Nicht können oder nicht wollen?
Eine großformatige Anzeige der Firma Pfizer, Produzentin des Erektionsmittels Viagra, stellt folgendes Bild dar: zwei Köpfe vor kühl-erotischem Hintergrund. Ein Mann und eine Frau wenden sich im Halbprofil einander zu. Ihre Augen sind geschlossen, die Münder halb geöffnet – kurz davor, einander zu berühren. Die Atmosphäre ist innig. Zwei Denkblasen sagen uns, was sich in ihren Köpfen abspielt. Er denkt: »Ich kann nicht.« Sie denkt: »Er will nicht.«
Ein und dieselbe Situation, zwei Erklärungen des Geschehens. Er möchte gern, kann aber nicht. Der Penis gehorcht nicht dem Kopf. Der Mann fühlt sich schwach und unsicher. Den Ausweg bietet das Medikament. Was wie eine Schwäche aussieht, lässt sich mit einer Tablette beheben. Wäre damit alles paletti? Ironischerweise ja – wenn es die Partnerin nicht gäbe!
Aus ihrer Sicht stellt sich die Sache anders dar: Er will nicht und ist deshalb nicht erregt. Würde ihr Mann sie nur wollen, würde er sie wirklich begehren, gäbe es kein Problem. Sie nimmt die Erektionsstörung persönlich und macht ihn dafür verantwortlich, dass es zwischen ihnen beiden nicht klappt.
Funktionieren und Begehren
Die Pharma-Anzeige verbindet zwei Aspekte des erotischen Verhaltens, an denen sich sexuelle Schwierigkeiten gerade in langjährigen Beziehungen oft entzünden: den Gegensatz zwischen Können und Wollen, zwischen Funktion und Begehren. Die Sicht des Könnens und der Funktion, die der Mann einnimmt, steht im Gegensatz zur Sicht der Frau, die das Wollen und damit das Begehren im Blick hat.
»Ich kann nicht!« eignet sich als Ausrede in verschiedenen Lebensbereichen: Wir nutzen den Satz, wenn wir uns nicht in der Lage sehen, eine bestimmte Anforderung oder Erwartung zu erfüllen, einen Termin zu halten oder eine Aufgabe zu erledigen. Dabei ist es nicht immer völlig eindeutig, ob wir tatsächlich nicht können, weil unsere zeitlichen, körperlichen, finanziellen Möglichkeiten es nicht erlauben – oder ob wir eine Ausrede suchen, weil wir nicht wollen. Die Alltagssprache erlaubt diese Ungenauigkeit, um Hintertüren offen zu lassen. Aber unser Gegenüber kennt diese Hintertür auch – und will umso genauer wissen, was nun gilt.
Auch in der Partnerschaft lässt sich schwaches oder mangelndes Verlangen nach Sex mit dem Satz »Ich kann nicht« begründen. Das hält Enttäuschungen in Grenzen: Es ist dann nicht persönlich gemeint. Es geht eben nicht. Der zurückgewiesene Partner kann das »Nicht-Können« eine gewisse Zeit hinnehmen – im unproblematischen Fall. Das geht so lange, bis er oder sie die Geduld verliert und die Ausflucht nicht mehr gelten lässt. Diese Frustrationsgrenze hängt maßgeblich davon ab, ob die Partner der Ansicht sind, sie hätten es mit mangelndem Können oder mit verweigerten Wollen zu tun.
Funktion – »Ich kann nicht« |
Begehren – »Ich will nicht« |
Ausdruck der körperlichen Funktion |
Ausdruck sexueller Wünsche |
setzt die Rahmenbedingungen und begrenzt |
ermöglicht Spielräume |
am »Normalen« orientiert |
am Individuellen orientiert |
liegt außerhalb der eigenen Verantwortung |
liegt in der eigenen Verantwortung |
Was »Können« heißt, hängt mit unseren Vorstellungen zusammen, was sexuell gesund und normal ist. Diese Vorstellungen sind auch durch die Sexualwissenschaft maßgeblich geprägt worden. Das berühmte Sexualforscherpaar William Masters und Virginia Johnson hat seine Forschungsergebnisse in einem Modell zusammengefasst: dem sexuellen Reaktionszyklus. Demzufolge läuft die ungestörte, natürliche sexuelle Reaktion in vier Phasen ab:
Der sexuelle Reaktionszyklus nach Masters und Johnson
Die Erregungsphase, während der es beim Mann zur Erektion, bei der Frau zur Lubrikation (Feuchtwerden der Scheide) kommt
Die Plateauphase, während der die Erregung auf hohem Niveau konstant bleibt
Die Orgasmusphase, während der es zum sexuellen Höhepunkt kommt
Die Refraktärphase, während der eine erneute Erregung nicht möglich ist
Wenn man dieses Modell gelten lässt, ist auch schnell definiert, was eine Störung ist:
Störungen der Erregungsphase: beim Mann Erektionsstörungen, bei der Frau Erregungsstörungen
Störungen der Plateauphase: frühzeitiger Samenerguss (Ejaculatio präcox)
Störungen der Orgasmusphase: Orgasmusstörungen
So scheint die Welt der sexuellen Störungen geordnet. Aber dieses Modell ist zu Recht kritisiert worden: Man sieht schnell, dass es ausschließlich am sexuellen Funktionieren, am Können, orientiert ist: Männer müssen beim Sex eine Erektion haben können und sie sollen beim Geschlechtsverkehr nicht zu schnell zum Orgasmus kommen. Frauen sollen erregt sein und feucht werden – und sie sollen dann einen Orgasmus haben. Wenn sie das nicht können, wenn es nicht funktioniert, haben sie eine Störung. Hier werden sexuelle Normen gesetzt – unter der Überschrift der Natürlichkeit: Man kann es richtig machen, dann »klappt es« – andernfalls hat man eine Störung, die dann auch genauso heißt: eine sexuelle Funktionsstörung.
Wer wirklich will, kann trotzdem nicht immer
Solange wir unseren Körper und seine Fehlfunktion heranziehen können, um zu erklären, warum etwas nicht passiert, bewegen wir uns im tolerierbaren Rahmen eines Mangels, den der Partner nicht persönlich zu nehmen braucht: Ich kann eben nicht. Damit bekommt meine Störung den Status einer Krankheit und dann kann von mir auch nicht so viel verlangt werden. Dabei ist es egal, ob die Ursache bei körperlichen oder bei psychischen Störungen gesehen wird. Der Mangel hilft, die eigenen Erwartungen zu reduzieren und nicht über Gebühr enttäuscht zu sein, wenn einmal wieder erotische Funkstille herrscht. Diese Sicht ist für den partnerschaftlichen Frieden in der Beziehung enorm entlastend. Niemand kann etwas dafür, wenn der Körper die sexuelle Erregung versagt. Keiner ist verantwortlich.
