New Haven, Connecticut, USA

Idwood Green verließ die Telefonzelle und kletterte hinter das Steuerrad des Dodge Pick-up. Das Gespräch mit Sir Ronald hatte den vorhergesehenen Verlauf genommen. Der Chef konnte mitunter recht brummig werden, war aber vernünftigen Kompromissen gegenüber immer aufgeschlossen. Wahrscheinlich würde Abbott auch in diesem Fall Verständnis dafür aufbringen, daß Green nach den Anschlägen auf Angela MacRae und sich selbst durchaus einen Anlaß gesehen hatte, länger als geplant in New Haven zu bleiben.

Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Nein, eine Abendmaschine nach London war auf keinen Fall zu schaffen, vor allem dann nicht, wenn er vorher ein weiteres Mal versuchen wollte, Kossoffs Wohnung in Augenschein zu nehmen. Zum Glück hatte er noch einen Platz in der Concorde reservieren können. Der überschallschnelle weiße Vogel startete am frühen Morgen von New York aus nach London. Das bedeutete, daß er inklusive Zeitverschiebung am späten Nachmittag des nächsten Tages in der britischen Hauptstadt eintreffen würde. Und mehr, als daß er am Nachmittag käme, hatte er Abbott ja nicht zugesagt. Zu sehr wollte Green den Alten auch nicht reizen.

Gute zwanzig Minuten später steuerte der Engländer seinen Dodge auf den Parkplatz des Connecticut Limousine-Terminals im südwestlichen Industriegebiet New Havens und nahm dort ein Taxi. Sein Fahrtziel war die Cramer Street, eine Parallelstraße der Ronan Street. Diesmal wollte er nicht wie auf dem Präsentierteller vor Charles Kossoffs Apartmenthaus erscheinen.

Der Taxifahrer fuhr einen ziemlich flotten Reifen, denn nach knappen zehn Minuten hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen und passierten Woolsey Hall und Ingall's Rink, die Eishockey-Arena. Wenige Meter später erblickte Green auf der rechten Seite der Prospect Street den dunkelbraunen, imposanten Steinklotz, in dem Kossoff gearbeitet hatte und der zu Ehren seines Initiators und Financiers den Namen Kline Biology Tower trug.

Eine merkwürdige Stadt, dachte Green. Beherbergt die Yale University, immerhin eine der berühmtesten Privatuniversitäten der Welt, und gehört dennoch zu den zehn ärmsten Städten der gesamten Vereinigten Staaten. Er wandte den Kopf nach links. Die kleinen, leicht abfallenden Straßen auf dieser Seite entschwanden nach wenigen Metern aus dem Blick, denn sie waren von dichtem Baumwuchs gesäumt. Aber da unten, nach weniger als fünfhundert Metern, stand die verfallene Fabrikhalle der Firma, die für den finanziellen und sozialen Niedergang New Havens verantwortlich gewesen war. Die Winchester-Waffenfabrik hatte zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Massen von Arbeitssuchenden, vor allem Schwarze, nach New Haven gezogen. Aber die neuen Entwicklungen der Schußwaffentechnik gingen unbemerkt und viel zu schnell an der Firmenleitung vorbei, und so folgte dem Zweiten Weltkrieg auch der Konkurs der Winchester-Fabrik. Seitdem lagen dort unten, auf der westlichen Seite des sogenannten Science Hill, die Armenviertel der Universitätsstadt, mit einzelnen Straßen, in die sich noch nicht einmal die Polizei wagte. Die Leute dort, in der Hauptsache mit schwarzer Hautfarbe, hatten keine Chance auf ein regelmäßiges Einkommen, denn die Kapazitäten des größten Arbeitgebers der Stadt, Yale, waren schon lange erschöpft.

Die andere, östliche Seite des Science Hill stellte nicht nur aus geographischer Sicht einen absoluten Gegensatz zur Westseite dar. Hier gab es beschauliche, ruhige Alleen, in denen gepflegte Einfamilienhäuser im Schatten alter Bäume standen. Hier wohnte die privilegierte Hälfte der New Havener, zum beträchtlichen Teil natürlich Professoren, Dozenten und Angestellte der Universität.

