Hilthead, Großbritannien

Der dunkelgraue Mercedes rollte vor der Polizeistation aus. Idwood Green und Stan Lundquist stiegen aus und betraten das Büro von Wachtmeister Thompson. Der Bobby saß an seinem Schreibtisch und blickte ihnen neugierig entgegen.

»Guten Tag!« wünschte Green freundlich. »Mein Name ist Green, dies ist mein Kollege Dr. Lundquist.«

Thompson erhob sich. »Ah, Sie sind die Herren aus London, nicht wahr? Nett, Sie kennenzulernen!«

»Gleichfalls! Hören Sie, wir würden gerne der Dame, bei der der Gesuchte übernachtet hat, einige Fragen stellen. Könnten Sie uns zu ihr begleiten?«

Der Polizist nickte. »Sicher, kein Problem.« Er ergriff seine charakteristische Kopfbedeckung und folgte den beiden Besuchern zum Auto.

»Nett, nett«, nickte er anerkennend, als er den Sechszylinder beäugt hatte.

Keine drei Minuten später klopften sie an Janet Pearses Haustür. Es dauerte einige Zeit, bis die alte Dame aufmachte.

Sie musterte die Besucher mit mißtrauischem Gesicht, bis sie Thompson erkannte. »Oh, Herr Wachtmeister, Sie sind es! Was kann ich für Sie tun?«

Thompson nickte freundlich. »Hallo, Miss Pearse. Diese beiden Herren arbeiten für die Regierung in London. Sie würden Ihnen gerne ein paar Fragen zu Ihrem Übernachtungsgast stellen.«

»Bitte!« erwiderte die alte Dame, ohne die Männer hereinzubitten.

»Miss Pearse«, sagte Idwood Green, »ich möchte von Ihnen wissen, ob dieser Mr. Roessner mit Ihnen gesprochen hat, ich meine, außer den üblichen Floskeln bei der Anmietung des Zimmers. Hat er etwas darüber erwähnt, wohin er von hier aus Weiterreisen wollte?«

»Nein, mein Herr. Nichts dergleichen. Dieser Mr. Roessner hat im voraus bezahlt, ist früh zu Bett gegangen, hat früh gefrühstückt und ist grußlos davongefahren. Ich habe keine zehn Worte mit ihm gewechselt. Ich hatte ohnehin den Eindruck, daß er nicht besonders gut Englisch sprach.«

Green hakte noch einmal nach. »Sie sagten soeben, er sei früh davongefahren. Womit, wenn ich fragen darf?«

Miss Pearse sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. »Mit einem Auto natürlich.«

Green ließ sich nicht beirren. »Mit was für einem Auto denn, Miss Pearse?«

»Ach herrje«, machte die alte Dame, »da kenne ich mich weiß Gott nicht aus. Ich glaube, es war blau. Ach ja, und er hatte das Verdeck heruntergeklappt, weil so schönes Wetter war.«

»Ein Cabrio also?«

»Wenn Sie damit Cabriolet meinen, dann ja«, erwiderte Miss Pearse würdevoll.

Green hatte noch eine Frage auf dem Herzen. »Hat der Gast zufällig etwas liegenlassen bei Ihnen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nichts gefunden.«

»Danke, Miss Pearse.«

Green wandte sich um. Hier war jede weitere Frage Zeit-Verschwendung. Lundquist und Thompson verabschiedeten sich ebenfalls und kamen hinter Green her. Der Polizist sah den Engländer fragend an. »Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?«

»Nein«, erwiderte Green, »vielen Dank. Sollen wir Sie zum Büro zurückfahren?«

»Nein, danke«, wehrte der Polizist ab. »Ich gehe das Stück zu Fuß. Was machen Sie jetzt?«

Green öffnete die Fahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. »Wir sehen uns ein wenig in der Gegend um. Machen Sie's gut!«

Auch Lundquist saß inzwischen im Wagen. Green hob die Hand kurz zum Gruß und gab Gas.

»Also, wohin sollen wir nun fahren?« wollte Lundquist wissen.

Green starrte durch die Windschutzscheibe nach vorn. »Ich weiß nicht. Ich denke mir, wenn er in diese Gegend gekommen ist, wird er auch hier bleiben, bis die nächsten Schritte der Geldübergabe erfolgen. Warum sollte er groß herumreisen? Also klappern wir ein paar Nachbarorte ab und halten Ausschau nach einem blauen Cabrio und nach Emilio Roessner.«

»Na gut. Mir fällt im Moment auch nichts Besseres ein.«

Mit mäßiger Geschwindigkeit absolvierte Green die erste Runde ihrer Erkundungsreise. Eddlefield, Littleton, Rushmoor. Kurz vor Mittag erreichten sie Elstead, eine etwas größere Ortschaft.