Heißt das: Wer wirklich will, kann auch? Natürlich nicht. Ganz abgesehen von körperlichen Krankheiten, Behinderungen und Unfallfolgen gibt es genügend situationsabhängige Gründe dafür, von Zeit zu Zeit sexuell »nicht zu können«, sich nicht erregt zu fühlen, kein Verlangen nach Sex zu haben. Beruflicher Stress, persönlicher Kummer, Belastungen in jedem Lebensbereich können zu bedrückter Stimmung führen, die dann auch das sexuelle Interesse beeinträchtigt.
Ob sich beim Sex eine Erektion einstellt, ob die Scheide feucht wird, ob er oder sie zum Orgasmus kommt oder nicht, das entscheidet der Körper unwillkürlich und ungefragt. Ob sich das Paar dadurch an sexueller Aktivität hindern lässt, entscheiden die beiden Partner, willkürlich und bewusst. Und hier liegt der entscheidende Unterschied, ob man sexuelle Störungen und sexuelle Lustlosigkeit als Probleme des Nicht-Könnens oder des Nicht-Wollens versteht. Wenn ich keinen Sex haben kann, habe ich eine gute Ausrede, hinter der ich mich verstecken kann: Ich bin unschuldig, ich bin das Opfer meiner Störung. Wenn ich keinen Sex haben will, verstecke ich mich nicht, sondern treffe eine Entscheidung.
Sich selbst auf den Zahn fühlen
Wie sieht das bei Ihnen aus? Wie gehen Sie mit dem »Nein« um? Wie klar sagen Sie, was Sie meinen? Wie gern nutzen Sie die Hintertür der Ausrede? Prüfen Sie Ihre eigene Position mit einem kurzen Test. Er soll Ihnen helfen, sich selbst auf den Zahn zu fühlen.
Test 2: Wollen und Können
Nehmen Sie das letzte sexuelle Zusammensein mit Ihrem Partner, das Sie als unbefriedigend empfunden haben.
Beantworten Sie die folgenden Fragen:
Was genau konnten Sie in dieser Situation nicht?
Was genau wollten Sie in dieser Situation nicht?
Was genau konnte Ihr Partner in dieser Situation nicht? (Wenn Sie es nicht sicher wissen: Was vermuten Sie?)
Was genau wollte Ihr Partner in dieser Situation nicht? (Wenn Sie es nicht sicher wissen: Was vermuten Sie?)
Was haben Sie Ihrem Partner gesagt?
Was hat Ihr Partner Ihnen gesagt?
Auswertung von Test 2: Denken Sie über Ihre Antworten nach! Was liegt Ihnen näher, sich zum Nicht-Wollen zu bekennen oder sich hinter dem Nicht-Können zu verstecken? Und wie macht es Ihr Partner?
Kündigung der sexuellen Routine: »Nein, ich will so nicht!«
Sobald ein Partner sich nicht mit dem Nicht-Können abfindet, ist das Paar mitten im Konflikt. Hinter der Vermutung »Er will nicht« kann ein starker Konflikt versteckt sein. Die heikle zentrale Frage heißt: Hat es etwas zu bedeuten? Oder hat es nichts zu bedeuten, es klappt halt nicht?
Und wenn es etwas zu bedeuten hat: Ist das Gesagte auch das Gemeinte? »Was willst du von mir, wenn du mich nicht spürbar begehrst? Sagst du mir mit deinem sexuellen Problem, dass du mich nicht mehr liebst? Nein? Was sagst du mir dann?«
Diese Fragen halten Zündstoff für die Beziehung bereit. Zündstoff für böse Botschaften. Denn es kommen ganz andere Facetten zum Vorschein, wenn wir die unschuldige Sicht auf das Funktionieren des Körpers einmal hinter uns lassen. Das Symptom sagt vieles, was wir uns selbst nicht trauen. Mit einem sexuellen Symptom können Vorwürfe und Bosheiten mitgeteilt werden, die nicht direkt ausgesprochen werden, weil sie ausgesprochen verletzend sein könnten.
Was mitgeteilt werden könnte
Mit einer Störung ihrer sexuellen Erregung kann eine Frau ihrem Mann zeigen: »Deine erotischen Annäherungsversuche erreichen mich nicht.«
Mit einem vorzeitigen Samenerguss kann der Mann eine Frau in eine sexuelle Nähe locken, um sie, wenn sie sich darauf eingelassen hat, mit ihrer Erregung ins Leere laufen zu lassen: »Ätsch!«
Mit einer Orgasmusstörung kann eine Frau signalisieren: »Du bist mir nicht männlich genug«, ohne dass sie dies offen sagen muss.
Eine Erektionsstörung kann jedes mündliche Liebesbekenntnis widerlegen: »Du reizt mich eben doch nicht.«
Solche Mitteilungen tun weh. Erst recht, wenn sie genau so gemeint sind. Und deshalb ist die Verführung ziemlich groß, sich hinter dem Nicht-Können zu verstecken: »Es geht nicht!«,» Es klappt nicht!«, »Ich kann nicht!«
Wenn wir sagen, was wir nicht wollen, haben wir gleich zwei Probleme: Es macht uns angreifbar und verletzlich. Wir geben uns zu erkennen. Und – schlimmer noch – wir verlieren die Unschuld: Wenn wir den Partner mit unserer sexuellen Lustlosigkeit auflaufen lassen, wenn wir sagen, dass wir sein sexuelles Angebot nicht annehmen, dann muten wir ihm eine Kränkung zu. Absichtlich oder unabsichtlich. Die Gemeinsamkeit ist mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich.
