Dingle, Irland

Stan Lundquist saß auf seiner vergammelten Pritsche und dachte nach. Schon wieder war ein Tag verstrichen, und die Dämmerung brach herein. Und er war immer noch hier drin, in diesem miesen Loch. Du mußt hier raus, befahl er sich. Wenn du einfach hier sitzen bleibst, werden sie dich über kurz oder lang umlegen.

Angestrengt grübelte er über eine Schwachstelle im System nach. Wie kam man an den Schlüssel zu dieser verdammten Tür heran? Es mußte einfach eine Möglichkeit geben. Moment, wie war das noch gleich? Wenn er rief, kam einer herunter. Immer derselbe. Und der steckte dann den Schlüssel ins Schloß, und dann …

Lundquist stutzte und besah sich den relativ großen Spalt unter der Tür. Ja, vielleicht ging es so! Etwas optimistischer gestimmt erhob er sich von der Pritsche und hob das Holzgestell an. Ziemlich morsch! Er trat heftig gegen die eine Schmalseite, bis sie zerbrach. Wenig später hielt er ein langes Seitenteil in den Händen. Verbissen machte er sich daran, das knapp zwei Meter lange und dreißig Zentimeter breite Holzstück der Länge nach zu zerteilen. Mit Hilfe der bereits abgebrochenen Restteile der Pritsche und den Füßen als Hammer hatte er die Aufgabe in weniger als vier Minuten gelöst. Er ergriff das lange Holzstück und ging zur Tür. Dort begann er zu klopfen und zu rufen, wie er es immer tat, wenn er auf die Toilette wollte. Eine Reaktion ließ zum Glück nicht lange auf sich warten. Draußen im Gang erscholl die Stimme seines Wärters. »Was denn, mußt du schon wieder pinkeln? Ganz schön empfindliche Blase, wie?«

Lundquist trat etwa einen Meter vor die holzbeschlagene Stahlgittertür und hielt seine Holzlatte wie einen Hochsprungstab gepackt.

Der Typ im Flur klapperte mit dem Schlüsselbund und steckte einen der Schlüssel ins Schloß. Lundquist fiel ein Stein vom Herzen. Der Idiot da draußen machte es wirklich so wie immer: erst den Schlüssel hinein und dann den Kontrollblick durch das Guckloch.

Der Australier holte mit der Latte aus. Dann ging das Guckloch auf, und der Wärter sah hinein. Bevor er einen Laut der Überraschung äußern konnte, stieß Lundquist brutal zu. Die Latte traf den Unglücklichen genau über der Nasenwurzel. Wie vom Blitz gefällt brach er an der gegenüberliegenden Wand des Kellergangs zusammen.

Stan ließ seine primitive Waffe fallen und widmete sich dem Türschloß. Mit einigen spitzen Holzstückchen aus den Trümmern der Pritsche stocherte er im Schloß herum. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, wie nach kurzer Zeit der Schlüsselbund draußen zu Boden fiel. Mit Hilfe der Holzlatte zog er nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen die Schlüssel durch den unteren Türspalt zu sich herein. Hastig probierte er sie durch und schloß die Tür auf. Dann schob er den bewußtlosen Mann in den Kellerraum hinein und verriegelte die Tür von außen. Leise schlich er den Gang entlang, bis er den Fuß der Treppe erreichte.

Oben gab es mindestens noch einen weiteren Wächter. Da galt es besonders vorsichtig zu sein, denn der war bewaffnet. Vorsichtig stieg Lundquist die Treppe hinauf.

Glücklicherweise hatte der Kerl, der jetzt besinnungslos im Kellerverlies lag, die Tür nicht ins Schloß gezogen. Das erlaubte Lundquist, durch den Türspalt zu spähen, ohne vorher die Klinke niederdrücken zu müssen.

Tatsächlich! Der andere Kerl saß am Küchentisch und studierte eine Zeitung.

Hier half nur Unverfrorenheit und das Überraschungsmoment. Der Australier imitierte ein unterdrücktes Stöhnen. Der Mann am Tisch blickte mißtrauisch zur Kellertür, legte die Zeitung auf den Tisch und kam herüber. Unvorsichtig griff er zur Klinke und zog die Tür ganz auf. Im selben Moment traf ihn Lundquists Faust mit aller Wucht. Der Kerl flog durch die Küche und brach stöhnend am Waschtisch zusammen.

Lundquist zögerte keinen Moment. Er spurtete los, riß die Küchentür auf und hetzte durch den kurzen Korridor auf die Haustür zu. Doch als er in das Halbdunkel der Abenddämmerung hinaussprang, wußte er, daß er verloren hatte. Wenige Meter vor ihm stand der dritte Mann, der immer bei den Verhören anwesend gewesen war. Er mußte soeben mit dem Auto eingetroffen sein, denn er war noch keine fünf Schritte von der Fahrertür entfernt. Als er Lundquist erblickte, zog er blitzschnell einen Revolver aus dem Gürtelhalfter und hielt ihn dem Australier entgegen.

»Wo soll es denn hingehen, Dr. Lundquist?« fauchte er grimmig.

Hinter dem Australier bewegte sich etwas. Mit leisem Stöhnen kam der Kerl aus der Küche dazu. »Ein Glück, daß du gekommen bist, Reggie«, sagte er, wobei man deutlich hören konnte, daß ihm die Schnauze gehörig weh tat. »Fast wäre er uns entwischt, das Schwein! Was machen wir denn jetzt mit ihm?«

Der Mann mit dem Revolver blickte seinen Partner grinsend an. »Es ist ohnehin nichts aus ihm herauszubringen. Wir werden ihn über die Klinge springen lassen. Ich werde nur noch kurz mit dem Chef telefonieren.«

Die beiden Männer dirigierten Lundquist zurück in die Küche und banden ihn mit ekelhaft einschneidenden Nylonschnüren auf einem der Stühle fest.

