. Auf diese Weise kann Bernd bei seiner Vorstellung bleiben, was richtiger Sex sei, und muss sich nicht infrage gestellt fühlen. Anna kann ihrerseits ihre sexuelle Defensive beibehalten und muss nichts tun, was sie nicht möchte.
Zwei Gewinner – und zwei Verlierer. Bernd legt fest, was die Störung ist. Anna bestimmt das Verhalten. Bernd bestimmt, was erotisch ist. Anna entscheidet, was sexuell getan und was nicht getan wird. Und beide bezahlen mit Nachteilen: Bernd verwirklicht seine sexuellen Vorstellungen nicht. Und Anna bleibt im Nein gefangen, ohne damit eigene Wünsche zu entwickeln.
Kompromiss mit Haken
Viele Paare gestalten ihre Konflikte auf diese Weise. Und köcheln sie so über lange Zeit auf kleiner Flamme. Auf diese Weise vermeiden Paare Ungewissheiten. Jene unbestimmbaren Folgen nämlich, die auf die Partner zukämen, würden sie den heißen Konflikt über den Unterschied austragen. Sich mit dem Unterschied zu befassen, birgt allerdings das Risiko, einander eventuell nicht wiederzuerkennen. Wer den Konflikt durch die beschriebene Umwandlung entschärft, zahlt den Preis, in der Beziehung zu stagnieren.
Und so hat dieser Kompromiss wie alle Mittelwege einen Haken: Die Beteiligten haben Verluste (Verschärfung der Unterschiede) vermieden. Aber sie haben nicht wirklich gewonnen, was sie möchten. Eine »Win-win«-Situation ist nicht entstanden. Der Preis für den Vorteil der Entschärfung ist zu hoch. Dies erklärt auch den meist mehr verdeckten als offenen Ärger, mit dem Paare infolge solcher Kompromisse ihre Auseinandersetzungen austragen: Der Partner ist dann schuld an der eigenen Unzufriedenheit. Der aktive Partner fühlt sich im Recht. Aber er hat nichts davon, weil der andere sich verweigert. Der passive Partner wiederum verübelt dem aktiven Partner, ihn in die Defensive zu bringen.
Probleme können auch Lösungen sein
Auf den ersten Blick scheint es für Bernd und Anna eine einfache Lösung ihres Problems zu geben: Bernd bringt noch mehr Verständnis auf für Annas Bedürfnisse als jetzt schon. Anna beschreibt Bernd noch besser, wie sie von ihm gern berührt werden würde. Das Paar könnte darüber ins Gespräch kommen und auf diese Weise die partnerschaftliche Kommunikation voranbringen. Wenn es denn so einfach wäre!
Fallbeispiel
Bernd und Anna haben es versucht. Bernd hat sich bemüht, Anna zuzuhören. Aber eigentlich ist das Zuhören auch ein taktischer Schritt. Bernd hofft, dass sie eher einlenkt, wenn er ihr gezeigt hat, dass er ein guter Zuhörer ist. Irgendwie geht er auf sie ein, aber es bleibt doch eine halbherzige Sache. Anna lenkt ihrerseits ein und hofft, dass Bernd weniger Druck macht, wenn sie sich wenigstens gelegentlich sexuell auf ihn einlässt.
So hält sie seinen Ärger in Grenzen. So behalten die beiden ihr sexuelles Problem weiter, arrangieren sich aber mit einem halb zufriedenen und auch halb erotischen Kompromiss. So ist ihr Sexualeben nicht richtig schlecht. Aber auch nicht richtig gut.
Kompromisse
Probleme können also auch Kompromisslösungen sein, die mehr Vorteile als Nachteile bringen. Doch weiter gekommen sind Bernd und Anna auf diese Weise tatsächlich nicht. Sie gehen aufeinander zu. Sie sprechen miteinander. Aber die Rollen bleiben doch dieselben. Die kann keiner von beiden wirklich verlassen.
Positiv ausgedrückt, sind Bernd und Anna also durchaus in der Lage, ihre Angelegenheiten konstruktiv miteinander zu verhandeln. Gleichzeitig tauschen Bernd und Anna regelmäßig Vorwürfe aus. Unzufriedenheit, Missverständnisse und der Leidensdruck brechen sich immer wieder Bahn. Dennoch lassen die Partner nicht davon ab, einander besser verstehen zu wollen.
Der Vorteil, den Bernd und Anna erzielen, ist versteckt hinter all den negativen Gefühlen. Beide Partner vermeiden damit, mit dem eigenen Wünschen und Wollen ernst zu machen. Denn diese könnten die große Gefahr bedeuten – die Gefahr der Trennung. Auf diese Weise ist es möglich, ihnen unangenehme Fragen nicht beantworten zu müssen. Fragen nach dem eigenen sexuellen Profil, dem eigenen Wünschen und Wollen. Bernd und Anna umgehen mit ihrem Kompromiss, was sie als bedrohlich vermuten.
Anna gestaltet die Auseinandersetzung so: Sie versteckt ihr Begehren und zeigt es allenfalls indirekt. Über die Position des »So nicht!« und durch ihre passive Wendung spielt Anna Bernd die Verantwortung zu: Er soll auf sie eingehen und mehr Respekt für ihre Gefühle zeigen. Sie will gewollt werden, aber auf die richtige Weise. Sie zeigt sich also nicht, sondern inszeniert mit ihrem Mann ein Versteckspiel. Sie verrätselt ihre Erotik und erreicht damit zweierlei: sie verneint keineswegs die eigene Erotik. Sie zeigt sich also nicht etwa defizitär und gefühlskalt. Vielmehr wertet Anna ihre Erotik zu einem Geheimnis auf. Ihrem Mann schreibt sie Rolle des Geheimnisentdeckers zu. Er soll ihr Rätsellöser sein. Er soll die Sphinx durch die Lösung des Rätsels zufrieden stellen.
Was hat Anna davon?
Sie ist in der strategisch günstigen Situation, in Reserve bleiben und abwarten zu können.
Sein Suchen beweist sein Interesse für sie.
Solange sie ihr Begehren nur teilweise und indirekt zeigt, bleibt die Enttäuschung berechenbar.
Sie braucht sich selbst nicht mit jenen Seiten ihres Begehrens zu beschäftigen, die sie bisher für sich behalten hat.
Sie schont ihren Mann, weil sie sich ihm nicht zeigt.
Sie überträgt ihm die Verantwortung für die Lösung.
Empörung
Bernd erlebt sich selbst in der Position des Partners, der ein ungestörtes Verhältnis zur Sexualität hat. Er will ja nur, was normal ist und gesund und was ihnen beiden gut täte. Aus seiner Sicht verhält er sich so normal, wie das ein sexuell interessierter Mann nur tun kann. Deshalb empört ihn Annas »So nicht!«. Empörung ist ein selbstgerechter Affekt. Der Empörte sieht sich moralisch im Recht und das Gegenüber im Unrecht. Bernd empört sich deswegen immer mehr in seine Definitionsmacht hinein: Er weiß, was angemessener Sex, normaler, selbstverständlicher Sex zwischen Eheleuten ist. Und braucht sich deshalb nicht zu verändern.
Was hat Bernd davon?
Er braucht seine Komfortzone nicht zu verlassen und braucht somit sein Verhalten nicht infrage stellen zu lassen.
Er hält die »Definitionsmacht«. Diese bestätigt seine Männlichkeit und sie schreibt Anna den Mangel zu, macht sie zur sexuell gestörten Partnerin.
Er braucht sich nicht damit zu beschäftigen, wie begrenzt seine eigenen sexuellen Optionen sind.
Er braucht sich nicht mit den verschwiegenen Seiten ihres Begehrens auseinander zu setzen.
Streiten, um sich nicht zu verändern
Ist der Konflikt eines Paares chronisch geworden und unternimmt das Paar andauernd Versuche, den Konflikt zu beseitigen, ist aber damit ausgesprochen erfolglos, lässt sich vermuten, dass das Problem nur im Vordergrund steht, weil es einen anderen Konflikt zwischen den Partner verhindert.
Die so festgefahrene Eskalation, die regelmäßig aus dem Ruder läuft – der Streit, die Vorwürfe, die Bitterkeit –, stellt nur auf der Ebene des offensichtlichen Konfliktes ein Problem dar: Bernd will Sex. Anna will seinen Sex nicht – zumindest nicht so wie bisher.
Wenn ein Paar sich streitet, ist es sinnvoll, Inhalt des Streites und seinen Zweck voneinander zu unterscheiden:
Dem Inhalt nach sind Meinungs- und Erlebnisunterschiede im Spiel.
Der Zweck oder auch die Funktion eines solchen leidenschaftlichen Ausbruchs ist sehr oft die Bindung der Partner aneinander.