Die Reaktion meines Partners ist das Problem! Er oder sie könnte gekränkt sein, sich zurückgewiesen fühlen, sich bedroht, abgewertet oder geängstigt fühlen. All das will ich ihm ja nicht antun. Und vor allem ist mir selbst unbehaglich, wenn ich weiterdenke: Was wird er oder sie daraufhin tun? Mir Vorwürfe machen? Sich rächen und mich umgekehrt ebenfalls kränken? Wie lästig, wie unangenehm! Das erspare ich mir lieber und gebe die arglose Auskunft: Ich kann leider nicht. Und wenn mein Partner die Ruhe zwischen uns nicht stören will, nimmt er diese Aussage gern an und glaubt mir.
Das »Nein« zum Sex
Dabei wäre ein »Ich will nicht« der erste Schritt zur Klarheit. Wenn das »Nein« zum Sex heißt: »Mit dir nie und unter keinen Umständen«, dann – ja dann hat diese Partnerschaft ziemlich schlechte Karten. Die Botschaft der sexuellen Störung heißt in diesem Fall: Ich will dich nicht. Keine schöne Botschaft, aber eine eindeutige. Aber »Nein« kann auch heißen: »So nicht!« Diese Praktik nicht, dieser Ort nicht, diese Umstände nicht. Solange ein bestimmter Konflikt schwelt nicht. Solange bestimmte Fragen ungeklärt bleiben nicht. Ein solches Nein definiert den Zugang zum Sex neu. Und es kann der Anfang einer Lösung sein.
Fallbeispiel
Erika kam mit ihrem Mann zu mir in die Paartherapie, weil sie keine Lust auf Sex hatte, weder mit ihrem Mann noch mit anderen Männern oder Frauen. Und auch Selbstbefriedigung praktizierte sie nur sehr selten. Rolf, dem ihre Lustlosigkeit ebenso ein Rätsel war wie ihr selbst, kam auf ihre Bitte mit zur Paartherapie. Er bemängelte ihre fehlende Erregung, sah sie als beeinträchtigt und hatte nicht die geringste Vorstellung, dass ihr sexuelles Problem etwas mit ihm zu tun haben könnte. Dazu hatte sie ihm auch keinen Anlass gegeben, hatte ihm nie ausdrücklich etwas vorgeworfen und an seinem Verhalten kaum etwas ausgesetzt. Rolf war in der Tat ahnungslos. Sie hatten gelegentlich miteinander Verkehr, erlebten ihn aber als sehr unbefriedigend. Ansonsten verstanden sich beide gut. Ihr sexuelles Problem hatte auch nicht zum Streit geführt, keiner hatte dem anderen vorgeworfen, schuld an der Misere zu sein.
Das änderte sich, als ich eine Kleinigkeit aufgriff, die Erika in einem Gespräch eher beiläufig erwähnte. Wenn ihr Mann, der üblicherweise morgens duschte, ausnahmsweise abends unter die Dusche ging, ehe er zu ihr ins Schlafzimmer kam, wusste sie, dass das seine Vorbereitung war, sich ihr sexuell zu nähern. Dieses Signal wirkte völlig antisexuell auf sie. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte – natürlich erfolglos – möglichst schnell einzuschlafen. Bis zur Therapie wusste Rolf nichts von dieser Reaktion. Nach einigen Nachfragen rückte sie schließlich damit heraus, dass sie die Sexualität ihres Mannes »so furchtbar hygienisch und unromantisch« fand. Auf Rolfs prompte Frage, was er denn anderes tun solle, reagierte sie verlegen, das wisse sie auch nicht. Erika blieb trotz der gekränkten Irritation ihres Mannes ihrer Position treu und lenkte nicht ein. Neu war jetzt, dass sie nicht mehr sagte: »Ich habe keine Lust«, sondern: »Ich weiß noch nicht, wie ich mir guten Sex vorstelle – aber so wie bisher jedenfalls nicht.«
So nicht! Damit hatte Erika sich zum ersten Mal nicht als die Beeinträchtigte gezeigt, die nicht kann. Jetzt sagte sie: »Ich will so nicht!« Sie riskierte damit, ihren Mann zu kränken, der das als Zurückweisung erlebte. Aber sie nahm das in Kauf und gewann damit erst einmal Freiraum, um für sich weiter zu suchen, was denn genau eine ihr entsprechende Sexualität sein könnte.
Wir kommen später auf dieses Paar und den weiteren Verlauf zurück. Wie sieht das bei Ihnen aus? Lassen Sie es auf eine kurze Probe ankommen, wie leicht oder schwer Sie sich mit dem Nein zum Sex tun! Wie klar teilen Sie Ihr Nein mit?
Test 3: Das unklare Nein
Erinnern Sie sich möglichst genau an die letzte Situation, in der Ihr Partner etwas von Ihnen verlangt oder erwartet hat, das Sie nicht mochten – und Sie sich um ein klares »Nein« herumgemogelt haben.
Was wollte Ihr Partner von Ihnen?
Was haben Sie darauf gesagt oder getan?
Wie wäre die ehrliche Antwort gewesen?
Wie fühlt sich die ehrliche Antwort an?
Wahrscheinlich bemerken Sie, dass Ihnen das ehrliche »Nein, ich will das nicht« mehr Herzklopfen macht als das gemogelte »Nein, ich kann nicht«. In diesem Herzklopfen liegt der Schlüssel zur Entwicklung Ihrer erotischen Selbstbestimmung! Und das ist gut so. Erotik ist auch ein Feld für Mutproben. Es braucht diesen Ruck, in dem Sie sich trauen, Nein zu dem zu sagen, was Ihnen nicht gut tut und was für Sie nicht stimmig ist.
Das Nein ist oft der Anfang. Es schafft zunächst Luft zum Nachdenken. Luft auch für meinen Partner, der ebenfalls Zeit braucht, um sich auf die neue Situation einzustellen. Immerhin hatte er es bisher mit jemandem zu tun, der nicht konnte. Und jetzt plötzlich mit jemandem, der die bisherige sexuelle Routine kündigt.
Welches Ja zu welchem Sex?
Mit der Kündigung des unbefriedigenden Sex sind wir noch nicht beim guten Sex angekommen. Das macht nichts. Es ist angemessen, wenn Sie sich jetzt eine Phase des Suchens gestatten. Eine Phase, in der es zu Irritationen, Unsicherheiten bei beiden Partner kommen kann. Das kann ein paar Wochen dauern. Oder auch Monate. Vielleicht wissen Sie oder Ihr Partner – ähnlich wie Erika– zunächst nicht, was Sie stattdessen wollen.
