London, Großbritannien

Als Yvonne Hartfield am Morgen ihr Büro betrat, war sie ziemlich verwundert. Der Chef war schon da! Das gab es relativ selten. Normalerweise fand sich Sir Ronald erst gegen neun ein; etwa eine Stunde nach seiner Sekretärin, oder besser gesagt, seiner Assistentin. Yvonne Hartfield war seine rechte Hand, und mitunter mußte er sich fragen, was er tun würde, wenn die junge Dame irgendwann kündigte. Sie besaß einfach einen Instinkt für Organisation.

Neugierig warf sie einen Blick durch die halb geöffnete Tür des Chefbüros. Abbott saß hinter dem imposanten Edelholzschreibtisch und studierte Akten.

»Guten Morgen, Sir!« grüßte Yvonne Hartfield mit deutlichem Erstaunen in der Stimme.

Abbott sah von den Papieren auf und nickte freundlich. »Guten Morgen. Wir haben heute einiges zu tun. Versuchen Sie, Mr. Thurso zu erreichen. Er soll sofort antraben. Wenn er da ist, kommen Sie bitte auch mit herein. Ich habe etwas Vertrauliches mit Ihnen beiden zu besprechen.«

Du liebe Zeit, dachte Yvonne. Der Chef war sonst eher unnahbar, distinguiert, englischer Gentleman. Wie kam er bloß auf einmal darauf, etwas Vertrauliches besprechen zu wollen? Und dann ausgerechnet mit Robert Thurso, dem er genau wie dessen Freund Chester Partridge sonst eher kritisch gegenüberstand! Na ja, man würde sehen.

Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis sie Thurso an der Leitung hatte. Der Junge machte noch einen mächtig verschlafenen Eindruck. Seitdem Chester in Dublin auf Jeanne Lumadue aufpaßte, mußte er sich sein Frühstück alleine machen, und das warf ihn am frühen Morgen zeitlich ziemlich zurück. »Yvonne? Jetzt? Was willst du von mir? Es ist ja noch mitten in der Nacht!« jammerte er.

»Ach, Robert, du Ärmster!« erwiderte sie lachend. »Hoffentlich bist du nicht mehr im Schlafanzug. Sir Ronald möchte dich sofort sehen.«

»Im Schlafanzug? Ich? Willst du mich ärgern? Agenten schlafen nie, das weißt du doch. Wieso will Abbott mich sprechen?«

»Frag ihn doch selbst! Er wartet schon länger auf dich.«

»Was heißt das: schon länger? Wann fangt ihr denn morgens an? Es ist noch nicht mal halb neun! Ich werde erst ab neun bezahlt!« Thurso schien ernstlich erbost zu sein.

»Vielleicht bittest du Abbott um Genehmigung einer Überstunde?«

»Eine gute Idee!« lobte Thurso. »Ich komme sofort rüber und werde ihm deinen Vorschlag unterbreiten.«

Tatsächlich stand er wenig später vor ihrem Schreibtisch und strahlte sie an. »Da bin ich, liebste Yvonne. Du siehst selbst in diesen frühen Morgenstunden ganz bezaubernd aus, wirklich. Weißt du, wenn ich Chester nicht hätte, dann …«

Sie lachte laut auf. »Zum Glück hat er das nicht gehört, du Süßholzraspler!« Sie stand auf. »Los, komm mit.«

Sir Ronald nickte Thurso zu und musterte dabei indigniert das Outfit seines Mitarbeiters. Abgewetzte Lederjacke, ausgebeulte Jeans, lange Haare, meine Güte! Aber ohne Zweifel, so räumte Abbott ein, einer der fähigsten Männer des ganzen Ladens. »Wo ist Ihr Partner, Mr. Thurso?«

Scheiße, dachte Thurso. Hat Idwood ihm gesagt, daß Chester in Dublin ist, oder hat er nicht? Was tun? »Ah, Sie meinen Mr. Partridge?«

Abbott schüttelte mißbilligend den Kopf. »Oh, oh, Mr. Thurso. Wenn Sie schon versuchen, mich zu leimen, dann bitte souverän, verstanden? Ich weiß, daß Mr. Partridge in Dublin weilt und dort Dr. Greens Freundin beschützt. Sie sollten mir vielleicht ein ähnliches Maß an Loyalität entgegenbringen, wie Sie es Dr. Green gegenüber tun.«

Thurso fühlte sich ertappt. Der Chef war einfach in Ordnung, das mußte ihm der Neid lassen.