Vorwürfe halten das Paar zusammen. Auseinandersetzungen, wie die von Anna und Bernd, werden von einem versteckten Harmonieideal getragen. Angesichts des Streites rückt das jedoch meist in den Hintergrund. Wenn der Partner nur einlenken würde– so die zwingende Hoffnung von beiden Seiten –, wäre alles gut oder jedenfalls auf dem Weg zu einem passablen Kompromiss. Streit – je lauter, desto mehr – wird vom Ideal der Gemeinsamkeit, der Gegenseitigkeit, der Einigkeit getragen. Sonst würde er sich nicht lohnen. Wer die Idee aufgibt, den Partner zur Änderung bewegen zu können, lässt die wütende oder zu Bitterkeit erstarrte Aufgeregtheit, die auf Änderung drängt, ins Leere laufen, also überflüssig werden.
Das kann Angst verursachen: Bernd müsste sich mit den Begrenzungen seiner sexuellen Möglichkeiten auseinander setzen und sich der damit verbundenen Kränkung stellen. Anna müsste sich möglicherweise damit beschäftigen, dass ihre Selbstverrätselung sie vor ihrer weiblichen Selbstunsicherheit schützt. Diese Verunsicherung über die eigenen sexuellen Bedürfnisse und Sehnsüchte würde wachsen, müsste Anna ihrem Partner etwas mehr von ihrem erotisches Profil offenbaren.
Den sexuellen Unterschied anerkennen
Die Bedrohung für den Zusammenhalt des Paares nimmt dann zu, wenn das Bewusstsein für die Unterschiede zwischen den Partnern erstmals spürbar wird. Dabei geht es nicht so sehr um die Verschiedenheit hinsichtlich der einen oder anderen Nuance des sexuellen Lebens. Im Zentrum steht dann die Angst, als Mann und als Frau getrennt zu sein. Der Prozess des Bewusstwerdens, nicht in erster Linie ein verbundenes Paar zu sein, sondern zwei existenziell getrennte Personen, ist der entscheidende Schritt, den Unterschied für die Beziehung fruchtbar zu machen.
Einmal vollzogen, ermöglicht dieser Schritt auf einer neuen Ebene Annäherung und Gemeinsamkeit. Der Blick auf den Partner ist dann nicht mehr beeinflusst von fest gefahrenen Vorurteilen, auf deren Basis sich das zukünftige Verhalten vorhersagen lässt. Vielmehr wird der Partner wieder zu einem spannenden Menschen. Und den gilt es zu entdecken. Dessen unbekannte Seiten können sehr reizvoll sein – aber auch fremd und beunruhigend. Nicht die Wiederkehr des Ewiggleichen ist dann zu befürchten, stattdessen rücken dann Überraschungen und manchmal auch leichtes Befremden in den Mittelpunkt.
Ihre Getrenntheit anzuerkennen und sie als Chance zu sehen, fällt vielen Paaren nicht leicht. Gerade in erotischen Dingen nicht, die mit Scham, mit Nähe und Verletzlichkeit verbunden sind. Für manche Paare ist allein schon die Idee vom erotischen Unterschied zwischen den Partnern stark angstbesetzt. Deswegen neigen die Partner dann eher zu Kompromissen, die harmonisch den Ausgleich betonen und die Unterschiede nivellieren.
Ist die Paarsituation eher ängstlich getönt, lenken Paare ein, kommen einander entgegen und verharren im vordergründigen Problem, das sie vor der anderen, tiefer wirkenden Konfrontation schützt. Der sexuelle Unterschied zwischen den Partnern bleibt auf diese Weise verleugnet.
Die Dynamik des sexuellen Konflikts hinterfragen
Bleiben Sie als Paar zunächst in Ihrem alten Vorwurfsmuster hängen, lohnt es sich, ein paar Fragen aufzuwerfen. Sie sollen Ihnen auf der pragmatischen Ebene helfen, die Dynamik des sexuellen Konflikts besser zu verstehen: Machen Sie dazu Test 7 auf der folgenden Seite.
Veränderungen sind manchmal nicht lustig
Selbst wenn beide Partner anerkennen, wie sehr notwendig Veränderungen sind, bleibt häufig unklar, auf welche Weise die Beziehung sich verändern soll bzw. darf. Veränderung ist ja immer auch an die Möglichkeit gekoppelt, dass sich die Partner auseinander entwickeln. Manche erkennen durch den Konfliktschub plötzlich, wie wenig sie zusammenpassen. Andere sehen, wie sehr sie sich über die Jahre blockiert haben.
Jeder Partner hat andere Vorstellungen davon, wie die erotische Entwicklung gestaltet werden kann. Im Zweifelsfall muss sich erst einmal der andere bewegen. Der Partner muss zeigen, wie ernst er es wirklich meint mit der Veränderung. Jedes Paar in einer langjährigen Beziehung, die mit sexueller Unzufriedenheit einhergeht, kennt viele Versuche, die Situation zu verbessern. Am Ende blieb bisher immer mehr Enttäuschung, Kränkung und Stillstand. Und der alte Trott dominiert.
Test 7: Unsere sexuelle Arbeitsteilung
Mit dieser Analyse können Sie feststellen, wie Sie die sexuelle Arbeitsteilung in Ihrer Partnerschaft eingerichtet haben. Sie ist anspruchsvoll. Sie setzt voraus, dass Sie sich nicht gerade mitten im Streit befinden. Und dass Sie bereit sind, sich selbst »von außen« anzusehen.
Vorbereitung: Verabreden Sie, dass Sie für eine halbe Stunde Vorwürfe und Streitigkeiten aussetzen und sich von außen analysieren. Wenn Sie den Eindruck haben, dass Sie dabei gleich wieder zu streiten anfangen, lassen Sie die Analyse lieber bleiben. Verabreden Sie den Kunstgriff, dass Sie während der Analyse lediglich Kollegen, keine realen Partner sind. Sprechen Sie deshalb nicht über »uns«, sondern über »die beiden«. Tun Sie so, als hätten Sie mit dem Paar, das Sie da gerade analysieren, nichts weiter zu tun.
Analyse: Besprechen Sie die folgenden Fragen und schreiben Sie Ihre Einschätzung auf:
1. Wer von den beiden ist in der sexuell eher fordernden Position? Wie drückt er/sie das aus?
2. Wer von den beiden ist in der sexuell eher zurückhaltenden Position? Wie drückt er/sie das aus?
3. Welcher Vorteil, welcher Nachteil ergibt sich für die beiden Partner aus ihrer jeweiligen Position?
4. Wer hat welche Vorstellung, was richtiger (normaler, gesunder, natürlicher) Sex ist? Wie werden sie geäußert und begründet?
5. Wer entscheidet letztlich, ob die beiden Sex haben oder nicht?
6. Was würden sie sexuell tun, wenn sie nicht streiten würden?
7. Welcher Partner hat das größere Interesse an Veränderung, welcher das größere Interesse an der Nicht-Veränderung?
8. Was ist für jeden von beiden Preis und Risiko der Veränderung?
Auswertung: Kommen Sie zu einer Prognose: Werden die beiden eher bei ihrem vertrauten Streit bleiben? Oder werden sie Veränderungen in Angriff nehmen
Veränderung braucht Zeit. Aber nicht zu viel! »Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.« Das ist das Bekenntnis derjenigen, die auf Geduld setzen. Und natürlich ist an dem Satz viel Wahres. Manche Entwicklungen kann man nicht beschleunigen. Und dann gilt es, den richtigen Moment abzuwarten. Aber man kann den richtigen Moment auch verpassen. Und deshalb ist ein selbstkritischer Blick nötig: Warte ich auf den richtigen Moment – oder vertrödle ich eigentlich die Zeit?
Zur kritischen Prüfung drei Fragen:
Worauf warte ich eigentlich?
Was tue ich, wenn das eingetroffen ist, auf das ich warte?
Warte ich wirklich – oder ist »warten« meine faule Ausrede für Nichtstun?
Veränderung braucht Toleranz. Aber nicht zu viel! Wer Neues ausprobiert, macht Fehler. Man irrt sich, man macht es ungelenk und ungeübt. Wenn Ihr Partner solche Schritte macht und Sie selbst eher abwartend aufgelegt sind – seien Sie nicht zu streng! Für die Übergangsphasen benötigt Ihr Partner Ihr Einfühlungsvermögen und Ihre Duldsamkeit: Wenn er auf Sie zugeht, sich aber mit all den aufgeworfenen Fragen, dem ungewohnten Verhalten, der veränderten Kommunikation noch leicht unwohl fühlt, ermuntern Sie ihn weiterzumachen. Schrecken Sie Ihren Partner nicht mit einem (neuen) Vorwurf ab, alles funktioniere nicht gleich so hundertprozentig wie geplant. Und üben Sie diese Toleranz auch sich selbst gegenüber. Denn auch bei Ihnen klappt nicht alles auf Anhieb. Und der erste Schritt muss nicht gleich besonders elegant ausfallen.
Veränderung braucht Mut. Aber nicht blinden Aktionismus! Sie stehen zum ersten Mal auf dem Sprungbrett und wippen. Springen oder nicht? Halten Sie die Augen auf – gerade wenn es ernst wird! Wenn kein Wasser im Becken ist, springen Sie besser nicht. Und wenn das Becken gefüllt ist – liegt es nur an Ihnen. Nur an Ihnen. Egal, wer zusieht.