Eine große Behinderung auf dieser Suche ist die Befürchtung, wie Ihr Partner reagieren könnte. Angenommen, Ihnen wird eine bestimmte Vorliebe deutlicher, die Sie Ihrem Partner zuliebe nicht genannt haben oder sich selbst nicht mehr zugestanden haben, um ihm nicht wehzutun oder um es ihm recht zu machen. Aus Rücksicht haben Sie es mitgemacht, schließlich geht befriedigender Sex nur dann, wenn beide dasselbe wollen – so haben Sie jedenfalls bisher gedacht. Und so sitzt Ihnen immer die Sorge im Nacken, was Ihr Partner denkt. Wenn ich einen neuen Wunsch äußere, was kannst du damit anfangen? Findest du mich dann noch liebenswert? Sinke ich in deiner Achtung? Oder steige ich in deiner Achtung, weil ich den Mut aufbringe, mich so zu zeigen? Wie viel Übereinstimmung kriegen wir dann noch hin?
Teilen Sie Ihrem Partner dann das Begehren mit, gehen Sie ein Risiko ein. Sie könnten zurückgewiesen, verlacht und abgelehnt werden. Zum Wollen gehört also Mut. Nicht-Wollen ist häufig ein Selbstverbot, das die erwartete Reaktion unseres Partners vorwegnimmt: »Das wird er sowieso nicht mögen.« Oder: »Das wird sie nie mitmachen!«
Dass Sie in der Phase des Suchens nach dem besseren Sex hinund hergerissen sind zwischen neuen Wünschen, dem Nein zur sexuellen Routine, der Rücksicht auf Ihren Partner, Gefühlen der Peinlichkeit – das ist normal, auch wenn es nicht immer angenehm ist. Viele Paare halten diese Phase der Unklarheit nicht gut aus, resignieren und machen alles wieder wie früher. Nur Geduld! Es kann eine große Hilfe sein, wenn Sie sich nicht zu schnell zu einer Lösung zwingen. Verabreden Sie mit Ihrem Partner eine Bedenkzeit – für Sie beide! Gut Ding will Weile haben.
Selbstbestimmte oder partnerbestimmte Sexualität
Eine zentrale Frage in der Phase des Suchens ist die Rücksicht auf den Partner. Rücksicht ist auf der einen Seite etwas Gutes, eine der großen Tugenden menschlicher Beziehungen. Auf der andern Seite kann sie auch ein Hemmschuh sein. Wenn Sie jeden Wunsch sofort danach überprüfen, ob er Ihrem Partner angenehm und recht ist, machen Sie es Ihren Wünschen schwer, aus der Versenkung zu kommen. »Ich würde schon, aber mein Partner macht das ja nicht mit«, heißt die geläufige Begründung. Und schon habe ich einen Grund, mich hinter meinem Partner zu verstecken. Ich mache ihn freundlich zum Schuldigen dafür, dass ich selbst nicht Farbe bekenne zu dem, was ich will und was mich ausmacht.
Eine wichtige Unterscheidung, die der amerikanische Sexualtherapeut David Schnarch eingeführt hat, ist die zwischen selbstbestimmter und partnerbestimmter Sexualität.
Partnerbestimmte und selbstbestimmte Sexualität
Partnerbestimmt: Ich zeige meine Sexualität so, dass ich eine bestätigende Reaktion meines Partners erwarten kann.
Selbstbestimmt: Ich zeige meine Sexualität so, wie es mir sexuell entspricht. Dabei nehme ich eine nicht bestätigende (ängstliche, verärgerte) Reaktion meines Partners in Kauf.
Die Unterschiede
Mit partnerbestimmter Sexualität versuche ich, es meinem Partner recht zu machen. Du willst gestreichelt werden? Also streichle ich dich. Du willst verwöhnt werden? Also verwöhne ich dich. Du willst Kerzenlicht und eine schöne Atmosphäre? Also sorge ich für Kerzenlicht und eine schöne Atmosphäre. Nicht schlecht! Aber wenn ich der partnerbestimmten Sexualität alles opfere, wenn ich mich selbst vergesse, wenn ich meinen Partner wichtiger nehme als mich selbst, dann fängt die Sache an, kritisch zu werden. Denn dann bin ich kein Partner mehr, sondern Erfüllungsgehilfe. Und das tut beiden nicht gut. Beiden nicht!
Selbstbestimmte Sexualität ist riskant. Wenn ich zunächst über mich spreche und nicht die Rücksicht auf den Partner als inneren Zensor einsetze, nehme ich ein gewisses Risiko in Kauf. Mein Partner kann es mit der Angst zu tun bekommen, kann meine Sexualität peinlich oder lächerlich finden, kann sie abwerten. Er oder sie kann den Eindruck bekommen: »Mir ist das fremd, das hat mit mir nichts zu tun« und Trennungsgedanken entwickeln. »Das ist überhaupt nicht lustig für mich.« Aber es ist Voraussetzung für – guten Sex trotz Liebe. Er kann sich entwickeln, wenn ich es drauf ankommen lasse.
Partnerbestimmt ist nicht gleichbedeutend mit rücksichtsvoll. Und selbstbestimmt heißt nicht egoistisch oder rücksichtslos. Für mich sprechen heißt nicht, den andern zu attackieren Der Partner kommt aber jeweils anders ins Spiel. Bei der partnerbestimmten Sexualität frage ich zuerst, was der Partner will und richte mich danach. Bei der selbstbestimmten frage ich erst, was ich selbst will.
Es bleibt nicht folgenlos, wenn wir uns mit dem eigenen Begehren beschäftigen. Vielleicht stellen wir einen Unterschied fest zwischen dem, was ist und dem, was sein soll. Wie viel dessen, was wir begehren, können wir in der Beziehung wieder finden? Was machen wir mit den möglichen Abweichungen? Liegt uns daran, den Ist-Soll-Unterschied zu verkleinern?
Nicht selten begegnet mir als Therapeut das Argument: »Ja, ich will ja dieses oder jenes – aber ich sage es schon gar nicht mehr. Ich weiß ohnehin schon, dass mein Partner es nicht ausleben will.« Das ist partnerbestimmte Sexualität: Der Partner ist der Behinderer meiner Wünsche. Ich würde schon, wenn ich nur dürfte.
