Dublin, Irland
Ich bin wirklich besorgt, Idwood«, gab Sam O'Brien zu. »Ich kann nicht fassen, daß man so eine Schlamperei unter den Tisch kehren will. Eine Schlamperei, so muß man ja wohl hinzufügen, die das Leben vieler Menschen kosten kann.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, hast du die Notizen aus Kossoffs Notizbuch entschlüsselt?« fragte Green und nahm dem alten Gefährten die Reisetasche ab. Sam O'Brien war vor wenigen Minuten mit einer Aer-Lingus-Maschine in Dublin gelandet.
»Na ja, ›entschlüsseln‹ ist vielleicht ein zu starker Ausdruck«, meinte O'Brien. »Sagen wir mal, ich denke, ich weiß, was da passiert ist.« Er warf Green einen Blick zu. »Und was ich daraus entnommen habe, hat mich veranlaßt, hierherzukommen, um dem Secret Service Hilfestellung zu leisten! Das muß man sich mal vorstellen! Wenn ich das im Club erzähle!« fügte er grinsend hinzu.
»Hm, ich denke, du kannst noch ganz andere Sachen im Club erzählen. Ich schlage vor, wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen in einem netten Restaurant und gehen alle Punkte durch, die wir so haben. Einverstanden?«
»Vielleicht kannst du mir Kossoffs Notizbuch mal zeigen?« bat Lundquist. »Dann könnte ich während der Fahrt ins Gasthaus einen Blick hineinwerfen.«
»Kein Problem!« meinte O'Brien und zog die Aufzeichnungen des toten Virologen aus der Brusttasche seiner Jacke. Der Australier begann sofort darin zu blättern und widmete sich während der gesamten Autofahrt konzentriert dem Studium der Skizzen und Bemerkungen. Im Fond sitzend, stieß er hin und wieder einen aufgeregten Pfiff aus, während Idwood Green den Mercedes nach Blackrock lenkte, wo es seinen Informationen zufolge ein ganz hervorragendes indisches Restaurant geben sollte.
Nach einem opulenten curry- und minzehaltigen Mahl und dem köstlichen süßen Nachtisch klappte Lundquist das Notizbuch zu, in dem er nebenbei weitergelesen hatte, und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Du scheinst auch nicht besonders begeistert von dem zu sein, was du da gelesen hast, hm?« wollte Green wissen.
»Ich dachte, solche Sachen gäbe es nur in schlechten Romanen!« antwortete der Australier kopfschüttelnd.
Green nippte an seinem Kaffee. »So, vielleicht könnt ihr beiden mir endlich erzählen, was euch so aufregt. Ich habe zwar auch so meine Ideen bezüglich Kossoffs Aufzeichnungen, aber ich habe euch das Notizbuch gegeben, damit ich auf Expertenmeinungen aufbauen kann. Also?«
Sam O'Brien räusperte sich. »Nun, ich denke, daß es im vorliegenden Fall eine folgenschwere Verwechslung gegeben hat. Irgend jemand hat ein falsches Stück DNA in einen Vektor kloniert. Kossoff hat das herausgefunden. Und er hat sich bei der Firmenleitung beschwert und auf Behebung des Fehlers und Offenlegung des Vorfalls bestanden.«
»Richtig!« unterbrach ihn Lundquist. »Deshalb mußte er sterben. Weil er nicht klein beigeben wollte. Er dachte, er wäre in Sicherheit, dort drüben in New Haven.«
»Mal langsam, ihr beiden!« verlangte Green. »Das ist mir zu vage, verdammt. Das alles habe ich diesem Buch auch entnommen. Die Frage jedoch ist: Wie und was genau ist schiefgegangen? Welche Auswirkungen hatte es? Für wen brachte es Nachteile? Wer hatte ein Interesse daran, alles unter den Teppich zu kehren? Wir müssen irgendwie weiterkommen. Sonst finden wir nie heraus, aus welchem Grund der Secret Service da drinhängt und unter anderem unseren Freund Stan entführt hat.«
Lundquist atmete tief durch. »Gut, ich werde einen Überblick versuchen. Unterbrecht mich, wenn ich etwas eurer Meinung nach Falsches sage! Kossoff ist aufgrund eines guten Angebots vom Imperial College zu den Interclone Laboratories in Limerick gewechselt. Er hat dort weiter an seinem Projekt gearbeitet. Diese Arbeit bestand darin, Teile der Erbsubstanz verschiedener Krankheitserreger so zusammenzustückeln, daß nach Infektion von Zellen und Umsetzung der neu gebildeten Erbinformation Viruspartikel entstanden, die Oberflächenmerkmale der verschiedenen Ausgangserreger aufwiesen, selbst aber nicht mehr pathogen, nicht mehr krankheitserregend waren. Seht ihr das bis dahin auch so?«
Die beiden Zuhörer nickten wortlos.