»Wo ist eigentlich Will?« fragte plötzlich Reggie.

»Er war hinuntergegangen, um dieses Arschloch zum Klo zu bringen.« Er sah Lundquist wild an. »Wenn du ihm was getan hast, dann kannst du dich auf was gefaßt machen!« Er drehte sich um und stieg hinunter in den Keller. Bald darauf waren Rufe zu hören. Dann tauchte der Kerl aus dem Keller wieder auf. »Das sieht ziemlich mies aus da unten mit Will. Das ganze Gesicht ist voller Blut, und er gibt kein Lebenszeichen mehr von sich.«

Scheiße, dachte Lundquist, zu fest zugestoßen. Er fühlte Bedauern, aber kein Mitleid. Dafür hatten sie ihn zu sehr gequält.

»Bleib hier und paß auf ihn auf!« befahl Reggie und ging hinunter, um sich die Sache selbst anzusehen.

»Ich werde auf ihn aufpassen!« beteuerte sein Kumpel, baute sich vor Lundquist auf und schlug zu. Sechs, sieben Volltreffer in das Gesicht des Australiers sorgten dafür, daß Lundquist aussah, als hätte ihn versehentlich ein Bus gestreift.

Reggie erschien wieder in der Küche. »Du hattest recht, es sieht schlimm aus mit Will. Aber glücklicherweise lebt er noch. Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen.« Sein Blick fiel auf den inzwischen bewußtlosen Australier. »Was hast du mit ihm angestellt?« brüllte er seinen Kumpel an. »Bist du verrückt, oder was? Der Chef läßt uns häuten, wenn wir ihm ohne Befehl an die Gurgel geh'n. Spinnst du? Lebt er noch?«

»Sicher lebt er noch, verdammt! Ich habe ihm praktisch nichts getan. Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Wir bringen ihn zurück in den Keller, und dann schaffen wir erst mal Will zum Arzt. Wenn wir zurückkommen, versuche ich, den Chef zu erreichen.«

Sie packten den Stuhl mit Lundquist und bugsierten ihn in das Kellergefängnis. Mit dem halb toten Will kehrten sie nach oben zurück und verließen das Haus.

Nach einer guten Viertelstunde kam Lundquist langsam wieder zu sich. Der Kopf brummte wie ein Bienenstock, und sein rechtes Auge war mit geronnenem Blut verklebt. Es dauerte einige Minuten, bis er sich darüber im klaren war, daß dies noch nicht die Hölle sein konnte. Mithin schien er noch am Leben zu sein. Aber wie lange noch? Angespannt wartete er auf ein Lebenszeichen seiner Peiniger, aber draußen, hinter der Kerkertür, war nichts zu hören.

Erst einige Stunden später vernahm er Geräusche. Die Kerle schienen zurück zu sein. Da konnte es ja wieder heiter werden. Zu seinem Erstaunen kamen sie jedoch nicht herunter; erst nach einer weiteren Stunde hörte er Schritte auf der Kellertreppe.

Mit mißmutigem Gesicht kamen die beiden zur Tür herein. »Wir werden dich jetzt losbinden, Lundquist«, knurrte Reggie. »Dann wirst du uns, ohne Mätzchen zu machen, ins Auto begleiten, hast du das kapiert? Wenn du irgendwelche Tricks versuchen solltest, werde ich dich mit Freuden abknallen, verstanden?«

Lundquist versuchte ihn trotz seines verklebten Auges anzusehen. »Und was passiert, wenn ich mich nicht wehre? Dann knallt ihr mich auch ab! Was denkt ihr denn, he? Daß ich mich abschlachten lasse wie ein Schaf? Ihr spinnt wohl?«

»Red nicht so eine Scheiße, Mann. Wenn wir dich umbringen wollten, hätten wir das hier unten getan. Nein, du sollst ausgetauscht werden. Also, reiß dich am Riemen!«

»Ausgetauscht?« Stan konnte es kaum fassen. »Gegen wen denn?«

»Das geht dich überhaupt nichts an, du Klugscheißer. Sei froh, daß du überhaupt hier rauskommst. Also, gehst du ohne Tricks mit?«

Was sonst, dachte Lundquist. Dann nickte er.

Die beiden Männer banden ihn vom Stuhl los und stützten ihn, während er versuchte, langsame Schritte zu tun. Die Nylonschnüre hatten den Blutkreislauf in Armen und Beinen stark eingeschränkt, und entsprechend schlecht konnte er jetzt laufen. Nach einigen Minuten aber ging es ihm etwas besser. Aufatmend ließ er sich in den Fond von Reggies Auto fallen und dankte erst einmal dem Herrn für seine Güte.

Am Leben! Immer noch!

Knappe fünfzig Minuten später lenkte Reggie den Wagen über ein paar Feldwege, bis er am Rand eines Wäldchens anhielt. Er knipste kurz die Innenbeleuchtung an und sah auf die Uhr. »Zehn vor zwei«, sagte er halblaut. »Also noch zehn Minuten.« Er drehte sich zu Lundquist um. »Denk dran, einen Mucks, und ich blas dir das Hirn raus!«

Der Australier entschloß sich, einfach die Klappe zu halten. Irgend etwas Erfreuliches ging hier vor.