Sam: Lass die faulen Ausreden! Dem Partner zuliebe! Sag dir selbst zuliebe, was du nicht willst! |
So ist die unbefriedigende Sexualität in langjährigen Beziehungen eine Ansammlung von Vorwürfen und faulen Ausreden. Der Partner behindert mich. Er ist schuld. Daher soll auch die Veränderung beim anderen anfangen. Wenn das beide denken, bremsen sie sich gegenseitig. »Du zuerst!« heißt die Regel des Misslingens. Jeder wartet auf die Veränderung des anderen. So ist die Blockade perfekt. Die Blockade der hin und her geschobenen Verantwortung.
Fallbeispiel
Erika und Rolf blockierten sich zu Beginn der Therapie perfekt: Rolf erklärte Erika zur gestörten und beeinträchtigten Patientin, an der es lag, sich zu verändern. Er schlug mir deshalb sogar vor, zunächst mit ihr allein zu arbeiten, um eventuell gegen Ende der Therapie dazuzukommen. Seine Haltung: »Du bist krank, also ändere dich.«
Erika akzeptierte ihrerseits zunächst die Patientenrolle, ordnete sich damit aber seiner Vorstellung von richtiger Sexualität unter und spielte ihm damit indirekt den Ball der Verantwortung zu. Ihre Haltung: »Wenn du schon der Überlegene bist, dann tu etwas.«
Damit erwarteten beide die Veränderung vom anderen. Und jeder hatte aus seiner Sicht durchaus Recht. Perfekte Symmetrie – perfekte Blockade. Bei Erika und Rolf zeigt sich eine wichtige Gesetzmäßigkeit verfahrener Partnerkonflikte: Stagnation entsteht, wenn jeder die Verantwortung dem Partner zuspielt. So reden beide von Veränderung und jeder hofft, dass der andere damit anfängt. Du zuerst – ich warte!
Wie löst man die Blockade
Welche Auswege gibt es aus der Blockade? Im Prinzip zwei: einen partnerbestimmten und einen selbstbestimmten Ausweg.
Der partnerbestimmte Ausweg
Er setzt auf die Veränderung des anderen. Und damit der Partner auch genügend Druck bekommt, sich zu verändern, hilft man mit Vorwürfen nach: Schließlich liegt alles an ihm. Er hat ja angefangen. Also sage ich ihm so lange dasselbe, bis er endlich nachgibt und einsichtig wird. Oder ich dränge ihn in eine Therapie und warte, bis er verändert herauskommt.
Erfolgschancen? Sie sind gering. Und das liegt daran, dass man Partner nicht ändern kann. Das ist ebenso unerfreulich wie wahr. Partner ändern sich vielleicht, aber nicht, weil wir es wollen. Höchstens, obwohl wir es wollen.
Der selbstbestimmte Ausweg
Und damit sind wir schon beim anderen Ausweg, der selbstbestimmten Veränderung. Sie fängt mit einer nahe liegenden Überlegung an. »Warte nicht auf deinen Partner! Wenn du etwas verändern willst, fange selbst damit an.«
Während die Regel der Stagnation lautet: »Beide warten, dass der andere sich verändert«, ist die Regel der Veränderung: »Einer fängt an. Einer! Nicht beide gleichzeitig.«
Und was heißt das für Sie? Wenn Sie wirklich an Veränderung interessiert sind, fangen Sie selbst an. Und lassen Sie Ihren Partner ruhig warten, so lange er will. Er wird es bemerken, wenn Sie anders mit ihm umgehen, wenn Sie sich anders verhalten, wenn Sie anders mit ihm reden und wenn Sie die sexuelle Routine verlassen. Und dass er nicht gleich heftig applaudiert, wenn Sie umsteuern, sondern dass er erst einmal irritiert ist – das ist verständlich und auch sein gutes Recht.
Daher: Kümmern Sie sich nicht gleich um Ihren Partner – er ist ein erwachsener Mensch (oder?) –, kümmern Sie sich erstmal um sich selbst!
Erika kam nach einigen Therapiesitzungen auf eine Idee zu sprechen, die sie nur zögernd auszusprechen wagte. Als Liebhaberin und Kennerin klassischer Musik meinte sie, dieser Musik könne sie sich hingeben. Als wir über Hingabe bei Musik und beim Sex sprachen, kam sie auf den Gedanken, sie könne vielleicht Sex besser genießen, wenn sie dabei klassische Musik hören würde. Mit Blick auf Rolf wollte sie den Vorschlag fast wieder zurücknehmen: »Ob er das nicht gefühlsduselig findet?« Ich fragte sie, ob sie denn selbst den Vorschlag gefühlsduselig fände, was sie sofort zurückwies: »Gefühlvoll, aber nicht gefühlsduselig«. Ich ermunterte sie, sich ihrem Vorschlag zuzuwenden und ihn erst zu Ende zu denken, ehe sie sich um die Meinung ihres Mannes kümmere. Rolf schlug ich vor, zunächst zuzuhören und keinen Kommentar abzugeben. Erika beschrieb dann ihre Vorstellung, die darauf hinauslief, ein Stück eines bestimmten Komponisten im Schlafzimmer zu hören. Nachdem sie sich überwunden hatte, machte es ihr auch wenig aus, dass Rolf sich etwas herablassend amüsiert äußerte. Seine Zustimmung war nicht mehr entscheidend. Es war ihr Vorschlag!
Der selbstbestimmte Schritt, den Erika hier gegangen ist, hat mit sexuellem Können nichts, mit sexuellem Wollen aber sehr viel zu tun. So schwer ihr auch die Aussage »Ich will nicht, was du willst« fiel, so sehr übernahm sie Verantwortung für die eigene Sexualität und das eigene Begehren. Selbstbestimmt heißt auch bei Erika nicht: rücksichtslos Rolf gegenüber. Sondern respektvoll sich selbst gegenüber.
Mit ihrem Bekenntnis zur Musik als Element ihrer Erotik zeigte Erika ihrem Mann sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten. Sie verließ den Raum, in dem das Können dominiert und betrat den Raum, in dem sie ihr Begehren, ihr Wollen und auch ihr Nicht-Wollen ausdrückte. Damit eröffnen sich für beide Partner neue Verhandlungsund Gestaltungsspielräume. Nur wer etwas will, kann überhaupt etwas verhandeln. Wer nicht kann, hat auch keinen Verhandlungsspielraum. Wenn wir uns auf das Wollen konzentrieren, tun sich weitaus mehr Möglichkeiten auf, als wenn wir uns vom Nicht-Können bannen lassen.