Der Engländer schüttelte nachdenklich den Kopf. Er kannte Gegenden auf der Welt, wo solche Gegensätze unweigerlich einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten. Nicht so hier. Aber vielleicht lag das an der Nähe des Molochs New York, der erfolgreich vorführte, wie sich Arm und Reich arrangieren konnten, wenn auch meist auf Kosten der Armen.

Das Taxi hielt.

Green bezahlte den Fahrer und stieg aus.

Die Cramer Street lag etwa fünfundsiebzig Meter von der Ronan Street entfernt. Green schlenderte im Schatten der Alleebäume in östlicher Richtung weiter und versuchte dabei, einen Blick zwischen den meist aus Holz gebauten, schmucken Einfamilienhäusern hindurch auf die entfernten Häuser an der Ronan Street zu werfen. Bald erspähte er die Rückseite des Apartmenthauses, in dem Kossoff gewohnt hatte. Green blickte sich um. Niemand zu sehen. Vor allem kein Mercury, der ihn niederfahren wollte.

Nach einem neuerlichen wachsamen Blick in alle Richtungen setzte er mit einem energischen Sprung über die Hecke des nächsten Vorgartens und spurtete dann an dem Haus vorbei in den Garten.

Hoffentlich haben die Leute hier keinen Hund, dachte Green, dem bei diesem Gedanken ein bißchen mulmig wurde.

Die hintere Grundstücksgrenze war glücklicherweise nur durch eine Hecke abgeschlossen. Green wühlte sich durch das dichte Gesträuch und hatte nun die rund dreißig Meter entfernte Rückansicht des Apartmenthauses vor sich.

Die Tür zum Souterrain war geschlossen, aber das Fenster darüber stand offen, wahrscheinlich, um das Treppenhaus zu lüften. An keinem der Fenster war ein Gesicht zu sehen.

Sport ist Mord, dachte Green, aber was tut man nicht alles! Er sprintete quer durch den Garten direkt auf die Hintertür zu. Etwa einen Meter davor sprang er ab und erwischte mit den Händen die Kante des offenen Flurfensters. Um den Schwung des Absprungs auszunutzen, zog er sich übergangslos in die Stütze und setzte mit einer eleganten Hocke in den Hausflur.

5,8 – 6,0 – 5,9, dachte er. Und natürlich hat wieder niemand zugesehen!

Er zog Kossoffs Wohnungsschlüssel aus der Tasche seiner Jacke und nahm die Treppe nach oben. Wenig später stand er vor der Tür des Apartments.

Einige Zentimeter unterhalb des Türschlosses klebte das Polizeisiegel. Der Engländer ging in die Hocke und nahm den hochoffiziellen Sticker in Augenschein. Das runde, selbstklebende Emblem der State Police war genau über dem Türspalt befestigt worden. Green fuhr mit dem kleinen Finger darüber. Der Teil, der am Türrahmen haftete, fühlte sich so glatt an, wie man sich das vorstellte. Die andere Hälfte machte allerdings keinen so unversehrten Eindruck mehr. Sie warf kleine Wellen und hatte eine mattere Oberfläche.

Soso, dachte Green, der alte Trick. Wenn das Siegel relativ frisch aufgeklebt war, ließ es sich durch kurzes Erhitzen, zum Beispiel mit einer starken Lampe, relativ leicht ablösen, weil der Kleber auf der Rückseite weich wurde. Allerdings sah es hinterher nicht mehr ganz so schön aus. Aber das bemerkte man nur, wenn man genau hinsah.

Er griff in die rechte Innentasche seiner Jacke. Dort pflegte er ein Mini-Opernglas mit sich herumzutragen, das ihm schon viele gute Dienste geleistet hatte. Man konnte zu gegebener Zeit einfach weiter sehen als andere. Green schraubte ein Okular heraus und führte es wie ein Monokel ans Auge. Dann begutachtete er mit Hilfe dieser provisorischen Lupe das Türschloß. Siegel erbrechen allein reichte nicht. Man mußte auch noch die Wohnungstür öffnen, und das ging ohne Schlüssel nur dann, wenn man mit einem Dietrich im Schloß herumfuhrwerkte.

