Kapitel 3
Erstmals kündigte die Realität ihre Einmischung in sein Leben in Gestalt eines Briefumschlages an, dessen Rückseite ein Wappen zierte. Es zeigte einen Greif. Zumindest hielt Waiden ihn dafür, obwohl er verdächtig nach einem Geier aussah. Da er den Umschlag in seinem Fach in der Fakultät gefunden hatte, nahm er zunächst an, er sei versehentlich dorthin geraten. Aber nein, er war an Professor Waiden Yapp adressiert und enthielt einen auf ebenfalls wappenversehenem Papier mit der Maschine geschriebenen Brief, in dem es hieß, Lord Petrefact würde sich am kommenden Wochenende in Fawcett House aufhalten und es begrüßen, wenn Professor Yapp ihn dort besuchen würde. Er wolle sich mit ihm darüber unterhalten, ob er eine Möglichkeit sähe, »die Familiengeschichte der Petrefacts mit besonderer Betonung der Rolle, die diese Familie im Wirtschaftsleben des Landes spiele, zu schreiben«.
Ungläubig starrte Yapp auf den letzten Satz. Er wußte nur zu gut, welche Rolle die Familie Petrefact im englischen Wirtschaftsleben spielte. Eine bemerkenswert üble. Eine Unzahl von Fabriken, Bleiwerken, Spinnereien, Gießereien und Schiffswerften kämpften in seinem Kopf um den ersten Platz in puncto Niederträchtigkeit. Wo immer die Arbeit am billigsten, die Arbeitsbedingungen am miserabelsten und die Gewinne am höchsten waren, hatten die Petrefacts die Hand im Spiel. Und da forderten sie ausgerechnet ihn auf, die Familiengeschichte zu schreiben? In Anbetracht der Tatsache, daß er ihre Rolle als Ausbeuter der Arbeiterklasse mindestens in zweien seiner Fernsehspiele erwähnt hatte, erschien diese Einladung äußerst seltsam. Ungefähr so seltsam wie die Vorstellung, daß die Rockefellers Angela Davis aufforderten, etwas über ihre Rolle bei der Rassenverständigung zu Papier zu bringen. Sogar noch seltsamer. Sie war einfach absurd. Mit der Vermutung, daß sich ein Witzbold, der irgendwie an das Briefpapier mit dem Wappen der Petrefacts herangekommen war, einen Scherz erlaubt hatte, ging Yapp in den Hörsaal, wo er eine selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich grausige Darstellung des Streiks der Streichholzarbeiter lieferte.
Doch als er in sein Zimmer zurückkehrte, lag der Brief noch immer auf dem Schreibtisch, und der Greif sah noch mehr nach einem Geier aus. Einen Augenblick lang erwog Waiden Yapp, die Sache mit dem Computer zu erörtern, als ihm einfiel, daß der schließlich von Lord Petrefact gestiftet worden und sein Urteilsvermögen aufgrund dessen möglicherweise getrübt war. Nein, er mußte sich selbst ein Urteil bilden. Und so griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Fawcett House. Daß sich ein Mann meldete, der sich als Tiefkühlkostkontrolleur der Firma Mietmensch KG ausgab und behauptete, er sei nicht in der Lage, Lord Petrefact von einem Kabeljaufilet zu unterscheiden, falls er ihn zu Gesicht bekäme, trug wenig zu seiner Beruhigung bei. Auf seinen zweiten Anruf hin antwortete eine Stimme, die vor Abscheu so troff, daß man annehmen mußte, daß ihr Besitzer den Hörer mit einer sterilen Pinzette festhielt und durch einen keimfreien Mundschutz sprach. Ja, konzidierte die Stimme, Lord Petrefact hielte sich derzeit hier auf, dürfe aber auf keinen Fall gestört werden. »Ich möchte mich nur vergewissern, daß er mich eingeladen hat«, sagte Yapp. Die Stimme meinte, dies sei in der Tat der Fall, ließ aber spüren, daß, was sie betraf, die Anwesenheit von Professor Yapp in Fawcett House etwa so willkommen war wie ein grippaler Infekt.