Sam:
1. Unterscheide Können und Wollen!
2. Begründe nicht das eine mit dem anderen!
3. Verlasse die Position des Opfers: »Ich kann nicht«, und werde zum Täter: »Ich will nicht«!
4. Egal, was immer du kannst oder nicht: Wichtig ist, was du willst!
Schlechter Sex trotz Liebe: das Ergebnis partnerbestimmter Sexualität
Fallbeispiel
Kara und Thomas sind irritiert. Seit drei Jahren ein Paar, leben sie seit zwei Jahren in einer gemeinsamen Wohnung. Sie beobachten seit mehreren Monaten einen Trend, gegen den sie sich scheinbar nicht wehren können: Das Begehren aufeinander lässt nach, unmerklich zunächst schleicht sich der Alltag dergestalt in die Beziehung ein, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, zum Abschluss des Tages miteinander zu schlafen und dann erschöpft und glücklich in die Kissen zu sinken.
Manchmal überfällt das Paar eine Müdigkeit, die zu Beginn der Beziehung undenkbar war. Wie jedes andere Paar brauchten sie in der heißesten Phase ihrer Verliebtheit fast keinen Schlaf mehr. Dann kam ein Phase, in der sie manchmal so vom Tagesgeschäft eingenommen waren, dass der Gedanke an erotische Spiele sie eher unter Stress setzte als wohlige, sehnsuchtsvolle Gefühle auszulösen.
Dabei versicherten sie sich beinahe täglich ihrer Liebe. Sie bedenken sich mit kleinen Aufmerksamkeiten, schreiben sich Mails oder schicken sich Textnachrichten, denken aneinander. Die gemeinsame Wohnung verstärkt allerdings den beschriebenen Trend: mehr Verbundenheit und Nähe, aber weniger Erotik und sexuelles Spiel. Zunächst hatte es den Anschein, als beflügelte die neue Umgebung das stagnierende Sexualleben. Aber nach ein paar Wochen saßen sie beieinander und fühlten sich wie ein altes Ehepaar – und das nach drei Jahren.
Beide schmerzte der Eindruck sehr, den sie von sich hatten: Was machen wir falsch, fragten sie sich. Was können wir anders machen? Wieso liegt unser Begehren brach, obwohl wir uns lieben?
Kara und Thomas sind nicht das einzige Paar, das sich mit dem nachlassenden erotischen Interesse plagt. Im Gegenteil. Sie sind eher die Regel als die Ausnahme.
Sexuelle Beziehungen werden mit ihrer Dauer meist nicht intensiver. Die gemeinsame Geschichte vieler sexueller Begegnungen, die Paare miteinander erlebt haben, wird oft nicht als Reichtum, sondern als Gewohnheit empfunden, im besseren Fall als sexuelle Zufriedenheit, im schlechteren Fall als sexuelle Langeweile.
Wachsende Liebe – nachlassendes Begehren
Die meisten Paare kennen eine sexuelle Verlaufskurve, die sich von einem Höchststand zu Beginn der Beziehung stetig bergab entwickelt. In dem Maß, wie die Liebe zwischen ihnen wächst, lässt das sexuelle Begehren nach. Wie kommt das? In welche Falle geraten Sie, obwohl keiner von ihnen das möchte? Sie sehnen sich doch danach, der Sex möge so wild und heftig und aufregend und unbekümmert sein wie damals, als sie einander unbekannt waren, sich entdeckten – und allein die Begegnung sie in Erregung versetzte.
Zunächst einmal lassen sich zwei voneinander unabhängige Prozesse beschreiben: Auf der einen Seite wächst die Bindung des Paares aneinander. Die Liebe wird reicher. Auf der anderen Seite lässt das körperliche Begehren nach. Das Paar hat weniger Sex miteinander. Wir nehmen beide Prozesse zeitgleich wahr. Aber sie müssen sich deswegen keineswegs bedingen. Wie wir mit der Wahrnehmung beider Prozesse umgehen, hängt davon ab, wie wir uns das Verhältnis von Liebe und Sexualität vorstellen.
Wie sehen Sie es, wie Liebe und Sexualität zusammenhängen?
a. Sexualität ist eigentlich Ausdruck von Liebe.
b. Liebe ist eigentlich veredelte Sexualität.
c. Sexualität ist eine von vielen Komponenten der Liebe.
d. Liebe und Sexualität haben nicht so viel miteinander zu tun.
Natürlich gibt es hier keine richtige oder falsche Antwort. Je nachdem, welcher Annahme wir zuneigen, verweben wir die Prozesse von Bindung und Sexualität auf unterschiedliche Weise. Denken wir »Sexualität ist eigentlich Liebe«, vergewissern wir uns mit dem Sex unserer Liebe und aktualisieren sie. Nimmt nun die Leidenschaft ab, haben wir durch die Koppelung den Eindruck, auch die Liebe werde schwächer. Und plötzlich wird aus einer Krise des Begehrens eine Krise der Liebe.
Erotik wird von selbst schlechter. Man braucht nichts dafür zu tun. Nur warten. Niemand hat etwas falsch gemacht. »Gravity wins«, sagen die Engländer. Schwerkraft gewinnt immer. Die Dinge gehen nach unten. Und so ähnlich senkt sich der hoch fliegende erotische Wahnsinn der ersten Wochen und Monate langsam zu Boden, wo er in den langsamen berechenbaren Schritten als Alltagssexualität seinen Schwung verliert. Ach!
Das muss aber kein Problem sein. Erst recht nicht, wenn andere Qualitäten hinzukommen und das Nachlassen der sexuellen Aktivität ausgleichen. »Das Prickeln nimmt ab, dafür wächst die Vertrautheit« – so sehen das Partner, die mit dem erotischen Verlauf ihrer Beziehung im Reinen sind und die sich in einem Zustand sexueller Zufriedenheit befinden, an dem niemand etwas auszusetzen hat.
Aber nicht wenigen Paaren fehlt etwas Entscheidendes. So haben sie es sich nicht vorgestellt. Das soll es gewesen sein? Und dann beginnt das Grübeln: Sind wir doch nicht die richtigen füreinander? War das, was wie Liebe aussah, doch ein Irrtum? Habe ich, hat mein Partner etwas falsch gemacht? Wie kann es so weit kommen, obwohl wir uns kaum streiten, obwohl wir die gleichen Werte und Lebenspläne haben, obwohl wir keine größeren Sorgen oder Meinungsverschiedenheiten haben, obwohl – ja, obwohl wir uns lieben?