Er pfiff leise durch die Zähne. Da waren Profis am Werk gewesen. Er mußte sogar sein Feuerzeug aufflammen lassen, um im Schattenspiel der kleinen Flamme die feinen Schrammen erkennen zu können, die der Dietrich am Schloßzylinder hinterlassen hatte.

Der Engländer erhob sich, setzte sein Opernglas wieder zusammen und schloß dann vorsichtig die Tür auf. Nachdem er noch einmal sichernd den Flur entlanggeschaut hatte, schob er die Tür ein wenig auf und schlüpfte geräuschlos hinein. Nach den Erfahrungen mit dem Mercury und den Typen im Hotel konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Sekundenbruchteile später war der Vorsatz der Geräuschlosigkeit allerdings so hinfällig wie eine offene Flasche Vollmilch, die eine Woche in der Sonne gestanden hat. Green war beim Eintreten in Kossoffs Apartment mit dem linken Fuß auf ein Stück Papier getreten, das auf dem Teppichboden herumlag. Diese effektive Gleithilfe riß ihm das Standbein weg, und er rutschte mit den Füßen in ein kleines Bücherregal, das mit ohrenbetäubendem Krach, eine große Bodenvase mit sich reißend, umstürzte.

Der Engländer blieb einen Moment lang flach auf dem Rücken liegen und seufzte resigniert. Von wegen 5,9, dachte er. Welch ein Lärm! Meistens war es eben doch günstig, wenn niemand zusah.

Er erhob sich langsam, schloß die Tür und sah sich dann um. Offenbar war das Bücherregal, das er eben umgerissen hatte, das einzige Möbelstück an seinem ordnungsgemäßen Platz gewesen. Die Wohnung sah aus wie ein Brathähnchen nach der Mahlzeit. Alles auseinandergerissen und durcheinander, die Sessel aufgeschlitzt, die Bücher durchwühlt. Green kannte zwar viele Polizeimethoden, aber dies hier traute er selbst der State Police von Connecticut nicht zu.

Hier hat aber jemand was ziemlich Wichtiges gesucht, dachte Idwood. Und er hätte nur zu gern gewußt, was. Langsam begann er zu glauben, daß Kossoff sich mit irgendeiner Unterweltabteilung angelegt hatte. Kokain? Heroin?

Auf jeden Fall war er kein Fixer gewesen. Das hätte die Polizei bei der Untersuchung der Leiche auf jeden Fall festgestellt.

Aber vielleicht Erpressung oder ähnlich Liebliches?

Green rief sich zur Ordnung. Spekulationen waren jetzt so überflüssig wie ein Kropf.

Er drehte sich um und ging zur Tür. Hier war ohnehin nichts mehr zu holen. Er verließ das Apartmenthaus auf demselben Weg, den er gekommen war. Er sprang vom offenen Flurfenster in den Hof, lief zur Hecke des Nachbargrundstücks und die wenigen Meter zur Cramer Street. Dann schlenderte er in Richtung Prospect Street davon und steckte sich eine Erholungszigarette an.

An der nächsten Straßenecke sah er sein nächstes Ziel bereits gen Himmel ragen, obwohl man den Kline Tower nicht unbedingt sehen mußte, um zu wissen, daß man ihm nahe war. Das Forschungsgebäude gab ein eigentümliches sausendes Geräusch von sich, das von den Lüftungsgeneratoren erzeugt wurde, die die oberen zwei Stockwerke einnahmen.

Wenige Minuten später betrat Green das imposante Foyer und suchte auf der großen Informationstafel neben der Pförtnerloge Kossoffs Namen. Es dauerte einige Zeit, bis er ihn gefunden hatte; eine Menge Leute arbeiteten hier.

Vielleicht gab es ja noch einige persönliche Sachen Kossoffs in seinem Büro. Green wußte aus eigener Erfahrung, daß man allerlei Kram im Büro aufbewahrte. Warum sollte das bei einem Wissenschaftler anders sein? Dazu mußte er zuerst einmal mit Professor Walter Seitz reden, der die Abteilung leitete.