Veränderung braucht eine Entscheidung. Irgendwann ist die Güterabwägung abgeschlossen und es kommen keine neuen Gesichtspunkte mehr dazu. Es sagt Ihnen niemand, was zu tun ist. Und es gibt keine objektiven Kriterien, angesichts derer Sie geradezu entscheiden müssen. Der Kybernetiker Heinz von Foerster hat den verblüffenden Satz geprägt, dass wir nur über unentscheidbare Fragen entscheiden können. Also über Fragen, für deren richtige Antwort man keine Kriterien kennt.
Zwei Partner beginnen nicht gleichzeitig mit der Veränderung. Einer fängt an. Zu den großen Irrtümern über die Entwicklung in Partnerschaften gehört die Aussage, beide müssten gemeinsam mit der Veränderung beginnen. Wir haben gesehen, wie leicht es passiert, dass beide wirklich eine Veränderung wollen und unversehens ihr Problem noch größer machen. Und weil beide sehen, dass es so nicht mehr weitergehen kann, sie aber zusammenbleiben wollen, nehmen sie sich fest vor, gemeinsam die Veränderung anzupacken. Und nichts passiert! Nicht, weil es nicht ernst gemeint war, sondern weil es immer einfacher ist, auf den Partner zu reagieren als selbst anzufangen. So bleibt immer etwas mehr Verantwortung beim Partner. Deshalb: Wenn Sie wollen, dass die erotische Entwicklung beginnt, fangen Sie selbst an. Erotik ist eine Frage von Entscheidungen. Und die treffen Sie zuerst selbst.
Sam: Wenn es so aufwändig ist, dann lasst doch alles so, wie es ist! |
Sam schätzt gründliche Überlegungen. Aber wenn es ihr zu lange geht, wird sie ungeduldig. Dann reizt der Spott. Spott und Ironie sind gute Methoden, um schwierige Lebensfragen zu entscheiden, indem man sie aus der negativen und paradoxen Perspektive ansieht. Wenn Sie eher dazu tendieren, weiter auf dem Sprungbrett zu wippen und eher nicht zu springen – aber doch nicht ganz sicher sind. Sehen Sie sich an, was Sam zu spotten hat.
Sams 1. Spott: Rechne zunächst das Alte auf, bevor du etwas Neues anfängst.
Bleib deinem Vorwurf unbedingt noch eine Weile treu! Präsentiere zunächst einmal die Rechnung über die Verletzungen der vergangenen Jahre. Erspare deinem Partner kein Detail. Geh endlich damit in die Offensive, was du dir emotional in den letzten Jahren vom Munde abgespart hast. Rede Klartext – und mache dabei deutlich, dass du selbstverständlich bereit wärst, dich auf eine Veränderung einzulassen, wenn, ja wenn alle angehäuften Schulden durch deinen Partner beglichen und abgebüßt sind. Verzeihe nicht! Weiche keinen Zentimeter zur Seite! Bewahre Haltung! Bleib hartnäckig! Steter Tropfen höhlt den Stein! Beharre auf deinem Recht!
Sams 2. Spott: Prüfe, ob alles, was dein Partner tut, wahre Liebe zeigt!
Dieser Vorschlag wird dich vor Enttäuschungen schützen: Die Liebe deines Partners ist immer ein heikles, oft ungewisses Gefühl. Daher empfehle ich, immer misstrauisch zu bleiben! Halte ein Restmisstrauen aufrecht, egal was dein Partner sagt. Erfinde eine Palette von Liebestests. Überlege, wie du die unterschiedlichen Ausprägungen von Zuneigung messen kannst. Teste heimlich! Dann bist du sicher, dass dein Partner nicht so antwortet, wie du es vielleicht von ihm erwartest. Wenn er dich wirklich liebt, erfüllt er dir jeden Wunsch!
Sams 3. Spott: Sei nett! Mute deinem Partner keinesfalls zu, anders zu sein, als er erwartet!
Damit alles so bleibt, wie es ist, solltest du die Unterschiede zu deinem Partner möglichst klein aussehen lassen. Betone ausschließlich eure Gemeinsamkeiten, eure Ähnlichkeit und eure Auffassung von der Welt. Spiele die Unterschiede herunter. So weit liegt ihr ja nicht auseinander. Achte sehr darauf, genau das zu mögen, was dein Partner auch mag. Vergewissere dich immer, ob dein Partner einen Vorschlag gut findet. Bringe nie Ideen in die Beziehung ein, die deinen Partner überraschen könnten. Versuche, dich in die Denke deines Partners hineinzuversetzen. Wo sieht er die höchste Übereinstimmung, die maximale Entspannung, einen beruhigenden, gleich klingenden Rhythmus?
Sams 4. Spott: Prüfe bei allem, was du tust, ob du es deinem Partner auch immer recht machst.
Du kennst deinen Partner ja schon ein paar Jahre. Daher sollte es dir nicht schwer fallen, ziemlich genau zu wissen, was dein Partner mag und was nicht. Verhalte dich entsprechend: Fordere deinen Partner nicht zum Widerspruch heraus. Vermeide Streit, indem du alle seine Bedürfnisse anstandslos zu erfüllen versuchst. Stelle deine eigenen zurück! Lass es nicht erst so weit kommen, dass dein Partner dir mitteilen muss, was er will. Wisse es schon vorher! Kein Weg ist zu weit, kein Umstand zu schwierig, um deinen Partner den Gefallen zu tun.
Sams 5. Spott: Erkläre deinen Partner zum Verantwortlichen für dein Seelenheil!
Nichts ist für Stabilität und dafür, dass alles so bleibt, wie es ist, gefährlicher, als die Verantwortung bei sich selbst zu suchen. Fang damit gar nicht erst an. Dein Partner ist dafür verantwortlich, wie es läuft. Er ist schuld, wenn du dich schlecht fühlst. Komm gar nicht erst auf die Idee, dich selbst in der Verantwortung zu sehen. Dein Partner vernachlässigt dich, zwingt dir seinen Willen auf. Entlasse also deinen Partner unter keinen Umständen aus der Verantwortung. Nichts könnte dein Wohlbefinden schlimmer gefährden als der Gedanke, du hättest einen eigenen Beitrag dazu geleistet, dass die Dinge so laufen wie im Augenblick. Vielmehr solltest du ihn in regelmäßigen Abständen davon in Kenntnis setzen, dass du mit seiner Aufbauhilfe rechnest.
Sams 6. Spott: So wichtig ist Sex auch wieder nicht!
Dies ist der hilfreichste Gedanke, damit sich nichts verändern muss in eurer Partnerschaft. Du bist sexuell unzufrieden? Du sehnst dich danach, dein Sexleben weiterzuentwickeln? Du hoffst, dass zukünftig vieles anders wird und ihr glücklicher werdet beim Sex? Das ist schön und gut. Aber hast du schon einmal darüber nachgedacht, inwieweit du deine sexuellen Wünsche überbewertest? Ob du nicht einfach viel zu hohe Erwartungen an den Sex knüpfst? Erst dadurch entsteht doch der hohe Veränderungsdruck, dem du dich ausgesetzt siehst. Wahrscheinlich treibt dich die Vorstellung um, alle anderen außer dir hätten ein heißes Sexleben. Vergiss es! Die Unzufriedenheit ist sehr weit verbreitet – und das beste Mittel dagegen ist, einfach die eigenen Ansprüche und Erwartungen zu reduzieren. Nimm den ganzen Ballast vom Sex, der ihn aufbläht und zu so einer bedeutsamen Angelegenheit macht. Bestätigt euch eure Liebe auf andere Weise. Entlastet euer Sexleben davon, als Ritual für die Güte eurer Beziehung und die Intensität eurer Liebe herhalten zu müssen. Du wirst merken, dass du dann an deinem Verhalten fast gar nichts zu verändern brauchst und alles so bleiben kann wie es ist. So unzufrieden bist du nämlich gar nicht!
Risiken der Veränderung
Dieser Abschnitt beschäftigt sich etwas detaillierter mit den Risiken, die mit erotischer Entwicklung einhergehen können. Die Absicht, etwas zu verändern, ist zwar notwendig, reicht allein aber nicht aus, damit tatsächlich etwas passiert. Wenn sich das Fenster der Veränderung in Ihrer Beziehung öffnet und Sie beschließen, sich erotisch weiterzuentwickeln, kommt es manchmal zu ungeahnten Nebeneffekten. Veränderung weht meist nicht nur jene frischen Zustände ins Haus, nach denen wir uns gesehnt haben. Und schon gar nicht können wir immer im Detail kontrollieren, welche Veränderung zu welchen Folgen führt. Ganz schwierig wird es bei der Frage, ob wir uns in eine Richtung verändern und entwickeln, die uns und dem Partner gefällt. Und selbst, wenn es uns gefällt, kann das schließlich für die Beziehung und die erotische Gemeinsamkeit überaus fatale Folgen haben. Und dann gefällt es uns schon wieder überhaupt nicht.