Endlich überzeugt, daß der Brief doch echt war, legte Yapp den Hörer auf. Unhöflichkeit vom Kaliber dieser arroganten Stimme paßte nicht zu einem Scherzbold. Wenn Lord Petrefact glaubte, er könnte Waiden Yapp ungestraft wie einen armseligen Fabrikarbeiter behandeln, hatte er sich geschnitten. Und wenn er sich auch nur eine Sekunde lang einbildete, daß eine von Waiden Yapp geschriebene Familiengeschichte eine Lobeshymne auf eine Familie würde, die sich mit dem Elend einfacher und anständiger Arbeiter ein Vermögen erworben hatte, dann würde er erleben, was echte Klassensolidarität bedeutete. Um ganz sicher zu gehen, daß sich Lord Petrefact nicht in Illusionen wiegte, setzte sich Yapp an seine elektronische Schreibmaschine und entwarf einen Brief, in dem er die Einladung annahm, gleichzeitig aber ebenso arrogant wie die Stimme am Telefon klarstellte, daß ihm die Vorstellung, im Haus eines kapitalistischen Blutsaugers zu Gast zu sein, mißfiel. Anschließend speicherte er diesen Brief in seiner persönlichen Datei im Computer ab – um sich gegen den Vorwurf abzusichern, er würde sich nicht strikt an seine Prinzipien halten –, überlegte es sich dann jedoch anders und schickte ein kurzes Telegramm, in dem er sein Kommen für Samstag ankündigte. Wenn dieses Angebot wirklich ernst gemeint war und er die schriftlichen Dokumente, die Hauptbücher und die Aufzeichnungen der Petrefacts aus ihrer allerschlimmsten Ausbeuterzeit in die Hände bekam, dann würde er ihre Machenschaften derart gründlich aufdecken, daß ihr Name selbst in kapitalistischen Kreisen zu stinken anfangen würde. Lord Petrefact nahm das Telegramm mit sichtlichem Vergnügen auf.
»Ausgezeichnet. Ganz ausgezeichnet«, sagte er zu Croxley, dessen Stimme seine Ansicht über Yapps Besuch bereits kundgetan hatte, »er hat den Köder geschluckt.«
»Köder?« fragte Croxley. Er hatte sich einmal zehn recht unbehagliche Minuten lang eine Episode von Probieren geht über Studieren angesehen. Anschließend hatte er versucht, die Erinnerung daran auszulöschen, indem er untypischerweise zu den Top Ten umschaltete.
Lord Petrefact drückte den Express-Knopf an seinem Rollstuhl und wirbelte überschwenglich im Kreis herum. Hätte diese verdammte Auster nicht seinen gesamten Stoffwechsel durcheinandergebracht, hätte er einen Freudentanz aufgeführt. »Köder, mein lieber Croxley, Köder. Jetzt müssen wir die Netze auslegen. Müssen dem Kerl anständig den Mund wäßrig machen. Was, glauben Sie, würde ihm denn zum Dinner schmecken?«
»Wenn ich von dem widerlichen Zeug ausgehe, das er proklamiert, dann würde ich sagen, Schweinsfüße von einem unterernährten Ferkel und danach Magermilch mit vier Wochen altem Brot.«
Lord Petrefact schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nichts dergleichen. Schließlich müssen wir doch seine Vorurteile schüren. Sie müssen sich klarmachen, mein lieber Croxley, daß wir Plutokraten es uns erstaunlich gut gehen lassen. Um Yapps Vorstellung gerecht zu werden, brauchen wir wenigstens ein achtgängiges Menü.«
»Ich schlage vor, wir beginnen mit Austern«, meinte Croxley, der es nicht leiden konnte, wenn man ihn mit zu den Plutokraten zählte.