»Wie sieht's aus mit Mittagessen?« fragte Green.

»Meinetwegen. Allerdings habe ich nicht allzuviel Hunger.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Green. »Ich dachte an eine Kleinigkeit. Fish and Chips oder Gyros oder so.«

»Okay, einverstanden!«

Nach einigen Minuten stoppte Green den Mercedes vor einem chinesischen Take-out-Imbiß.

»Was willst du, Stan?«

Der Lange hob die Schultern. »Keine Ahnung, was es hier gibt. Ich bin nicht wählerisch. Bring mir irgendwas mit, okay?«

»Wie wär's mit Spanferkelchen süß-sauer auf Reis?«

»Hört sich gut an!« lobte Lundquist.

Green stieg aus und verschwand im Imbiß. Während er auf seine Bestellung wartete, hupte es im Wagen draußen ziemlich penetrant.

Green sah zum Fenster hinaus und sah Lundquist wild gestikulieren. Der Engländer lief trotz der Proteste des chinesischen Kochs nach draußen.

»Was ist? Warum hupst du? Willst du lieber was anderes essen?«

»Spinner! Los, steig ein. Roessner ist gerade hier vorbeigefahren.«

Green starrte den Freund mit offenem Mund an. »Was?«

»Los, Mensch, gib Gas!«

Der Engländer hechtete förmlich hinter das Lenkrad und fuhr mit quietschenden Reifen an. »In welche Richtung?«

Lundquist deutete nach links. »Da hinunter!«

Green nickte. »Dann fährt er Richtung Rushmoor. Hat er dich bemerkt?«

»Kaum. Auf jeden Fall hat er nicht hergesehen. Und dein Auto kennt er ja ohnehin nicht.«

»Ich fasse es nicht. Da fährt der Mensch hier im offenen Cabrio spazieren, während in halb England nach ihm gefahndet wird.«

»Was du sagst, stimmt nicht ganz«, korrigierte der Australier. »Das Verdeck war zu. Es war reiner Zufall, daß ich ihn erkannt habe. Ich hatte im Moment, ehrlich gesagt, gar nicht nach einem blauen Cabrio Ausschau gehalten, sondern an Spanferkel gedacht.«

»Und du bist sicher, daß es wirklich Roessner war?«

»Natürlich! Denkst du, ich hätte dich sonst vom Essen weggeholt?«

Idwood nickte und erhöhte das Tempo. Nach wenigen Minuten sahen sie den blauen Wagen weit vor ihnen auftauchen.

Green drosselte sofort das Tempo und hielt den Sicherheitsabstand bis Rushmoor bei. Vor der Post parkte das blaue Auto. Green fuhr vorbei und hielt zwei Blocks weiter an.

»Was hast du vor?« fragte Lundquist erstaunt, denn der Freund machte Anstalten, das Auto zu verlassen.

»Bleib hier sitzen, Stan. Ich will herausfinden, was er dort treibt. Wahrscheinlich ist er in der Post.«

»Aber wenn …«

Lundquists Einwand verhallte ungehört, denn Green war bereits unterwegs.

In leichtem Trab lief er zur Rückseite des Häuserblocks und spurtete dann parallel zur Hauptstraße zwei Blocks zurück. Dort bog er nach rechts ein und lief bis zu der Häuserecke, hinter der das Postamt lag. Gerade als er einen vorsichtigen ersten Blick um die Ecke herum riskierte, sah er, wie Roessner das Post Office verließ und zu seinem Auto zurückging.

Jetzt oder nie, dachte Green und sprintete los. Er brauchte keine sechs Sekunden, um den Eingang zur Post zu erreichen.

Zielstrebig ging er auf den einzigen Schalter zu und legte dem verdutzten Beamten seinen Dienstausweis auf die Theke.

»Scotland Yard«, raunzte er den Ärmsten an. »Der Mann, der hier eben drin war, was wollte der?«

Das autoritäre Auftreten wirkte. »Er … er hat einen Brief frankiert und aufgegeben.«

»Geben Sie mir den Brief«, forderte Green. »Er ist hiermit beschlagnahmt.«

Der Beamte holte den bewußten Brief aus dem Postsack und schob ihn Green zu.

Der Engländer brummte ein unfreundliches »Danke« und schlüpfte aus der Post.

Nachdem er sich sichernd umgesehen hatte, rannte er zurück zum Wagen. Schwer atmend ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und riß den Umschlag auf. Dann überflog er die maschinengeschriebenen Seiten. »Ach, du große Scheiße!«

»Was denn?« fragte Lundquist.

Statt einer Antwort reichte ihm Green den Brief, ließ den Sechszylinder an und gab Gas.