Der Flur im 10. Stock stand voller Geräte: Kühltruhen, Stickstoffbehälter, Zentrifugen, Kisten mit Plastikflaschen und Pipettenspitzen, vollgepackte Hängeschränke. Und in den Labors und Büros schien die Situation nicht anders zu sein. Ein Höllenbetrieb überall, und keiner der Leute nahm auch nur den Hauch einer Notiz von ihm. Alle paar Meter zweigten kurze Querflure ab, die zu weiteren Labors führten. Und irgendwo mußte auch das Büro von Professor Seitz sein.

Eine Tür öffnete sich. Green verstellte der jungen Frau, die herauskam und an ihm vorbeigehen wollte, kurzerhand den Weg.

»Guten Tag. Mein Name ist Green. Ich suche das Büro von Professor Seitz. Können Sie mir helfen?«

Die zierliche Person mit den kurzen braunen Haaren und der Stupsnase musterte ihn mit erstaunlich traurigen Augen. Dann deutete sie den Gang entlang. »Dort hinten, die sechste oder siebte Tür links. Es steht dran.«

»Schönen Dank«, erwiderte der Engländer. »Da Sie sich ja hier offenbar auskennen, könnten Sie mir vielleicht noch eine Auskunft geben. Wo ist Charles Kossoffs Schreibtisch?«

Die junge Frau blickte ihn fassungslos an. »Charles Kossoff? Warum wollen Sie das wissen?«

Sehr merkwürdig, dachte Green, das Mädel ist ja völlig aufgelöst. »Ich bin der Schwager von Charles' Schwester Angela. Wir haben die Überführung seiner Leiche nach England organisiert. Und ich dachte, es gäbe möglicherweise noch ein paar Sachen von Charles, die wir mitnehmen sollten.«

Sein zierliches Gegenüber mußte sichtbare Mühe aufwenden, um sich zusammenzunehmen. So dauerte es eine kurze Weile, bis sie antwortete. »Dort … dort hinten.« Sie deutete an Green vorbei. »Im Raum Nummer 1023 steht sein Tisch.« Bevor er ihr danken konnte, hatte sie sich bereits umgedreht und schlug die Tür wieder hinter sich zu.

Hm, dachte Green, die Dame ist ja ganz schön fertig. Er hätte jede Wette angenommen, daß sie Kossoff näherstand als sonst jemand hier. Vielleicht sollte man sich noch einmal eingehender mit ihr unterhalten, wenn sie sich wieder gefangen hatte. Er warf einen Blick auf das kleine Schild neben der Tür.

Photographic equipment, darkroom. K. Pafka.

Aber eins nach dem anderen! Erst wollte er ein paar Worte mit dem Chef der Abteilung wechseln.

In Seitz' Sekretariat waren gleich zwei Damen damit beschäftigt, irgendwelche Texte in die Schreibmaschinen zu hämmern.

»Guten Tag, meine Damen!« grüßte Green. »Ich hätte gerne Professor Seitz gesprochen.«

Die Köpfe der beiden hoben sich wie auf Kommando. »In welcher Angelegenheit denn, wenn ich fragen darf?« antwortete die eine.

»Das kann ich ihm leider nur selbst sagen, Madam. Es ist nicht direkt dienstlich. Ist er da?«

Die Sekretärin erhob sich. »Warten Sie bitte einen Moment! Ich werde nachsehen, ob der Professor Zeit hat. Wie heißen Sie denn überhaupt?«

»Green, Madam. Idwood Green.«

Nachdem die Sekretärin Seitz über die Sprechanlage informiert hatte und dieser ›bitten ließ‹, öffnete sie Green die Tür. »Bitte, Mr. Green, Professor Seitz erwartet Sie.«

»Danke.« Idwood sah sich einem untersetzten, nahezu kahlköpfigen Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der ihn interessiert musterte.