Hier ist die Antwort: Die meisten liebenden Paare machen überhaupt nichts falsch! Das sexuelle Interesse lässt nach, obwohl sie alles richtig machen. Sie sind rücksichtsvoll, interessieren sich füreinander, gehen aufeinander ein. Daran ist nichts verkehrt.
Die partnerbestimmte Sexualität überwiegt
Wie das? Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen gedanklichen Umweg machen. Dafür greifen wir auf unser Begriffspaar zurück: partnerbestimmte und selbstbestimmte Sexualität. Das nachlassende sexuelle Interesse kommt dadurch zustande, dass die partnerbestimmte Sexualität freundlich und unbemerkt das Monopol übernimmt. Die selbstbestimmte Sexualität geht verloren – ohne dass es jemand bemerkt. Zunächst jedenfalls. Und bei verliebten Paaren hat es die partnerbestimmte Sexualität so leicht: Du bist das Zentrum meines Lebens und meiner Sinnlichkeit. Ich stelle mich ganz auf dich ein. Ich mache es dir, wie du es willst. Dein Vergnügen ist mir wichtiger als meines. »Wir« ist wichtiger als »Ich«. Am Anfang ist partnerbestimmt gleich selbstbestimmt. Ich verwirkliche mich gerade dadurch, dass ich in dir aufgehe. Es ist alles eins. Und weil es so schön ist, gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern. Solange es so bleibt. Es bleibt aber nicht so.
Sam: Gib nicht aus lauter Liebe deine Sexualität preis. Das tut dir nicht gut. Und deinem Partner auch nicht. |
Ein Unterschied von Anfang an …
Nähern sich zwei Partner erotisch an, beginnt ein Frage-und-Antwort-Spiel, ein gut choreografierter Balztanz. Starke erotische Anziehung geht wie von selbst davon aus, dass die sexuellen Interessen und Neigungen beider Partner vereinbar sind. Wir kennen uns nicht, aber wir hoffen auf sexuellen Gleichklang.
Gerade zu Beginn einer erotischen Beziehung ist jede Begegnung zweierlei: Sie ist zugleich ein abenteuerlicher Erkundungstrip, eine Reise zum möglichen Partner. Und sie ist schon beim zweiten Mal bereits eine Wiederholungstat, weil das erste Mal bestätigt hat, dass es sinnvoll ist, weiterzumachen. Am Anfang ist also jede Annäherung ein Balanceakt zwischen Unsicherheit und Sicherheit. Diese Ungewissheit lädt sich dann erotisch stark auf mit der Hoffnung auf ein Happy End. Und das Happy End der Verliebtheit ist der Anfang vom Ernst.
Wechselseitige Bestätigung
Uns hilft dabei, dass wir den anderen im anfänglichen Überschwang tatsächlich als einzigartig sehen. Der andere erscheint uns als noch nie dagewesen, unter keinen Umständen austauschbar. Diese Beobachtung strahlt auf die eigene Person zurück. Im Licht dieses besonderen Partners erleben wir die eigene Einzigartigkeit und sehen sie dadurch bestärkt. Bestätigt sich ein Paar auf diese Weise gegenseitig, ist die sexuelle (Ver)-Einigung sehr viel wahrscheinlicher geworden. »Funkt es« zwischen den beiden, sind sie sehr interessiert daran, so weiterzumachen. Dabei zeigen die beiden Partner sich gegenseitig auf verschiedensten Wegen, wie sehr sie sich bewundern, wie sehr sie den anderen für einzigartig und unersetzbar halten:
Sie erkennen den anderen durch Worte an. Sie heben Einzelheiten hervor, die als besonders angenehm erlebt werden. Sie gestehen sich ein, mehr davon zu wollen. Sie suchen die Wiederholung. Und sie beginnen von Anfang, sich auf die bereits gemeinsam verbrachte Zeit zu besinnen, um sich der eigenen guten Geschichte zu versichern.
Das Trennende wird geleugnet
Wechselseitige Bestätigung macht also verliebt. Und Verliebtheit führt zu einer wechselseitigen Bestätigung. Die Lust, sich zu brauchen. Der eigenartige Rausch der Begeisterung, nicht mehr selbstständig und Herr seiner Sinne zu sein, die Gewissheit, ohne den anderen nicht mehr leben zu können, das ist der Anfang der Liebesbeziehung.
Und weil die Bestätigung so unsäglich gut tut und selig macht, wird das Trennende geleugnet. Unterschiede werden klein gemacht, verleugnet oder idealisiert zum Beweis, wie gut man sich im Unterschied ergänzt.
Während der Anfangsphase verwischen die Unterschiede zwischen den Partnern. Auch die erotische Besonderheit des Partners interpretiert das Paar im Sinn der Verliebtheit: »Wo du tatsächlich anders bist als ich, ergänzt du mich. Unser Unterschied beweist, wie gut wir zueinander passen.«
Fallbeispiel, Teil 1, »Karin und Michael«
Die Geschichte von Karin und Michael veranschaulicht, wie passend gerade die Unterschiede am Anfang einer Beziehung sein können. Ich lernte sie kennen, als sie wegen ihres sexuellen Problems zu mir in Therapie kamen.
Beide sind 43 Jahre alt und seit 14 Jahren ein Paar. Seit 12 Jahren sind sie verheiratet. Ihre beiden Kinder sind sechs und sieben Jahre alt. Michael ist als Betriebswirt im Personalbereich eines Unternehmens angestellt. Karin arbeitete einige Jahre als Architektin. Mit der Geburt des ersten Kindes hat sie ihre Berufstätigkeit erheblich eingeschränkt und ist jetzt nur noch stundenweise in einem Architekturbüro aktiv, »um in der Übung zu bleiben«. Beide Partner sind sich einig über ihr familiäres Arrangement.