Zwei große Risiken
Im Kapitel »Vom Können und Wollen«, Seite 34 ff., hatten wir den Unterschied zwischen partnerbestimmter und selbstbestimmter Sexualität besprochen. In dem Moment, in dem wir uns entscheiden, es nicht nur dem Partner recht zu machen und unsere sexuellen Wünsche nicht nur danach auszurichten, dass sie unserem Partner entsprechen, geht es los mit dem Risiko.
Es gibt zwei Risikopunkte:
die Reaktion des Partners auf das Neue, das er von mir erfährt
meine Reaktion, wenn ich etwas Neues von meinem Partner erfahre
Beide Partner gehen jetzt das Risiko ein, Seiten am Partner kennen zu lernen, die ihnen bisher verborgen geblieben sind. Vielleicht erkennen Sie einander zwischenzeitlich gar nicht wieder. Es ist auch durchaus möglich, dass Sie sich zunächst voneinander entfernen, wenn die Unterschiede zwischen Ihnen so deutlich werden. Es kann sein, dass einer fremdgeht, es kann sein, dass einer an Trennung denkt. Und es kann sein, dass einer die Flinte ins Korn wirft und innerlich die Beziehung kündigt, weil er es nicht mehr aushält.
Also: All das ist mit einigem emotionalem Aufwand verbunden. Veränderung ist anstrengend und geschieht nicht durch den Schnipp eines Fingers.
Konkrete Risiken
Doch nun zu konkreten Risiken, die Ihnen begegnen können, wenn Sie die Abenteuerreise »erotische Veränderung« starten:
Risiko 1: Es kann sein, dass Ihr Partner Ihr erotisches Profil nicht erträgt – und an Trennung denkt.
Lukas: »Die Vorstellung, du hättest gern Sex mit einer Frau, irritiert mich.«
Ulrike: »Mich auch.«
Lukas: »Hast du denn wirklich vor, das mal auszuprobieren? Bist du bi? Oder lesbisch?«
Ulrike: »Ich weiß nicht so recht. Was würdest du dann tun?«
Lukas: »Ich kann mir kaum vorstellen, einfach so zur Tagesordnung überzugehen.«
Ulrike: »Würdest du gehen?«
Lukas: »Ich weiß es nicht. Aber ich wäre wohl sehr traurig, weil ich dir nicht mehr genüge.«
Das Entdecken erotischer Unterschiede kann zu Unbehagen führen, wenn ein Partner plötzlich ein erotisches Begehren offenbart, von dem der andere ausgeschlossen ist. Das ist vor allem dann der Fall, wenn andere Menschen als der Partner in den erotischen Fantasien eine Rolle spielen. Die Ungewissheit ist, ob das nun eine Fantasie oder ein Wunsch oder bereits Realität geworden ist. Eine Fantasie – kann ja vorkommen, was denkt man nicht alles – macht weniger Unruhe. Da kann man sich ja noch beruhigen: »Eine Fantasie ist keine Tat. Mein Kopfkino gehört mir! Darin braucht es keine Exklusivität zu geben.« Ein Wunsch dagegen – das möchte ich tun und vielleicht schon bald – hat schon eine andere Wucht. Er könnte ja jeden Moment in die Tat umgesetzt werden. Gelegenheiten gibt es genug. Oder es ist schon passiert. Und Sie sagen dann Ihrem Partner, dass Sie sich auf jemand anderes eingelassen haben.
Sobald Sie darüber sprechen, liegt der Ball bei Ihrem Partner. Und Ihr Partner wird möglicherweise nicht das tun, was Sie erhoffen – sondern wird entscheiden, was er für richtig hält.
Risiko 2: Es kann sein, dass Sie das erotische Profil Ihres Partners nicht ertragen.
Brigitte und Ulf unterhalten sich darüber, gemeinsam in einen Sexshop zu gehen. Vorher haben sie daran noch nie einen Gedanken verschwendet. Seit sie über ihren Sex ins Gespräch gekommen sind, deutete Ulf immer wieder einmal an, dass er das sehr aufregend fände, mit ihr zusammen in einem Sexshop zu stöbern. Brigitte ist nicht abgeneigt, muss sich aber erst mit dem Gedanken vertraut machen.
Ohne weitere Vorwarnung bringt nun Ulf eines Tages zwei Pornos und Sexspielzeug mit nach Hause.
Brigitte: »Ich dachte, wir wollten das zusammen machen.«
Ulf: »Es bot sich an. Ich bin grade daran vorbeigefahren. Und nachdem wir darüber gesprochen haben, dachte ich …«
Brigitte: »Aber du hast mich damit ausgeschlossen. Es ist nun nicht mehr unsere gemeinsame Sache.«
Ulf: »Was meinst du?«
Brigitte: »Weißt du, ich habe das Gefühl, du hast all das nur angestoßen, damit du ab und an mal in den Sexshop darfst, dir ein paar Pornos reinziehen kannst. Findest du diese Dinger gut?«
Ulf: »Wenn du schon fragst: ja. Ich sehe mir gern Pornos an.«
Es kann gut sein, dass Ihr Partner versucht, die neue erotische Offenheit zwischen Ihnen beiden für seine Interessen zu nutzen. Und wenn Sie vorher immer alles abgesprochen haben, könnte Ihnen eine kleine Entrüstung passieren. Aber so geht es! Auch wenn es Ihnen nicht behagt, Sie wissen jetzt, Ihr Partner hegt noch manch anderes Begehren.
Risiko 3: Es kann sein, dass Sie sich als Mann oder Frau infrage gestellt sehen, sich abgewertet und klein gemacht empfinden.
Alex und Christina unterhalten sich über ihr erotisches Leben zu Anfang der Beziehung – und was heute daraus geworden ist:
Christina: »Mir ist schon lange aufgefallen, dass du mich kaum noch küsst.«
Alex: »Wieso hast du nie etwas gesagt?«
Christina: »Wahrscheinlich wollte ich nicht hören, dass du mich nicht mehr begehrst.«
Alex: »Aber das stimmt doch nicht.« Christina: »Und was ist es dann?«
Alex: »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen … Wie sagt man so etwas einem Menschen, den man liebt?«
Christina: »Was meinst du?«
Alex: »Na ja, die Art wie du küsst, törnt mich einfach nicht so an. Und wie es dann weitergeht, auch nicht.«
Christina: »Und das sagst du mir erst jetzt, nach so vielen Jahren? Warum denn nicht früher? Ich frage mich die ganze Zeit, was mit dir los ist.«
Es kann sein, dass Sie nun etwas darüber erfahren, was Ihr Partner von Ihren Küssen oder anderen erotischen Fähigkeiten hält. Es kann sein, dass Sie das verletzt, weil Sie sich dadurch abgewertet sehen. Möglicherweise ist es besser, jetzt als nie davon zu erfahren, was Ihr Partner denkt! Behielte er seine Unzufriedenheit noch länger für sich, würde Ihr erotisches Leben noch stärker leiden. Die Rückkehr zu einem authentischen und ehrlichen Miteinander kann nicht völlig ohne Verletzungen geschehen.
Risiko 4: Es könnte sein, dass Sex nun einen größeren Stellenwert in Ihrem Leben einnimmt.
Annette: »Seit wir uns regelmäßig zum Sex verabreden, denke ich auch zwischendurch viel öfter an Sex mit dir.«
Jürgen: »Das sind ja Neuigkeiten … Meine Frau denkt immer nur an das Eine!«
Annette: »Ich hätte ja nie geglaubt, dass wir auf diese Weise über Sex reden würden. Gewünscht hab ich’s mir immer. Und jetzt habe ich schon wieder Lust!«
Jürgen: »Moment! Ich muss auch mal etwas arbeiten.«
Sich diesem Risiko gefahrlos auszusetzen, klingt eher leicht. Und mancher wird das Wort »Risiko« hier eigentlich eher unpassend finden. Aber: Wehe wenn sie losgelassen! Und wenn Sie wie Jürgen aufgelegt sind, könnte es sein, dass Sie sexfreie Phasen wieder herbeisehnen.
Risiko 5: Es stellt sich für Ihren Partner heraus, dass Sie in den letzten Jahren mehr aus Entgegenkommen als aus eigener Lust mit ihm Sex hatten. Ihr Partner fühlt sich im Nachhinein dafür verachtet.
Ute: »Ich habe das Gefühl, du hast mir immer nur einen Gefallen getan, wenn du mit mir geschlafen hast.«
Jens: »Was ist daran auszusetzen?«
Ute: »Ich bin davon ausgegangen, dass du es wirklich willst. Nach dem, was du mir heute über deine Lust sagst, fühle ich mich eigentlich von dir vorgeführt. Das stellt alles infrage, was für mich auch gut war.«
Es kann passieren, dass Sie erotisch eigentlich schon gekündigt haben. Sie haben sich von Ihrem Partner entfernt. Aber Sie bleiben mit ihm zusammen. Weil Sie Kinder haben, weil Sie ein Haus haben, weil Sie ein Geschäft zusammen aufgebaut haben. Weil Ihr Partner mit Ihnen zusammenbleiben will und Sie sich nicht richtig trennen wollen. So kommen Sie in die Lage, sich auf einen sexuellen Kompromiss einzulassen und Ihrem Partner eine Art erotisches Gnadenbrot gegeben zu haben. Für Ihren Partner ist das eine große Kränkung.