»Bitte nehmen Sie doch Platz! Was kann ich für Sie tun? Meine Sekretärin drückte sich etwas unklar aus.«

Green setzte sich. »Das war nicht ihre Schuld, Professor. Eher war meine Vorinformation etwas ungenau. Ich bin der Schwager von Charles Kossoffs Schwester. Wir haben die Leichenüberführung abgewickelt. Bevor ich jedoch nach England zurückfliege, wollte ich mich erkundigen, ob Charles noch persönliche Sachen hier hatte, die wir möglicherweise mitnehmen sollten.«

Seitz starrte Green einen Moment lang an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Charles. Mein Gott, wie tragisch. Wir alle hier können es noch gar nicht fassen. Er war ein so netter und beliebter Kollege. Und ein hervorragender Wissenschaftler. Ein unersetzlicher Verlust! Gestatten Sie, daß ich Ihnen mein tiefempfundenes Beileid ausspreche?«

»Danke, Professor. Es ist gut zu hören, daß Sie eine so hohe Meinung von ihm haben. Es war wirklich ein Schock, als wir von seinem Tod erfuhren.«

»Das kann ich Ihnen nachfühlen. Schrecklich! Und das durch einen so unnötigen Unfall!«

Green runzelte die Stirn. »Unnötig? Wie meinen Sie das?«

Seitz zuckte die Achseln. »Nun, ich wollte damit sagen, daß Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluß immer unnötig sind. Er hätte doch auch erst zu Hause etwas trinken können!«

Green wiegte nachdenklich den Kopf. »Was mich wundert, Professor, ist die Tatsache, daß Charles Antialkoholiker war. Ihn muß etwas ziemlich Unerfreuliches bedrückt haben, wenn er deswegen zur Flasche gegriffen hat.«

»Er war Antialkoholiker? Hm, das wußte ich nicht. Das ist allerdings eigenartig.« Seitz wirkte angespannt. »Was sagt denn die Polizei dazu?« fragte er.

»Ich hatte den Eindruck, daß sich die Polizei nicht besonders eingehend mit dem Unfall beschäftigt hat«, erwiderte Green.

Der Professor nickte. »Ja, ja, die haben wahrscheinlich genug andere Sachen zu tun, hier in New Haven. Ich glaube auch nicht, daß sie sich um Verkehrsunfälle besonders kümmern.«

Merkwürdig, dachte Green, irgendwie scheint ihn das überhaupt nicht zu stören, eher im Gegenteil. Aber es war vermutlich seine Art Berufskrankheit, daß er bei jedem Gesprächspartner irgendeine Art von Unredlichkeit vermutete.

»Also, Mr. Green, wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchten Sie einen Blick in Dr. Kossoffs Schreibtisch werfen, um eventuell vorhandene persönliche Habseligkeiten mitzunehmen?« meinte Seitz.

»Ja, wenn Sie erlauben.«

»Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Allerdings möchte ich Sie bitten, die vorhandenen Laborunterlagen wie Protokollhefte und Ähnliches nicht mitzunehmen. Das ist für uns nämlich der einzige Zugang zu seinen Experimenten, wenn wir sie fortführen wollen.«

»Natürlich, Professor. Die fachlichen Notizen kann wahrscheinlich ohnehin kein Normalsterblicher verstehen.«

Seitz lachte halblaut. »Ja, da mögen Sie recht haben.« Er wollte noch etwas hinzufügen, als ihn das Klingeln des Telefons unterbrach.

»Einen Moment bitte«, meinte er entschuldigend und hob den Hörer ab. »Ja?« Er lauschte auf die Antwort. »Ja, natürlich, stellen Sie durch.«

Er deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und blickte auf. »Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist ein dringendes Gespräch von auswärts. Sie können sich aber sicher selbst helfen. Dr. Kossoffs Schreibplatz war in Raum 1023. Es ist auf dem Gang rechts. Bitte fragen Sie doch bei einem der Mitarbeiter dort noch einmal nach!«

Green erhob sich. »Sicher, Professor, kein Problem. Vielen Dank, daß Sie mich empfangen haben.«

»Ich bitte Sie, keine Ursache.«

Green wunderte sich kurz, daß Seitz keine Legitimation von ihm hatte sehen wollen, und machte sich dann auf den Weg zu Kossoffs Zimmer. Als er die Tür des Fotolabors passierte und überlegte, ob er der jungen Dame von vorhin noch einmal seine Aufwartung machen sollte, da öffnete sich auch schon die Tür, die bereits einen Spalt offengestanden hatte, und Katie Pafka winkte ihn nervös heran.