Sie lernten sich nach dem Studium zu Anfang ihres Berufslebens kennen. Karin hatte zuvor verschiedene Partnerschaften als unbefriedigend erlebt. Sie sagt: »Die Männer sind nicht auf meine Wünsche eingegangen. Ich habe mich oft bedrängt gefühlt.« In einer längeren Partnerschaft hatte es gelegentlich sogar gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben. Michael hatte die Frauen eher gemieden. Vor Karin kam es eher punktuell und nur wenige Male zu sexuellen Affären. Er sagt: »Die Kontakte zu den Frauen habe ich aber meist von mir aus abgebrochen. Mit Machoverhalten kann ich nichts anfangen. Frauen wollen das offenbar. Außerdem bin ich immer zu früh gekommen – und habe mich dafür geschämt.«
Als die beiden sich trafen, verliebte sich Karin zuerst in ihn. Sie mochte seine einfühlsame und unaufdringliche Art sehr. Der frühzeitige Samenerguss störte sie nicht. Nach einigen Monaten in der Beziehung zu Karin kam er nicht mehr zu früh.
Für Karin ist Michael ein erleichternder Kontrast zu den früheren Erfahrungen. Als Mann ist er attraktiv für sie, denn er nimmt auf ihre sexuelle Empfindlichkeit Rücksicht. Das erlebt sie als Wertschätzung. Michael fühlt sich im Gegenzug als Mann wertgeschätzt, weil sie seine Zurückhaltung als anziehend erlebt. Daraus resultiert ein schonendes Beziehungsangebot:
Sie sagt: »Ich will dich, weil du dich zurückhältst.«
Er sagt: »Ich will dich, weil ich bei dir nicht so ein Machotyp sein muss.«
Irgendwann geht die Verliebtheit dann in eine so genannte feste Beziehung über. Allein der Begriff »feste Beziehung« ist mehrdeutig: »Fest« ist auch stabil und unveränderlich, starr und unflexibel. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Erleben in der Beziehung. Ist die Beziehung nämlich so fest, erleben die Partner das Besondere nun als störend – ohne die rosarote Brille der anfänglichen Verliebtheit.
Dann haben auch Unterschiede wieder ihren Platz. Die Verschiedenheit bringt plötzlich einen mehr oder wenig großen Abstand in die Beziehung. Nur noch die Übereinstimmung sorgt für Nähe. Die Selbstverständlichkeit, mit wir am Anfang alles am anderen mögen, verliert sich.
Und der Blick für den Unterschied ändert sich. Das Andere, Fremde, Ungewöhnliche am geliebten Partner, das mich anfangs so fasziniert hat, kann seine Schattenseite zeigen. Paartherapeuten kennen dieses Phänomen von Paaren, die sie wegen einer Krise aufsuchen: Genau die Eigenschaft, die ich am anderen so toll fand, stellt sich mit dem Jahren als das Hauptproblem heraus.
Das selbstbewusste Auftreten, das die zurückhaltende Lea an Robert so anziehend fand, erlebt sie nach zwölf Jahren immer mehr als arrogant und rücksichtslos.
Die feine Reaktion von Petra, ihre sehr sensible Art, auf seine Bemerkungen einzugehen zog Albert vor acht Jahren, als er sie kennen lernte, sehr in ihren Bann. Heute findet er Petra überempfindlich und ständig beleidigt.
Das gleiche Verhalten hat sich in sein Gegenteil verkehrt: selbstbewusst wird arrogant. Sensibel wird überempfindlich. Und im Sexuellen ist es nicht anders.
Rita war stolz, dass der umschwärmte Brian sich damals für sie entschieden hatte. Heute leidet sie darunter, dass er sich auf Affären mit andern Frauen einlässt.
Arndt war äußerst fasziniert von Lisas dezenter und zurückhaltender Erotik, die ihm erlaubte, sie nach allen Regeln der Kunst zu verführen und um sie zu werben. Heute ist es ihm lästig, dass von ihr aus nie eine sexuelle Initiative kommt.
Und aus heutiger Sicht sagen die Partner: Ich hätte es merken können. Es war doch damals schon abzusehen. Aber in der Verliebtheit wollte ich es nicht wahrhaben. Rita sagt: »Ich habe es doch gesehen, dass er ein Frauentyp ist. Wie konnte ich bloß denken, dass er ausgerechnet mir treu ist.« Und Arndt klagt resigniert: »Nie hat sie wirklich von sich aus Interesse gezeigt.«
Das ist der Anfang der Unterschiede. Das ist der Grund, warum so viele Paare sich in die Zeit zurücksehnen, in der der Unterschied noch schön war. Als ob man Probleme der Gegenwart in der Vergangenheit lösen könnte!
Wie hat es angefangen?
Paare streiten sich häufig über Eigenschaften des Partners, die sie am Anfang anziehend fanden. In einer solchen Situation ist es äußerst hilfreich, sich an den Beginn einer Beziehung zu erinnern. Bin ich mir überhaupt im Klaren, dass ich mich über eine Seite meines Partners aufrege, die ich am Anfang ziemlich gut fand bzw. die mir gut getan hat?
Diese Erinnerungen wachzurufen, kann einerseits dafür sorgen, uns mit manchen Eigenheiten des Partners zu versöhnen. Andererseits konfrontiert sie uns mit der Frage: Was ist bei mir anders, wenn ich meinen Partner heute so anders sehe?
Kennen Sie das aus Ihrer eigenen Beziehung? Prüfen Sie mit der folgenden Übung, wie sich der erotische Unterschied damals und heute anfühlt!
Übung 1: Vom Zauber zur Prosa
Diese Übung dient dazu, aus heutiger Sicht zu vergleichen, wie sich Ihre Sicht auf Ihren Partner im Lauf der vergangenen Jahre verändert hat.
Nehmen Sie ein DIN-A4-Blatt und beantworten Sie die folgenden fünf Fragen:
1. Wie habe ich die Erotik meines Partners damals gesehen?
2. Was habe ich aus heutiger Sicht richtig gesehen?
3. Was konnte ich damals wirklich nicht sehen, das ich heute sehe?
4. Was hätte ich sehen können, aber habe es einfach nicht sehen wollen?
5. Was habe ich aus heutiger Sicht völlig falsch eingeschätzt?
Auswertung: Kommen Sie zu einer Gesamtbeurteilung: Würden Sie sich heute noch einmal für Ihren Partner entscheiden?
Beziehungen entwickeln sich. Die Liebe entwickelt sich. Guten Sex mit jemand zu haben, den man kaum kennt und den man unendlich idealisieren kann, das ist keine große Kunst. Das Unbekannte fasziniert, solange es neu ist. Eine Kunst ist es, guten Sex mit jemanden zu haben, den man gut kennt und mit dem man vertraut ist.
Von dieser Paradoxie handelt das nächste Kapitel.