Risiko 6: Es stellt sich heraus, dass Ihr Partner in den letzten Jahren mehr aus Entgegenkommen als aus eigener Lust mit Ihnen Sex hatte. Sie fühlen sich im Nachhinein dafür verachtet.
Dieses Risiko kann auch Ihnen passieren. Wenn Sie an die letzten Jahre zurückdenken, in denen Sie es irgendwie versucht haben, es mit Ihrem Partner einigermaßen hinzubekommen, wird Ihnen ganz schlecht. Sie fühlen sich vom Partner getäuscht und nicht für voll genommen. Und Sie wissen nicht, ob Sie ihm das verzeihen können und ob Sie die Kraft haben, danach noch einen Neustart hinzubekommen.
Aber es lohnt sich!
Natürlich entscheiden Sie selbst. Ob Sie alles so lassen, wie es ist, oder ob Sie den Sprung wagen. Aber nachdem wir die ganzen Bedenken und Risiken so gründlich erörtert haben, sollten wir zwischendurch eine kleine Lobrede auf die Aussichten halten, die Sie haben, wenn Sie sich trauen. Es lohnt sich, die Reise zu starten!
Sie geben sich die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen. Und die könnten ziemlich gut sein.
Sie werden sich als Paar besser kennen lernen. Sie bekommen einen neuen Partner, ohne dass Sie suchen. Er ist schon da!
Sie werden sich selbst besser kennen lernen und merken, dass Sie sich freier und stärker fühlen, wenn Sie das ausdrücken, was Sie erotisch wirklich wollen.
Auch wenn es Sie kurzfristig anstrengt, werden Sie langfristig gewinnen.
Der Zusammenhalt zwischen Ihnen und Ihrem Partner kommt auf eine ganz andere Grundlage, wenn Sie bereit sind, sich auf die Unterschiede einlassen.
Der Blick für den Unterschied verbessert auch den Blick für die Gemeinsamkeiten. Sie lernen genau dadurch, jene Seiten am Partner neu zu schätzen, die Ihnen vertraut und angenehm und liebenswert sind. Der Unterschied macht die Gemeinsamkeiten erst richtig gut.
Lust ängstigt – Angst macht Lust
Ohne eine gewisse Angst (vor dem Unbekannten, dem Fremden, dem Ungewohnten) ist sexuelle Entwicklung kaum zu haben. Doch ein Mythos trägt dazu bei, dass wir kulturell etwas ganz anderes lernen: Guter Sex sei nur in einer Atmosphäre der Angstfreiheit und in völliger Harmonie möglich. Und anders herum gesagt: Wenn Angst im Spiel sei, könne sich kein guter Sex ergeben.
Das stimmt, wenn wir von sexuellen Handlungen gegen den Willen eines Beteiligten sprechen. Erzwungener Sex, Gewalt, Verletzungen an Körper und Seele gehören zu den grausamen Kapiteln der Sexualität. Hier haben wir es immer mit dem Missbrauch von Macht zu tun. Das ist hier nicht unser Thema.
Angst vor dem Versagen
Angst kann in ganz verschiedenen Situationen entstehen, die für unsere Frage von Belang sind. Wir können für einen Moment eine Anleihe aus einem ganz entfernten Gebiet der Psychologie machen, der Leistungsmotivation. Hier wissen wir von einem interessanten Zusammenhang zwischen Leistung und Angst: In Testsituationen sind die Probanden dann am meisten motiviert, wenn sie eine gewisse, nicht zu große Portion Angst haben. Und entsprechend gut fällt dann auch die Leistung aus. Ist die Angst zu groß, wird die Leistung schlechter, weil dann die Belastung, der Stress, zu groß ist. Das kann man noch gut nachvollziehen. Aber auch wenn die Angst sehr gering ist (etwa die Angst durchzufallen und eine Prüfung nicht zu bestehen), sinkt die Leistungsmotivation und entsprechend die Leistung. Eine mittlere Angst ist motivierend. Das leuchtet einem im Leistungsbereich schnell ein: Eine zu schwierige Aufgabe demotiviert, weil ich das Gefühl habe, ich schaffe es sowieso nicht. Und so kann es schnell zu Gefühlen der Überforderung kommen und dazu, die eigenen Fähigkeiten zu unterschätzen. Misserfolg ist das Resultat. Umgekehrt kann eine zu einfache, anspruchslose Aufgabe langweilig sein, zu Unaufmerksamkeit führen und dazu, dass das Ergebnis schlecht ausfällt.
Bei der erotischen Entwicklung haben wir es mit einem ähnlichen Zusammenhang zu tun: Ist das erotische Geschehen zu ängstigend, reagieren wir mit sexueller Vermeidung und vielleicht auch mit sexuellen Funktionsstörungen. Die klassische Sexualtherapie, wie sie William Masters und Virginia Johnson erfunden haben, hat diesem Zusammenhang viel Bedeutung beigemessen. Sie erklärt viele sexuelle Störungen (vorzeitigen Samenerguss und Erektionsstörungen bei Männern, Erregungs- und Orgasmusstörungen bei Frauen). Demzufolge kommt es zu diesen Störungen, wenn die Angst vor dem sexuellen Versagen zu groß ist. Als Teufelskreises führt die Angst vor dem Versagen genau zu dem befürchteten Versagen. Das Versagen bestätigt die Angst und vergrößert sie.
Das heißt, ein gewisses Maß an Angstfreiheit ist notwendig, um sich auf Sexualität einlassen zu können. Wer Angst hat, ist sonst sehr beschäftigt mit den aufkommenden Gefühlen. Die Furcht davor, nicht wie gewollt zu funktionieren, kann die Aufmerksamkeit ganz vom sexuellen Erleben wegnehmen. Auch ein dauerndes Nachdenken darüber, auf welchen eventuell moralisch fragwürdigen Pfaden jemand gerade wandelt, kann eine erotische Situation zunichte machen.
Lernen, die Angst zu kontollieren
Die Angst wird dann in der Tat zum Gegner der Sexualität. Aus dieser Überlegung heraus hat die klassische Sexualtherapie eine Reihe von Übungen entwickelt, die dazu dienen, die Angst besser unter Kontrolle zu bekommen. Auch wenn manche Sexualtherapeuten skeptisch sind, ob diese Übungen ohne therapeutische Begleitung funktionieren können, schadet es meiner Ansicht nach nichts, sie zumindest vorzustellen. Schaden können sie eigentlich kaum.
Und: Probieren geht über studieren!
Am Anfang stehen ein paar Verhaltensvorgaben, mit denen ein Paar lernen kann, angstfreie Erfahrungen zu machen. Zentral ist die Verabredung, keinen Geschlechtsverkehr zu praktizieren.
Dadurch soll die Angst vor dem Versagen außer Kraft gesetzt werden. Die Gelegenheit zu scheitern wird ausgeschlossen.
Ablauf der Übungen
Die Aufgaben beginnen damit, den nackten Partner zu streicheln. Derjenige, der gestreichelt wird, soll sich dabei entspannen. Dies machen die Partner im Wechsel, so dass jeder ein paar Mal in der empfangenden und ein paar Mal in der gebenden Position ist.
Der zeitliche Rahmen ist auf jeweils fünf Minuten eng begrenzt und wird auch genau eingehalten.
Jeder Schritt wird am folgenden Tag wiederholt und der nächste Schritt wird ergänzt. Damit lässt sich die Angst vor Erregung, Nähe und die Angst, überwältigt zu werden, im günstigen Fall nach und nach kontrollieren.
Die jeweilige Phase ist erfolgreich abgeschlossen, wenn beide Partner sich angstfrei entspannen können. In jeder Phase kommt ein Element hinzu. Jeder Schritt ist ein Schritt in Richtung sexuelle Erregung.
Übung 33: (Streichel-)Übungen in der klassischen Sexualtherapie
1. Phase: Streicheln des ganzen Körpers. Die Genitalien werden aber ausgespart.
2. Phase: Die Genitalien werden beim Streicheln oberflächlich mit einbezogen.
3. Phase: Zusätzlich zum Streicheln werden die Genitalien »erkundet«, aber nicht stimuliert.
4. Phase: »Spiel mit der Erregung«: Durch begrenzte genitale Stimulation wird ein spielerischer Umgang mit Erregung im Sinne von Kommen und Gehenlassen erprobt.
5. Phase: Einführen des Penis ohne Bewegungen.
6. Phase: Einführen mit vorsichtigen Bewegungen.
7. Phase: Geschlechtsverkehr ohne Einschränkung.
Das schrittweise Vorgehen ist eine Art geduldiger territorialer (körperlich-erkundender) Arbeit. Dabei gewinnt die Entspannung langsam Land und die Angst gibt zunehmend Land ab. Die Übungen sind orientiert am Zugewinn an sexueller Angstfreiheit.