»Schnell, kommen Sie herein.« Sie ergriff seinen Unterarm und zog ihn ins Fotolabor. Wie zur Vorsicht warf sie noch einen Blick auf den Flur und schloß dann die Tür.

Green sagte kein Wort und sah sie nur an.

Katie begann stockend zu sprechen. »Mr. Green, so heißen Sie doch, nicht?«

Der Engländer nickte.

»Sie haben mir vorhin erzählt, Sie seien der Schwager von Charles' Schwester. Stimmt das?«

Wieder nickte er schweigend.

Die Fotografin schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht glauben, Mr. Green. Ich habe alle Familienfotos von Charles gesehen und kann mich nicht an Sie erinnern. Außerdem hat er nie erwähnt, daß sein Schwager noch einen Bruder hat!« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Also, wer sind Sie, und weshalb schnüffeln Sie hinter einem Toten her, der Sie nichts angeht?«

Die Kleine war ganz schön pfiffig und aufgeweckt. Woher nahmen Frauen bloß dieses unglaubliche Gedächtnis, wenn es um die Namen und Einordnung der Verwandtschaft ging? Aber das half alles nichts, er mußte eine Entscheidung treffen.

»Sie haben natürlich recht. Ich bin kein Verwandter der Familie Kossoff. Charles' Schwester Angela ist eine Bekannte meiner Freundin. Weil sie nicht gern allein hierhergereist wäre, um die Leiche ihres Bruders abzuholen, hat sie mich gebeten mitzukommen. Und damit ich nicht dauernd einem solchen Erklärungszwang ausgesetzt bin wie jetzt, haben wir einen entfernten Verwandtschaftsgrad erfunden, der meine Gegenwart ohne langes Gerede rechtfertigt. Ich hoffe, Sie sehen mir diesen kleinen Schwindel nach, Ms. … äh, wie heißen Sie eigentlich?«

»Katie Pafka. Ihre Erklärung klingt gut, aber ich bin noch nicht ganz sicher, ob ich Ihnen glauben darf.«

»Hier, möglicherweise überzeugt Sie das.« Er holte einige der Papiere heraus, die ihm Angela übergeben hatte, und reichte sie der Fotografin. »Meine Referenzen!« Er grinste.

Katie Pafka überflog die Vollmachten und gab sie Green zurück. »Entschuldigung, aber ich wollte nur ganz sichergehen.«

Der Engländer nickte. »Schon gut. Aber sagen Sie doch mal, wieso Sie überhaupt auf den Gedanken kommen, ich würde mich für jemand anderen ausgeben?«

»Das werden Sie gleich verstehen, wenn Sie mich angehört haben.« Sie räusperte sich kurz. »Was hat man Ihnen denn erzählt, wie Charles umgekommen ist?«

»Nun, die – wie soll ich sagen – offizielle Version. Betrunkener Mann torkelt auf die Straße und wird von Auto überfahren. Wieso fragen Sie das?«

»Das ist völliger Quatsch! Ich war hier an dem Abend, als es passiert ist. Charles hat auch gearbeitet. Es wurde ziemlich spät. Er mußte seine Experimente fortführen, und ich war mit den Fotos für den Kongreß in Washington beschäftigt. Dann wollten wir noch in einen Pub gehen. Aber irgendwie ist es nicht dazu gekommen. Charles ist gegen Mitternacht gegangen, und zwar ohne sich zu verabschieden. Ich war zuerst ganz schön sauer, als ich es bemerkt hatte. Aber eins weiß ich so sicher, wie ich hier vor Ihnen sitze, Mr. Green: Charles Kossoff war nicht betrunken! Ich gehe noch weiter: Er hatte an diesem Tag überhaupt keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen. Charles trank nie Alkohol.«

Green nickte. »Ich weiß. Aber wir vermuteten, daß er vielleicht ein Problem hatte und sich deshalb einen hinter die Binde gekippt hat.«

Katie Pafka schüttelte heftig den Kopf. »Vergessen Sie das! Charles war ein hundertprozentiger Wissenschaftler, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hatte den Kopf voller Fragen und Ideen. So voll, daß er kaum dazu kam, sich um die alltäglichen Probleme des Lebens zu kümmern, wie einkaufen, Rechnungen bezahlen, waschen und so weiter. Solche Leute bekommen so schnell keine Probleme. Die kriegen nur die anderen, mit denen sie zu tun haben.«

Green lächelte und nickte. So war er auch mal fast gewesen, damals im Imperial College. Ein faszinierender Zustand. Irgendwie völlig losgelöst.