»So weit, so gut«, fuhr der Australier fort, »nun passierte aber das Unheil. Bei Interclone wurden und werden offensichtlich auch biologische Kampfmittel entwickelt. Kossoffs Aufzeichnungen bestätigen meine Beobachtungen in Blunstones Akten. Es ist dann offensichtlich zu einer Kontamination gekommen. Einer der Leute hat ein falsches Stück DNA in die rekombinante Erbinformation für die Hybridviren hineingehängt. Warum, und wo genau der Fehler gelegen haben könnte, das geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Aber immerhin, Kossoff hat bei seinen weiteren Arbeiten in New Haven herausgefunden, daß dieses zusätzliche Stück DNA in der Hybridvirus-Erbinformation enthalten war. Und er hat anscheinend herausgefunden, wofür dieses Stück kodiert. Es setzt den Hybridvirus in die Lage, menschliche Zellen zu infizieren. Die Infektion führt beim Menschen zu einer Art schwerer Grippe, deren Fieberschübe kaum kontrollierbar sind und deshalb häufig tödlich verlaufen.«
»So weit kann ich folgen«, nickte Green, »aber was war der Sinn dieser ganzen Sache? Ich meine, wenn nichts schiefgegangen wäre?«
Sam O'Brien ergriff das Wort. »Nun, ganz einfach! Wenn alles normal gelaufen wäre, hätte man den von Stan beschriebenen Hybridvirus in der Hand. Das ist an sich eine patente Idee. Diesen Hybridvirus kann man nämlich benutzen, um Rinder zu infizieren. Da die Erbinformation des Virus entsprechend umgebaut wurde, kommt es zu keiner Erkrankung. Aber die Immunabwehr der Rinder hat Kontakt mit den verschiedenen Oberflächenproteinen der Originalviren. Wie zum Beispiel Maul- und Klauenseuche, Rinderpest, Grippe und so weiter. Und wie bei jeder aktiven Schutzimpfung ist die Folge, daß der Körper gegen diese Erreger immun wird. Mit anderen Worten, die Tiere sind gegen die Einzelkrankheiten gefeit, und zwar mit einer einzigen Impfung.«
»Aber das kann man doch mit abgetöteten Einzelviren auf herkömmliche Art erreichen. Warum der Aufwand, deren DNA beziehungsweise Teile davon zu kombinieren und zu einem Hybridvirus zu verschmelzen?« fragte Idwood.
»Sehr einfach«, erwiderte O'Brien. »Der Witz an dieser Vorgehensweise ist der, daß man nur ein Rind infizieren muß. Da der Hybridvirus intakt ist, steckt das infizierte Rind die anderen in der Herde nach und nach an, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Also, man infiziert ein Tier, und nach einiger Zeit ist die gesamte Herde immun. Wenn die Herde entsprechend groß ist, spart das eine Menge Arbeit. Und eine Menge Material, füge ich hinzu, denn die Rinder wirken als Bioreaktor. Sie produzieren selbst den neuen Virus, mit dem sie andere Tiere anstecken.«
»An sich gar nicht so dumm«, meinte Green nachdenklich.