Weil die Angst verschwindet, kommen die »verschütteten Triebe« hervor. Sie kommen von selbst zu sich, wenn erst ihre Behinderung durch hemmende äußere oder verinnerlichte Normen abgetragen ist. Entspannung ist dabei das individuelle und paarpsychologische Ökotop, in dem Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und Lust wachsen können. So jedenfalls ist die Theorie der klassischen Sexualtherapie.
Allerdings verspricht dieser Umgang mit der Angst nur dann wirklich Erfolg, wenn die Angst die erotischen Momente massiv behindert.
Ganz anders wirkt nämlich Angst, wenn sie als luststeigerndes Gefühl die Erregung beflügelt. Dann wäre es ganz fatal, Angstfreiheit zum Ziel zu haben. Eine Sicht auf die Sexualität, welche nur die Entspannung im Blick hat, wertet die lustfördernde Bedeutung der Angst ab. Das führt im besten Fall zu einer mittelmäßig funktionierenden Sexualität. Leidenschaft jedoch ist unter diesen Umständen dann nicht mehr möglich. Ganz im Gegenteil liegt in der Idee angstfreier Sexualität die Gefahr, Sex und Erotik zu verharmlosen. Mit der vollkommenen Entspannung werden alle anderen emotionalen Höhen der Erotik gleich mitgekappt.
Angstlust
Angst ist zudem ein großer Motor unserer Aktivitäten. Nicht nur in erotischer Hinsicht. Auch Risikosportarten leben von einem Kick, vom Ausstoß großer Mengen Adrenalin, Bungeejumping, Paragliding, Basejumping und selbst mit Skiern einen Abhang hinunterzubrettern, erzeugen Herzrasen und massive Hormonstöße. Und nicht selten stellen wir uns währenddessen die Frage, warum wir uns nun gerade in diesem Moment rasend, springend, fliegend diesem Risiko aussetzen.
Auch ein Thriller (thrill = Angstlust) im Kino lebt von der Spannung und der Lust auf dosierte Angst, die beim Zuschauer geweckt wird. Die mit einer Geschichte verbundenen Überraschungen, ihre unvorhersehbaren Wendungen und geheimnisvollen Abgründe sind maßgeblich für ihr Gelingen beim Publikum. Das ist das Gefühlsgemenge, wenn man verliebt ist. Ein gewisses Maß an Aufregung und Nicht-Vorhersehbarkeit fördert die erotische Leidenschaft. Erotische Überraschungen lassen das Herz wieder klopfen, sorgen für feuchte Hände und entzünden die Leidenschaft. Die körperlichen Symptome der Angst sind am Anfang der Beziehung die pulsierende Begleitmusik der Verliebtheit. Die Symptome verlieren sich in dem Maß, wie wir uns sicher sind, beim Partner in »festen Händen« zu sein.
So kommt es zu jener unerwünschten Nebenwirkung, die ich schon im Kapitel »Vom Können und Wollen«, Seite 34 ff., ausführlich beschrieben habe: Je mehr wir uns lieben und je mehr das Vertrauen wächst, weil wir das Verhalten des Partners vorhersehen können, desto weniger leidenschaftlich begegnen wir uns. Wenn wir den Partner noch nicht sicher haben, die Furcht vor dem Verlust also am größten ist, erreichen auch die Leidenschaft und der Sex ihre Gipfel.
Der erotische Thrill
Deswegen sind geheime Leidenschaften, ein Doppelleben oder Heimlichkeiten aller Art in besonderem Maß Triebfedern für erotisches Handeln – trotz oder wegen der möglichen negativen Konsequenzen beispielsweise im Fall eines Seitensprungs. Die Furcht davor, bei einer erotischen Handlung entdeckt zu werden, sorgt erst recht für den Kick in jenem Moment. Etwas mehr Angst, etwas mehr Verunsicherung, etwas weniger Vorhersehbarkeit bringt also den erotischen Kick zurück in die Beziehung. Es ist dann kein Wunder mehr, dass viele Paare berichten, gerade nach einem sehr heftigen Streit (ein Zeitpunkt, wenn die Distanz zwischen den beiden am höchsten und der Unterschied am größten ist) sei der Sex besonders gut gewesen.
Und so ähnlich kann man sich auch den Zusammenhang zwischen Angst und Spannung vorstellen, wenn man sich auf erotische Entwicklung in einer festen Partnerschaft einlässt. Die Risiken, über die wir im letzten Absatz gesprochen haben, machen genau die Angst aus, die einen im schlechten Fall in die Vermeidung alles Neuen treibt. Und die im guten Fall die Angstlust erzeugen, weil man um den Partner und die neue Ungewissheit zittern muss.
Die Empfehlung
Wenn Sie bei einer Übung Angst bekommen, wenn Ihnen unbehaglich ist, weil Sie nicht wissen, wie Ihr Partner reagiert, und wenn Sie dann das gleiche Gefühl haben wie beim ersten Mal, als Sie auf dem Drei-Meter-Sprungbrett standen und wippten, dann … dann stellen Sie sich einfach vor, Sie sind inmitten eines Kriminalfilms, in dem Sie selbst die Hauptrolle spielen – und dessen Drehbuch Sie selbst weiterschreiben können. Dann wird es erst richtig spannend!
Und wenn Sie Kontakt zur Angst aufnehmen wollen, dann ist die nächste Übung genau richtig.
Übung 34: Die Thrill-Übung
Stufe 1 – zum Aufwärmen: Überlegen Sie, in welcher Umgebung beim Sex Ihnen ein bisschen unbehaglich ist.
Haben Sie üblicherweise das Licht an beim Sex? Wie wäre es, wenn Sie es ausschalten? Und sich nicht mehr sehen, sondern nur noch durch Tasten und Streicheln spüren?
Haben Sie gewöhnlich das Licht aus beim Sex? Wie ist Ihnen zumute, wenn Sie es anschalten?
Wie steht es mit Sex im Zelt oder im Campingwagen, wenn die Nachbarn zuhören könnten? Oder in einem Zimmer Ihrer hellhörigen Wohnung, das an den Hausflur grenzt?
Stufe 2 – die Thrill-Skala: Denken Sie sich mindestens sechs sexuelle Situationen aus – egal, ob Sie sie schon erlebt haben oder nicht – und schreiben Sie sie in Stichworten auf. Sie sollten stark variieren in Bezug auf die Angst, die sie Ihnen machen. Mit anderen Worten: Nehmen Sie relativ angstfreie und sehr angstbesetzte Situationen sowie solche mittlerer Ausprägung. Variieren Sie den Ort, die Praktiken, den Partner, die Szene, Ihr Verhalten, das des Partners usw.
Nehmen Sie dann ein Blatt Papier und zeichnen Sie eine Skala auf, die von O bis 10 reicht.
0: macht mir überhaupt keine Angst
10: macht mir größte Angst
Die anderen Werte zeichnen Sie entsprechend dazwischen. Nehmen Sie jetzt die eben ausgedachten Situationen und tragen Sie zu jeder Situation einen Skalenwert ein.
Stufe 3 – der Thrill-Talk: Sprechen Sie mit Ihrem Partner über das, was Sie auf Ihrer Skala eingetragen haben! Und hören Sie Ihrem Partner zu, was ihm unbehaglich ist – oder was ihn womöglich scharf macht.
Wobei ist Ihnen besonders mulmig?
Was finden Sie – trotz Unbehagen – auch reizvoll?
Bei welchen sexuellen Fantasien und Gedanken dreht sich Ihnen der Magen um?
Welche Situation löst in Ihrer Vorstellung besonders viel Abwehr und Angst aus?
Was verursacht ein leichtes Prickeln? Spielen Sie mit Ihrer vorgestellten Angst! Beispiel: Sie haben als Situation aufgeschrieben: »Sex im halbdunklen Park, wenn jemand vorbeikommen könnte« und haben ihr einen Angstwert von 6 gegeben, also etwas überdurchschnittlich. Wie müssten Sie sich in dieser Situation verhalten, damit der Angstwert höher wird bzw. niedriger wird?
Spielen Sie das Gleiche mit Ihrem Partner durch!
Wichtig: Ermutigen Sie sich, die Angst anzusehen! Vermeiden Sie sie nicht. Reden Sie die Angst Ihres Partners nicht klein. Sagen Sie nie: »Du brauchst keine Angst (vor dieser Praktik) zu haben.« Besser: »Ja. Wie sehr erregt dich deine Angst?«
Nutzen Sie den Adrenalinschub, um die Lust zu fördern! Testen Sie aus, wie weit Sie gemeinsam gehen können.
Betrachten Sie Ihre Angst als einen Förderer und nicht als ein Hemmnis!