»Woran denken Sie, Mr. Green?«

Katie Pafkas Stimme riß ihn aus den Gedanken.

»Äh, nichts, schon gut. Wenn Sie also sagen, er wäre nicht betrunken gewesen, wieso war dann die Blutprobe so erschreckend positiv?«

Die Fotografin zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht. Aber haben Sie eine Idee, wie er sich binnen fünfzehn Minuten in einen derartigen Zustand hätte bringen können? Ich nicht! Da muß man puren Alkohol in sich reinschütten, wenn man das erreichen will.«

Green kratzte sich am Kopf. »Hm«, machte er nur.

Katie Pafka faßte ihn am Ärmel. »Und das ist noch nicht alles.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Nämlich?«

»Am Tag nach Charles' Unfall war ich hier und habe Fotos entwickelt. Die anderen waren schon alle nach Hause gegangen. Dann hörte ich die Feuertür zum Treppenhaus. Jemand war auf dem Flur. Kurze Zeit später klappte die Tür noch einmal. Dann war Stille.«

»Und weiter?«

»Ich habe mich eine ganze Weile nicht auf den Gang getraut. Dann bin ich ziellos an den Labors und Denkzimmern vorbeigelaufen, bis ich mich an Charles' Schreibtisch wiederfand. Und dann sah ich es: Die Protokolle fehlten!«

»Welche Protokolle?« fragte der Engländer verblüfft.

»Ordner, in denen Charles seine Versuche und Gedanken protokollierte. Es standen vorher etwa zehn davon auf dem Regal. Seit diesem Abend sind es nur noch zwei. Die anderen sind weg.«

»Sind Sie ganz sicher, Ms. Pafka?« fragte Green skeptisch. »Ich meine, vielleicht hat sie jemand der Mitarbeiter oder gar der Chef geholt, um einen Überblick über Charles' Versuche zu bekommen.«

Die Fotografin schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, es ist so, wie ich es sage. Bisher hat sich noch niemand um seine Experimente gekümmert. Wer auch? Die haben alle genug mit ihren Versuchsreihen zu tun. Und der Chef war an diesen Tagen in Texas bei einem Symposium.«

Green zog die Fotografin vom Stuhl hoch. »So, jetzt zeigen Sie mir mal seinen Schreibtisch. Und die übriggebliebenen Ordner, okay?«

Sie öffnete die Tür und winkte ihn hinter sich her. Einige Türen weiter rechts blieb sie stehen. »Hier ist es, der erste Schreibtisch rechts. Und sehen Sie, da oben auf den Regalen? Nur noch zwei Ordner, sonst nur Kataloge und Preislisten von Biochemica-Firmen.«

In der Tat, zwei Ordner. Green überlegte. Wie nun, wenn sich das Mädel einfach nur wichtig tun wollte? Allerdings machte sie nicht den Eindruck. Idwood zog einige Schubladen des Schreibtisches auf. Lauter Kleinkram, Stifte, Hefter, Radiergummi, Lineale, ein Stapel entwickelte Röntgenfilme.

Auf dem Schreibtisch lag auch nicht viel herum, und schon gar nichts, was ihn jetzt interessiert hätte. An der Wand hinter der Arbeitsplatte hing ein Kalender, den irgendeine der Firmen als Werbegeschenk geschickt hatte. Offensichtlich hatte Kossoff ihn aber mehr zum Bemalen genutzt, denn direkt davor stand ein Telefonapparat. Green kannte diese Marotte; er kritzelte beim Telefonieren auch dauernd auf irgendwelchem Papier herum, notierte Telefonnummern und schrieb dringende Notizen in unleserlicher Schrift mitten in das bereits Gemalte. Der Tote schien ein ebenso engagierter Kritzler gewesen zu sein.