»An sich nicht! Aber jetzt haben wir da dieses Problemchen mit der überzähligen DNA.« Lundquist klappte Kossoffs Notizbuch auf und zog einen bereits angegilbten kleinen Zeitungsausschnitt hervor. »Hier, eine zwölfzeilige Meldung aus der New York Times. Angeblich gab es unter einigen Farmarbeitern in Uruguay eine schwere Grippeepidemie. Farmarbeiter! Kossoff war wahrscheinlich sofort klar, was das bedeutete. Die Hybridviren haben durch den Klonierungsfehler die Fähigkeit erlangt, humane Zellen zu befallen und im Menschen diese schwere Grippe hervorzurufen. Dieser Effekt war nun natürlich überhaupt nicht vorgesehen gewesen.«
Sam O'Brien runzelte die Stirn. »Hm, mag sein, daß es so gewesen ist, Stan, aber woher wissen wir, daß Kossoffs Annahme, diese Grippeepidemie sei von dem defekten Interclone-Virus erzeugt worden, überhaupt richtig ist?«
»Aus zwei Gründen«, erklärte Lundquist. »Erstens ist Kossoff umgebracht worden, und zwar vermutlich deshalb, weil er Interclone mit der Veröffentlichung seines Wissens gedroht hat, falls sie die Ausbreitung des Hybridvirus nicht sofort stoppen. Ich entnehme einer Bemerkung in seinem Notizbuch, daß er den Fehler im System bereits entdeckt hatte, bevor die ersten Immunisierungen durchgeführt wurden.«
»Schön, schön«, lobte Idwood Green, »das kaufe ich euch alles so ab, wie ihr es gerade erklärt habt. Jetzt müssen wir nur noch darüber nachdenken, warum Interclone, oder sagen wir besser, Efrem Blunstone, nicht auf Kossoffs Vorstellungen eingegangen ist, sondern eher einen Mord akzeptiert hat. Warum?«
Seine beiden Tischgenossen kratzten sich am Kopf.
»Hm, hm«, machte Lundquist, »ich weiß nicht so recht. Irgendwie drehen sich die Argumentationen in mir im Kreis. Rein vordergründig würde ich behaupten, Blunstone hat Kossoff über die Klinge springen lassen, weil er sich das Geschäft mit diesem selbstimpfenden Viruspräparat nicht versauen lassen wollte. Kossoff hat ihn angerufen und gesagt: ›Blunstone, stampf den Mist ein, oder ich geh damit an die Öffentlichkeit.‹ Und da hat er ihn einfach umgelegt.«
Green hatte aufmerksam zugehört. Beim letzten Wort des Australiers zuckte er leicht zusammen. »Das hast du glücklicherweise falsch ausgedrückt, Stan. Das ist es eben! Er hat nicht selbst umgelegt, nein, er hat umlegen lassen. Die Sache in New Haven wurde professionell durchgezogen, das kann ich euch sagen. Pech für die Killer, daß ihr Opfer überzeugter Antialkoholiker war. Wenn Kossoff schon mal irgendwann zuvor in seinem Leben ein Glas Bier getrunken hätte, hätte ich mich niemals weiter um die Sache gekümmert. Aber trotzdem, die Typen waren Profis. Das paßt einfach nicht! So ein Riesenaufstand. Man kann nicht einfach so ein paar Profikiller anheuern. Das ist was anderes, als wenn einer sagt: ›Iß mal ein Brötchen!‹ Dazu braucht man eine Menge Verbindungen, wenn ihr wißt, was ich meine.«
O'Brien nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und zog ein verdrießliches Gesicht, als er merkte, daß der Inhalt kaum noch lauwarm war. »Mistkaffee!« fluchte er leise, bevor er Green nachdenklich ansah. »Wenn ich dich richtig verstehe, willst du uns damit in deiner bekannt wortkargen Art sagen, daß der Stil des Verbrechens eine Nummer zu groß für Blunstone war?«
»Na, ich meine, Interclone hatte doch offenbar noch andere Aufträge. Also, warum so einen Aufstand für eines der Produkte? Selbst wenn sie den Hybridvirus eingestampft hätten, wären sie doch nicht pleite gegangen.«
»Ist Blunstone denn überhaupt der Besitzer dieser Biofirma?« fragte O'Brien langsam.
Green und Lundquist starrten den Wissenschaftler verblüfft an.
»Verdammt, wir Idioten!« sagte Green.
Auch Lundquist nickte. »Natürlich! Blunstone ist nicht Interclone. Er ist vielleicht Geschäftsführer, aber mehr nicht. Und wenn ich mich recht entsinne, gab es da einen Menschen, der ihm gegenüber einen ziemlich selbstbewußten Ton anschlug. Wie hieß er doch gleich? Crichton? Nein, nein, Cruikshank, ja genau, so war sein Name. Cruikshank. So ein blonder Schrank.«
Green nickte. »Den hat Jeanne wohl auch kurz kennengelernt. Mir ist so, als hätte sie diesen Namen bei der Schilderung ihres Besuchs erwähnt.«
»Ja, mag sein. Zu der Zeit war er in Limerick.«
»Und? Wem gehört Interclone?« fragte Sam O'Brien hartnäckig.