Sie haben meist zwei Möglichkeiten, Ihrer Angst Raum zu geben: als hinreichenden Anlass, etwas nicht zu tun. Oder aber als Hinweis auf den besonderen Reiz, der auf Sie wirkt und der Sie in Erregung versetzt. Angst kann neue Erfahrungen anstoßen. Die Angstlust und die mit ihr verbundene Erregung haben Sie zur Verfügung. Es liegt an Ihnen, diese Ressource zu nutzen!
Lösbare und unlösbare Probleme
Wir haben uns lange mit Zweifeln, mit Ambivalenzen und der Angst vor Veränderung beschäftigt. Wir haben uns also auf Widersprüche im Wollen konzentriert. Aber wie ist das mit dem Können? Wir entwickeln uns ja nicht einfach, bloß weil wir es wollen. Und schon gar nicht ändern wir die Beziehung zu unserem Partner, bloß weil wir es wollen.
Bei unserem Umgang mit den Veränderungen im erotischen Leben stellt sich die Frage: Können wir überhaupt etwas tun? Lohnt sich der Aufwand? Ist es uns möglich, so viel zu verändern, dass wir das Gefühl haben, all unsere Bemühungen sind fruchtbar und erfolgreich? Oder probieren wir Neues aus, muten uns womöglich noch einiges zu – und am Ende ist alles nutzlos. Viel Lärm um nichts also.
Das kann passieren. Das kann insbesondere dann passieren, wenn die Partner sich auf aussichtslose Ziele kaprizieren. Viele unzufriedene Paare richten ihre gesamte Veränderungsenergie auf Probleme, die sich bei genauerem Hinsehen sowieso nicht verändern lassen. Und sind dann nach einiger Zeit erschöpft und frustriert, wenn sie merken, dass ihre Mühe umsonst war.
Fallbeispiel
Gerald hätte es gern, dass Katarina sexuell aktiver ist. Dafür tut er einiges. Er spricht mit ihr über seine Wünsche und fordert sie auf, ihm ihre sexuellen Wünsche mitzuteilen. Er macht Vorschläge. Er verführt. Er ist erfindungsreich – und sie genießt seine Künste durchaus. Katarina fühlt sich erotisch privilegiert und kann sich wirklich nicht beklagen. Aber Gerald fehlt etwas. Er fühlt sich zu sehr auf die Rolle des Akteurs festgelegt. Wie sonst auch. Gerald hat das Gefühl, dass er der »Kümmerer« ist. Wo er schon der Hauptverdiener ist, müsste sich Katarina doch im Gegenzug um das Haus und die alltäglichen Erledigungen kümmern. Aber sie ist ein Genussmensch. Ein wunderbarer Genussmensch, aber kein sehr gestaltender und aktiver Mensch.
Gerald wünscht sich mehr sexuelle Aktivität und Initiative von ihr. Sie weiß das auch, weil beide sehr offen über ihre Wünsche sprechen. Und so haben sie sich darauf eingelassen, die Rollen umgekehrt zu spielen. Es ging irgendwie. Es war auch nicht schlecht. Aber bisher hatte Gerald nicht den Eindruck, dass er Katarina zu der Aktivität hätte bringen können, die ihm so ein Anliegen ist. Er überlegt, was er falsch macht, was bei Katarina gehemmt sein könnte. Und er ist etwas genervt, dass er eine so inaktive Partnerin hat.
Gerald und Katarina haben ein unlösbares Problem. Bei den beiden geht es um Unterschiede ihres sexuellen Profils, die Unterschiede bleiben werden. Katarina liegt es einfach mehr, in die empfangende Position zu gehen. Sie empfindet das als für sich stimmig und »kommt« dann einfach besser. Sie ist bereit, Gerald entgegenzukommen und sich auf ein anderes Verhalten einzulassen. Aber echt ist es für sie nicht. Die authentische Katarina ist nicht sexuell initiativ, sondern braucht den initiativen und aktiven Partner. Den hat sie in Gerald auch, so dass für sie die sexuelle Welt in Ordnung ist. Gerald wirft ihr vor, dass sie sich nicht auf ihn einlässt. Er möchte, dass Katarina Sex so will wie er. Er versucht, ihr sexuelles Profil dem seinen anzugleichen. Da für ihn sexuelle Initiative so befriedigend ist, kann er es sich gar nicht vorstellen, warum sie sich diesen Genuss nicht auch gönnt. Und deshalb versucht er es weiter. Und Katarina bemüht sich, ihm entgegenzukommen.
Gerald versucht, ein unlösbares Problem zu lösen. Noch hofft er, noch hat er Reserven. Noch versucht er es, auf dem verführerischen Weg Katarina zu bewegen. Aber das ist aussichtslos. Warum? Weil er versucht, den Kern von Katarinas Profil zu verändern.
Fallbeispiel
Eine andere Situation finden wir bei Heike und Timo:
Immer wenn Timo ein Glas Sekt oder Wein über den Durst getrunken hat, macht er Heike ziemlich ungebremst sexuell an. Heike hat prinzipiell nichts dagegen, sie schläft gern mit ihm. Allerdings stört sie sein beschwipstes Verhalten. Sie hat das Gefühl, dass er sie gar nicht mehr wahrnimmt und sie mit ihren Zärtlichkeitswünschen nicht mehr bei ihm landen kann. Sie empfindet sich von ihm in eine abwehrende Haltung gedrängt, obwohl sie doch eigentlich gern mit ihm zusammen ist. Am nächsten Tag mag sie es ihm auch nicht mehr vorhalten, weil sie nicht nachtragend sein will und weil sie sich ja sonst auch verstehen. Heike versucht, Timo durch freundliche Andeutungen zu sagen, was sie nicht mag. Es ist aber bisher folgenlos geblieben.
Die beiden vorgestellten Fallbeispiele illustrieren zwei Arten von sexuellen Problemen, mit denen es Paare zu tun haben: ewige Probleme und lösbare Probleme.
Unlösbare Probleme sind typische Probleme
Bei unlösbaren Problemen wird der Konflikt von den Partnern als »typisch« gesehen, als Ausdruck eines Problems, das auch in anderen Lebensbereichen vorkommt. Das macht das Problem groß und bedeutungsvoll. Und unbeweglich. Weil es mit Charaktereigenschaften und tief verwurzelten Eigenschaften, dem »Wesen« eines Menschen zu tun hat.
Ein gutes Beispiel sind Temperamentsunterschiede der Partner: Er ist eher langsam und gründlich, sie ist schnell und flott. Dieser Unterschied ist noch kein Problem. Er wird aber zu einem, wenn der eine den anderen ändern möchte. Er will sie zu mehr Gründlichkeit bewegen. Sie möchte ihm seine Umständlichkeit abgewöhnen. Vergebliche Liebesmüh’! Das Temperament ist für Argumente und Einsicht nicht zugänglich. Der Versuch, solche Unterschiede zu verändern, kann zu so etwas wie »ehrlichem Bemühen« oder zu guten Vorsätzen führen. Letztlich quälen die Partner einander und sich selbst mit solchen aussichtslosen Veränderungsversuchen.
Ähnliches trifft für Unterschiede im sexuellen Profil der Partner zu. Manche Elemente des sexuellen Profils sind veränderbar. Manche sind sehr zeitstabil und ändern sich während des Lebens kaum. Im Fall von Gerald und Katarina könnte man die unterschiedlicheren sexuellen Temperamente und Vorlieben als relativ stabil und wenig änderbar ansehen. Auf dieser Basis haben sie sich ein ewiges Problem zugelegt.
Lösbare Probleme sind begrenzte Probleme
Lösbare Probleme drehen sich um ein begrenztes Verhalten. Sie greifen nicht auf andere Lebensbereiche über. Die Partner geben ihm keine »typische« Bedeutung. Und sie haben nichts mit tiefer liegenden und eingespielten Charaktereigenschaften zu tun. Timo und Heike geraten immer zum gleichen Anlass in einen Konflikt. Timos beschwipster Zustand ist für ihn ein sexueller Antörner, für Heike ein Abtörner. Das ist so gut wie jedes Mal so, wenn Timo etwas trinkt. Ansonsten haben die beiden ähnliche Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, wie sie ihre Tochter erziehen und wohin sie in Urlaub fahren. Und auch darüber, was befriedigender Sex ist – ohne Alkohol.
Im Fall von Timo und Heike hat der Konflikt um den Alkohol keine weitere Bedeutung. Heike hat Timo nicht im Verdacht, Alkoholiker zu sein. Sie fürchtet auch nicht, dass er den Alkohol nutzt, um Distanz zwischen sich und sie zu bringen. Und das Thema spielt auch sonst zwischen den beiden keine Rolle. Heike macht ein lösbares Problem zu schaffen. Auch sie haben es noch nicht gelöst.
Die Lösung steht noch bevor.
Sam: Setze deine Energie vernünftig ein. Löse nur lösbare Probleme. Und nimm unlösbare Probleme entspannt zur Kenntnis. |
Ob ein Konflikt auf ein lösbares oder ein unlösbares Problem zurückzuführen ist – auf die Qualität der Beziehung hat das keinen Einfluss. Das heißt, auch ein Paar mit einem ewigen Problem kann sexuell zufrieden miteinander sein. Und umgekehrt: Nur weil ein Paar sich in einem lösbaren Problem wiederfindet, bedeutet das nicht, dass es deswegen automatisch glücklicher damit ist. Auch lösbare Probleme können zur gravierenden Verschlechterung der Beziehungsqualität führen. Wenn sie nicht gelöst werden.