»Nun zur Arbeit«, fuhr Abbott fort. »Dr. Green hat gestern abend mit mir telefoniert und mir eine ziemlich haarsträubende Geschichte erzählt. Sie hat nur den Fehler, daß sie zu stimmen scheint. Und nach dem, was Dr. Green weiß, bin ich nicht ganz sicher, wem wir innerhalb dieses Hauses noch unser Vertrauen schenken können. Bei Ihnen beiden bin ich mir ganz sicher. Deswegen möchte ich Sie bitten, völliges Stillschweigen zu bewahren über das, was ich Ihnen jetzt mitteile, und auch die Aufgaben, die ich Ihnen im Anschluß übertragen möchte, so unauffällig wie möglich zu erledigen. Haben wir uns verstanden?«

Die beiden nickten wortlos. Das hörte sich spannend an.

Sir Ronald setzte sie nun kurz und präzise über den Telefonanruf in Kenntnis, den er am Abend zuvor von Idwood Green aus Dublin erhalten hatte.

Robert Thurso schüttelte ungläubig den Kopf. »Wahnsinn!«

Yvonne Hartfield hatte praktischere Probleme. »Was können wir beide dabei tun? Deshalb haben Sie uns doch hierherbestellt, oder nicht, Sir?«

Abbott nickte. »Natürlich, so ist es. Dr. Green hat Hinweise, daß Christopher Collins' Leute an Dr. Lundquists Entführung beteiligt waren. Ich finde diese Beobachtung sehr, sehr bemerkenswert. Ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung von diesen Aktivitäten. Und das gibt mir stark zu denken.«

»Vielleicht sollten wir uns Collins mal vorknöpfen, Sir!« schlug Thurso vor.

Abbott nickte. »Genau das werden wir auch tun. Allerdings möchte ich, daß Collins davon vorerst nicht das geringste merkt. Um genauer zu sein, ich stelle mir vor, daß Sie zunächst das Telefon in seinem Büro anzapfen. Glauben Sie, daß das zu schaffen ist, ohne daß jemand Wind davon bekommt?«

»Sie können sich auf mich verlassen, Sir«, nickte Thurso. »Ich verspreche Ihnen, daß es niemandem auffallen wird.«

»Ich stelle mir das nicht so einfach vor, in einer Geheimdienstzentrale jemanden unbemerkt abzuhören«, warnte Abbott.

»Ich habe auch nicht behauptet, es sei einfach«, grinste Thurso, »ich sagte lediglich, daß es niemand bemerken wird.«

Abbott nickte ihm lächelnd zu. »Sie sind ein Unikum, Mr. Thurso, aber ein äußerst brauchbares.«

»Danke, Sir!«

Abbott wurde schlagartig wieder ernst. »Nun zu Ihnen, Ms. Hartfield. Die Aufgabe, die ich für Sie habe, klingt einfach, ist aber schwierig durchzuführen. Wir brauchen so schnell wie möglich alle Geschäftsverbindungen, Beteiligungen, Eigentumsverhältnisse, Hintergrundaktionäre und ähnliches mehr, alles, was die Firma Interclone angeht. Und zwar so, daß keiner hier im Haus auf die Idee kommt, sich zu fragen, warum Sie das alles wissen wollen. Trauen Sie sich das zu?«

Yvonne Hartfield nickte ohne Zögern. »Selbstverständlich, Sir. Es wäre allerdings unendlich viel einfacher, wenn Sie mir gestatten würden, eine alte Verbindung bei Lloyd's zu aktivieren. Über den Computer der Versicherung kann ich alle möglichen Quellen abfragen, ohne daß sich jemand wundert.«

Abbott überlegte einige Sekunden. Dann blickte er seine Assistentin scharf an. »Vertrauenswürdig?«

»Absolut vertrauenswürdig, Sir. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer.«

»Dann also …« antwortete ihr Chef mit einer zustimmenden Geste. »Und noch etwas, Ms. Hartfield, Mr. Thurso: Wir stehen unter Zeitdruck. Dr. Green, Dr. Lundquist und Dr. O'Brien werden heute nachmittag hier eintreffen. Ich wäre froh, wenn bis dahin zumindest die Ansätze Ihrer Mühen erkennbar wären. Also dann, machen Sie sich bitte an die Arbeit.«