Er wandte sich wieder Katie Pafka zu. »Schön und gut, Lady, aber was bedeutet das alles? Wer könnte denn mit Charles' Protokollen irgend etwas anfangen?«

Ihre Antwort aber hörte Green gar nicht mehr, denn in der oberen linken Ecke des Wandkalenders hatte er eine Telefonnummer entdeckt, die in ihm eine Erinnerung wachrief.

00.353 61 4844. Davor standen zwei Buchstaben. IL.

Der Engländer starrte gebannt auf die Ziffern. 00.353 war die Vorwahl von Irland.

Hatte Sam O'Brien nicht gesagt, daß Kossoff zwischen Imperial College und Yale bei einem kommerziellen Labor gearbeitet hatte, und zwar wahrscheinlich in Irland? Vielleicht war das die Telefonnummer dieses Ladens.

Aber das konnte man ja herausfinden.

»Haben Sie eine Kamera mit Dokumentenfilm griffbereit?«

Die Fotografin blickte ihn verständnislos an. »Ja, sicher. Aber …«

»Holen Sie sie bitte«, unterbrach Green. »Ich brauche ein Foto dieses Kalenders.«

»Ja, aber wieso …?«

»Nun machen Sie schon, ich erklär's Ihnen gleich!«

Zwei Minuten später war sie mit der Kamera wieder da. »Den ganzen Kalender?« fragte sie.

Green nickte. »Und zwar so scharf wie möglich!«

»Das versteht sich von selbst«, meinte die Fotografin, während sie mehrmals den Auslöser betätigte.

»Schön, schön«, lobte Idwood. »Und jetzt geben Sie mir den Film. Ich entwickle ihn in England.«

»Würden Sie mir erklären, was Sie damit bezwecken?«

Er nickte. »Da sind möglicherweise einige interessante Telefonnummern verewigt.« Plötzlich fiel ihm etwas ein. Was war er doch für ein Idiot! Wenn Charles Kossoff der kleinen Fotografin so nahegestanden hatte, daß er ihr Einblick in sein Familienfotoalbum gewährt hatte, mußte er ihr doch auch erzählt haben, in welchem Labor er vor Yale gewesen war.

»Ms. Pafka, hat Ihnen Charles gesagt, wo er geforscht hat, bevor er hierhergekommen ist?«

»Sicher«, nickte die junge Frau, während sie dem Engländer die Filmrolle in die Hand drückte. »Er war in der Abteilung für Molekulare Virologie des Imperial College in London.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist er also von London aus direkt hierhergekommen?«

Sie nickte.

Alle Wetter, dachte Green, manchmal läuft der Hase ganz anders, als man denkt. Er fuhr sich mit der Hand über den Stoppelbart. Warum hatte Kossoff ihr verschwiegen, daß er zwischendurch woanders gewesen war?

»Ich glaube, Sie haben recht, Ms. Pafka. Irgendwas ist hier faul. Aber ich werde versuchen herauszufinden, was.« Er griff in die Tasche, holte einen Kugelschreiber hervor, griff sich ein Blatt von Kossoffs Schreibtisch und notierte die Nummer seines Postfachs in der Londoner Hauptpost und die dazu gehörende korrekte Anschrift.

»Falls Ihnen noch etwas ein- oder auffallen sollte, schreiben Sie mir einen Expreßbrief an dieses Postfach in London, haben Sie verstanden? Und passen Sie auf sich auf! Ich muß heute abend wieder zurück nach England.«

»Was hat das alles zu bedeuten, Mr. Green? Ein Postfach. Keine Privatadresse, keine Telefon- oder Faxnummer? Wer sind Sie, Mr. Green, und was ist hier vorgefallen?«

Der Engländer faßte sie an den Oberarmen. »Ich hoffe, ich kann Ihnen auf beide Fragen bald eine Antwort geben. Bis dahin kann ich Sie nur bitten, Vertrauen zu mir zu haben.«

Katie Pafka musterte ihn lange. Dann atmete sie tief durch. »Ich werde es versuchen … ich werde es versuchen.«