Green deutete auf Lundquist. »Vielleicht finden wir die Antwort, wenn wir diesen wunderbaren Mikrofilm entwickeln, lieber Stan. Du hast doch eine Menge Fotos gemacht, nicht wahr?«
Lundquist nickte lächelnd. »Vielleicht hat sich die Schinderei ja doch gelohnt.«
»Bestimmt!« meinte Green. »Aber worüber wir jetzt noch nachdenken müssen, ist die Frage der Biowaffenentwicklung. Royal Army. Secret Service. Da muß doch auch irgendwas faul sein, sonst hätten sie Stephen Montgomery nicht umgebracht und Stan Lundquist nicht entführt.«
»Vielleicht soll die Forschung geheim bleiben?« fragte O'Brien. »Ich denke, daß es seltsam konsequent erscheint, wenn eine Regierung ein B-Waffen-Verbot nicht unterzeichnet und dann in ausländischen Firmen B-Kampfmittel entwickeln läßt.«
»Hat nicht vorhin einer von euch beiden gesagt, daß es eine Verbindung zwischen Hybridvirus und B-Waffen-Forschung gäbe?«
»Klar gibt es die!« betonte O'Brien. »Oder sagen wir mal, ich bin ziemlich sicher, daß es sie gibt. Das falsche Stück DNA, das da versehentlich eingebaut wurde, kommt nicht aus der Virologie-Abteilung. Das schreibt auch Kossoff in seinem Notizbuch. Die haben sich das aus der B-Waffen-Abteilung eingefangen. Kossoff deutet an, daß dort mit Virus-DNA hantiert wurde. Und da man mit B-Waffen Menschen aus dem Weg räumen will, ist es nur stimmig, daß dieses falsche DNA-Stück für die Fähigkeit der Hybridviren kodiert, menschliche Zellen zu infizieren.«
»Aha!« rief Lundquist aus. »Die Verbindung ist da. Die Schweine wollten die Verbindung geheimhalten und haben deshalb lieber Kossoffs Tod in Kauf genommen.«
Idwood Green, der noch einen Schluck vom kalten Kaffee genommen hatte, setzte die Tasse ab und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Stan, nein. Das hört sich beim ersten Hinhören nicht übel an, was du da sagst. Aber glaube mir, so läuft das nicht. Wenn die britische Regierung tatsächlich verheimlichen wollte, daß Interclone B-Waffen-Forschung für die Royal Army betreibt, dann hätte sie sicher dafür gesorgt, daß der defekte kommerzielle Hybridvirus sang- und klanglos aus dem Verkehr gezogen worden wäre, damit bloß kein Aufsehen entsteht. Nein, nein. Da läuft etwas anderes ab.«
»Aber was?« Sam O'Brien zog ein Gesicht, als würde er gerade im Geist ein äußerst diffiziles Experiment ausarbeiten.
Green zuckte die Achseln. »Keine Ahnung! Noch nicht! Ich hoffe, wir sind nach der Auswertung von Stans Mikrofilm ein bißchen schlauer. Immerhin, wir wissen, daß der Abwehrdienst der Royal Army in der ganzen Angelegenheit mit drinhängt. Ich werde Abbott anrufen und ihm mal auf den Zahn fühlen. Sollte er wirklich nichts von der Sache wissen, kann er sich vielleicht ein wenig umhören. Wir werden sehen!«
Nachdem sie die Rechnung beglichen hatten, fuhren die drei zurück nach Dublin, um Jeanne Lumadue einen Besuch im St. Patrick's Hospital abzustatten. Ihre Genesung machte zumindest auf psychischem Gebiet gute Fortschritte, was vor allen Dingen damit zusammenhing, daß Chester Partridge ihr den ganzen Tag albernen Unsinn erzählte und sie alle Gedanken darauf konzentrieren mußte, nicht zu heftig zu lachen, weil sonst die Verletzungen schmerzten.
Bevor Green, Lundquist und O'Brien ins Hotel zurückkehrten, fuhren sie noch an der Hauptpost vorbei. Von dort aus führte Idwood Green ein Gespräch mit Sir Ronald Abbott. Es schien äußerst interessant gewesen zu sein, denn der Engländer kehrte ganz beschwingt zum Wagen zurück, in dem Lundquist und O'Brien bereits gespannt auf seinen Bericht warteten.