Da entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung eine Fahndung nach mir eingeleitet wurde, bleibt mir leider keine andere Wahl, als meinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ich werde deshalb an einem besonders delikaten Ort einige Rinder mit dem bewußten Präparat impfen.

Ich lasse Sie zu gegebener Zeit wissen, welcher besonders delikate Ort gemeint ist.

John

»Er weiß es!« staunte Lundquist. »Er hat gemerkt, daß eine Fahndung läuft! Wie denn bloß, zum Kuckuck?«

»Keine Ahnung«, meinte Green, »aber das ist jetzt auch zweitrangig. Wir müssen ihn stoppen. Wenn du mich fragst, fährt er nämlich gerade zu einer Weide, um die Kuh zu pieken.«

Lundquist schürzte nachdenklich die Lippen. »Wir müssen das unter allen Umständen verhindern, Idwood. Hier leben eine Menge Menschen mehr als in Uruguay auf den Ländereien. Es könnte ziemlich viele Tote geben, wenn er den Virus freisetzt.«

»Das weiß ich auch, verdammt, aber wir müssen ihn erst mal kriegen«, gab der Engländer zurück. »Nimm die Karte! Wir müssen ihn irgendwo vor Littleton überholen, ohne daß er es merkt!«

»Und dann?«

Green starrte durch die Windschutzscheibe, holte tief Luft und atmete dann langsam und vernehmlich aus.

Wortlos sah ihn Lundquist an. Das Ganze würde auf eine Art Exekution hinauslaufen. Scheiße, dachte er, wäre ich doch auf Korfu geblieben! Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Er konzentrierte sich auf die Straßenkarte. Plötzlich sagte er: »Wenn Roessner auf dieser Straße nach Littleton fährt, gibt es nur eine Möglichkeit für uns. Hier zweigt eine kleine Straße ab, die Roessners Weg per Brücke kreuzt. Sonst sehe ich hier nichts, was uns helfen könnte.«

»Wann kommt die Abzweigung?«

Stan zeigte nach vorn. »Da ist sie schon, paß auf!«

In halsbrecherischem Tempo lenkte Idwood den Mercedes in die Einmündung und karriolte dann die schmale Straße der untersten Kategorie derart entlang, daß Lundquist kaum hinschauen mochte. Während sie rallyereif durch eine langgezogene Kurve drifteten, fragte Green wie beiläufig: »Hast du deine Beretta dabei?«

Statt einer Antwort zog der Australier die Waffe hervor und kontrollierte das Magazin und die Stellung des Sicherungshebels. Er kam allerdings nicht mehr dazu zu fragen, was Green überhaupt vorhatte, denn der deutete mit dem Kinn nach vorne. »Ich glaube, da ist sie«, sagte er kurz und stieg in die Bremsen. Kurz vor der schmalen steinernen Brücke zog er den Mercedes nach links in die Büsche. Dann stürzte er aus dem Auto und zum Kofferraum. Er griff sich den Reservekanister und rannte los. »Los, komm schon, verdammt, der Kerl muß gleich da sein!«

»Hoffentlich ist er nicht schon durch!« rief Stan, während er hinter ihm hersprang. Langsam ahnte er, was Idwood vorhatte.

Der war unterdessen in der Mitte der Brücke angelangt, öffnete den Verschluß des Benzinkanisters und sah Lundquist an. »Paß auf, ich werde versuchen, ihm den Kanister durchs Verdeck zu werfen. Sobald er auf deiner Seite auftaucht, halte mit allem drauf, was du hast. Ich will, daß er nicht nur verunglückt, sondern daß die ganze Scheiße dabei verbrennt. Verstehst du?«

Die beiden duckten sich hinter das als Brüstung dienende Mäuerchen und warteten ungeduldig. Keine Minute später näherte sich Motorengeräusch. Green spähte vorsichtig über den Rand und zischte dann warnend. Mit zusammengebissenen Zähnen und angehaltenem Atem stieß er den Kanister von der Brücke hinunter, den geöffneten Verschluß voran.

Volltreffer!

Der benzingefüllte Metallbehälter schlug durch das Stoffdach des Cabrios und auf die Rücksitze. Bevor Roessner reagieren und auf die Bremse treten konnte, war der Wagen bereits unter der Brücke hindurch.

Oben hatte Stan Lundquist die Beretta auf die bemooste Mauerkrone aufgelegt, um besser zielen zu können, und schoß das Magazin auf den Kanister leer, als das Cabrio auf seiner Seite auftauchte. Zwei Sekunden später ertönte die erste Detonation. Sitze und Dach des Cabrios verwandelten sich in ein Flammenmeer. Kurz danach explodierte auch der Benzintank.

Green und Lundquist standen nebeneinander auf der Brücke und starrten schweigend in die lodernden Flammen.