Ist unser Problem ein lösbares oder ein unlösbares?
Lösbare und unlösbare Probleme haben verschiedene Eigenschaften. Was bei dem einen Paar ein lösbares Problem ist, kann bei einem anderen Paar durchaus ein ewiges Problem sein. Daher gibt es keine aus dem Inhalt des Problems begründete Unterscheidung. Vielmehr ist es so, dass der partnerschaftliche Kontext und die jeweiligen charakterlichen Unterschiede eine entscheidende Rolle spielen, ob ein Problem dauerhaft in der Beziehung vorhanden sein wird oder ob es sich nur zeitweise festsetzt. Es ist sinnvoll, sich keiner Illusion hinzugeben: Wer sich auf einen Partner einlässt, holt sich zwangsläufig auch dessen Widersprüche, Besonderheiten und Einzigartigkeiten ins Haus. Wegen einiger Eigenheiten lieben wir unseren Partner. Wegen anderer raufen wir uns die Haare. Das eine ohne das andere zu bekommen, ist aber nicht möglich!
lösbares Problem | unlösbares Problem |
Das Problem steht für sich selbst. | Das Problem steht stellvertretend für ein größeres Thema wie Vertrauen, Selbstsucht, Selbstverwirklichung. |
Konfliktthemen sind problematische Verhaltensweisen. | Konfliktthemen sind Auffassungen, Anschauungen, Einstellungen, die mit lange eingespielten Persönlichkeitseigenschaften zusammenhängen. |
Es bezieht sich auf ein spezielles Verhalten, das man zeigt – oder auch bleiben lassen kann. | Es bezieht sich auf Vorlieben und Wünsche, die man nicht frei wählen kann. |
Eigenschaften von lösbaren und unlösbaren Problemen
Die Tabelle auf der vorigen Seite fasst ein paar Eigenschaften der lösbaren und der ewigen Probleme zusammen. Außerdem zeigt sie, welche Umgangsmöglichkeiten die Beispielpaare mitbringen.
Test 8: Haben wir lösbare oder unlösbare Probleme?
Nehmen Sie ein Problem, das Sie mit der Sexualität Ihres Partners haben oder früher einmal hatten. Beschreiben Sie das Verhalten Ihres Partners, das Ihnen Schwierigkeiten bereitet, genau:
Für mich ist es ein Problem, dass mein Partner ……………
1. Wann tritt das Problem auf?
a. nur bei manchen Gelegenheiten b. fast immer
2. Wie lange zeigt Ihr Partner das Verhalten schon?
a. seit einiger Zeit
b. seit ich ihn kenne
3. Ist das Problem auf die Sexualität begrenzt?
a. im Wesentlichen ja
b. Nein, es taucht auch in anderen Lebensbereichen auf.
4. Hat Ihr Partner das für Sie problematische Verhalten in Ihre Beziehung »mitgebracht«?
a. Nein, das hat sich erst zwischen uns entwickelt.
b. Ja, das hat er schon mit anderen Partnern früher gezeigt.
5. Kann Ihr Partner das für Sie problematische Verhalten, wenn er will, auch bleiben lassen?
a. ja
b. nein
Auswertung: Zählen Sie, wie oft Sie »b« angekreuzt haben. Wenn Sie vier oder fünf b-Antworten haben, handelt es sich sehr wahrscheinlich um ein unlösbares Problem. Sie können davon ausgehen, dass Ihr Partner das Verhalten beibehalten wird. Und dass Sie Energie sparen, wenn Sie dieses Verhalten nicht ändern wollen.
Was tun?
Wenn Sie ein sexuelles Problem angehen wollen, ist eine wichtige Voraussetzung, dass Sie lösbare mit unlösbaren Problemen nicht verwechseln. Der amerikanische Paartherapeut John Gottman, von dem diese Unterscheidung stammt, kommt zu der Einschätzung, dass die meisten Paarprobleme deshalb so lange bestehen bleiben, weil die Partner die beiden Problemtypen miteinander verwechseln. Dabei gibt es zwei Arten der Verwechslung:
Verwechslung 1: Sie halten ein lösbares Problem für ein unlösbares. In diesem Fall haben Sie zu früh aufgegeben und Ihre Möglichkeiten nicht ausgereizt.
Verwechslung 2: Sie halten ein unlösbares Problem für lösbar. In diesem Fall reiben Sie sich immer noch auf und verbrauchen Energie für Aktivitäten, die Sie anders besser nutzen könnten.
Wenn Sie ein Gefühl von Enttäuschung und Verbitterung nicht loswerden, lohnt es sich, noch einmal genau hinzusehen.
Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass Sie das Problem für lösbar halten und dass sich die Investition lohnt: Im vorigen Kapitel finden Sie jede Menge praktischer Übungen.
Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass Sie sich – ähnlich wie Gerald – in ein unlösbares Problem verrannt haben, was dann?
Beim Umgang mit ewigen Problemen sind nicht in erster Linie Handlungen und Taten gefragt. Wenn es nichts zu lösen gibt, gibt es nichts zu lösen. Die Rettung liegt darin, sich eine andere Haltung zuzulegen, die es erleichtert mit dem zu leben, was so ist, wie es ist. Mit Haltung ist also mehr als nur eine andere Sichtweise gemeint: Ich lege mir eine andere Grundeinstellung zu meiner Partnerschaft und zu mir selbst zu.
Dafür schlage ich Ihnen fünf goldene Regeln zum Umgang mit unlösbaren Paarproblemen vor.
Regel 1: Nehmen Sie das Verhalten Ihres Partners nicht persönlich
Das klingt schwieriger als es ist. Im Streitfall nehmen Sie natürlich alles persönlich. Ihr Partner beleidigt Sie, macht Ihnen Vorwürfe und wird Ihnen nicht gerecht. Ihr spontaner Impuls sagt Ihnen: kontern, verteidigen, rechtfertigen, rein in den Kampf! Geben Sie diesem spontanen Impuls nicht nach! Atmen Sie durch und machen Sie sich klar. Wenn Ihr Partner Sie beleidigt, hat er ein Problem, nicht Sie! (Es sei denn, Sie halten wirklich nicht viel von sich selbst und geben Ihrem Partner recht). Beispiel: Ihr Partner attakkiert Sie, Sie seien »gefühlskalt«. Wenn Sie sich selbst nicht für gefühlskalt halten, brauchen Sie das nicht persönlich zu nehmen. Lassen Sie das Problem dort, wo es herkommt – bei Ihrem Partner.
Regel 2: Genießen Sie die Resignation entspannt
Wie soll das gehen? Resignation und Entspannung? Doch, genau! Verwechseln Sie nicht Enttäuschung und Resignation. Das enttäuschte Gefühl will noch etwas ändern, das resignierte nicht mehr. Lassen Sie los! Und lassen Sie die Trauer darüber zu, dass Ihr Partner das für Sie so problematische Verhalten nicht aufgeben wird und dass Sie das Problem immer haben werden, solange Sie mit ihm zusammen sind. Nach einer traurigen Phase werden Sie sich erleichtert fühlen.
Regel 3: Nehmen Sie die Unveränderbarkeit als Zugewinn von Freiheit
Ich habe doch etwas verloren und nichts gewonnen, werden Sie sagen. Doch! Sie haben etwas gewonnen, nämlich Zeit, Freiheit, Energie und Platz für neue Aktivitäten, nachdem die nutzlos vergeudete Energie, Ihren Partner zu ändern, frei geworden ist. So können Sie sich neuen Aktivitäten zuwenden. Und es gibt ja so viel Interessantes zu tun!
Regel 4: Ändern Sie sich lieber selbst als Ihren Partner
Es ist einfach lohnender, sich selbst zu ändern. Mit sich selbst haben Sie 24 Stunden am Tag zu tun. Mit Ihrem Partner deutlich weniger. Und praktischer ist es auch: Sie haben einen Verhandlungspartner weniger, werden sich schneller einig und können sicher sein, dass Sie von der Veränderung auch selbst profitieren werden. Und Sie werden den Gewinn der Veränderung ständig mit sich herumtragen.
Regel 5: Gehen Sie nicht davon aus, dass Ihr Partner sich ändert, bloß weil Sie sich ändern
Laufen Sie nicht in die Falle, heimlich auf eine Veränderung Ihres Partners zu hoffen – womöglich aus Dankbarkeit oder Fairness, weil Sie schon angefangen haben. Wenn Sie das tun, sollten Sie erst einmal zu Regel 2 gehen. Ihr Partner folgt seiner eigenen Seelenlogik. Investieren Sie in sich selbst, nicht in Ihren Partner! Das ist für beide besser. Lassen Sie Ihren Partner in Ruhe!