Lord Petrefact jaulte auf. »Sie können damit beginnen. Ich ganz bestimmt nicht. Nein, ich denke, wir beginnen mit echter Schildkrötensuppe, die in einem Schildkrötenpanzer serviert wird. Er hat ziemlich sicher einen Hang zum Naturschützer, so daß ihm das erst mal eine Denkpause verschaffen wird.«
»Ich fürchte, daß das den Mietmenschen in der Küche auch eine Denkpause verschafft«, meinte Croxley. »Wo zum Teufel sollen die denn eine echte Schildkröte herbekommen ...«
»Von den Galapagos-Inseln«, sagte Lord Petrefact. »Sie können eine einfliegen lassen.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Croxley. Er würde dem Küchenchef Anweisung geben, irgendwo einen Schildkrötenpanzer aufzutreiben und ihn mit Suppe aus der Dose zu füllen. »Und danach?«
»Eine große Portion Kaviar, echten Beluga-Kaviar, nicht etwa Ihren windigen Ersatz.«
»Das ist nicht meiner«, entgegnete Croxley, »und außerdem kommt Beluga-Kaviar aus Rußland. Wahrscheinlich akzeptiert er den sogar.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Es kommt nur darauf an, ihm den Eindruck zu vermitteln, daß wir jeden Abend so speisen.«
»Ein Glück, daß dem nicht so ist«, sagte Croxley. »Irgendeinen bestimmten Wein dazu?«
Lord Petrefact dachte einen Augenblick nach. Schließlich entschied er sich für Château d'Yquem.
»Guter Gott«, jammerte Croxley, »das ist doch ein Dessertwein. Er ist zuckersüß, und zum Kaviar ...«
»Natürlich ist er süß. Genau das ist der springende Punkt. Anscheinend sind Sie sich nicht darüber im klaren, daß unsere Vorfahren zu jedem verdammten Gang süßen Wein tranken.«
»Meine nicht. Die waren vernünftiger. Gaben sich mit einem Bier zufrieden.«
»Meine nicht. Sie brauchen sich bloß die Speisenfolge anzusehen, die sie anläßlich eines Besuchs des Prinzen von Wales im Jahr 1873 aufgetischt haben.«
»Lieber nicht. Diese Leute müssen eine Konstitution wie Ochsen gehabt haben.«
»Kümmern Sie sich nicht um ihre Konstitution«, sagte Lord Petrefact, der fast ebenso ungern an seine Ahnen erinnert werden mochte, wie sich Croxley als Plutokrat einstufen ließ. »Weiter werden wir Spanferkel ...«
»Spanferkel?« fragte Croxley. »Unten in der Küche hockt eine Spezialfirma für tiefgekühlte Fertigkost, und wenn Sie glauben, daß die im Handumdrehen ein gefrorenes Spanferkel aus der Kühltruhe zaubern können ...«
»Hören Sie, Croxley, wenn ich sage, ich wünsche Spanferkeldann meine ich auch Spanferkel. Arme kleine Dinger, werden von den Zitzen ihrer Mütter weggerissen und ...«
»Jawohl, Sir«, unterbrach Croxley ihn rasch, um den schauerlichen Exkurs, den er auf sich zukommen sah, abzublocken. »Also gut, Spanferkel.«
»Nicht einfach Spanferkel. Ich will eines mit einem Apfel im Rüssel.«
Croxley schloß die Augen. Lord Petrefacts morbides Interesse an den Details eines Spanferkels war fast so unangenehm wie die Aussicht auf dieses Abendessen. »Und was für ein Dessert, Sir?« fragte er hoffnungsfroh.
»Dessert? Doch jetzt noch nicht. Ein achtgängiges Menü hat acht Gänge. Also, nach dem gebratenen Spanferkel dringen wir, denke ich, in höhere Gefilde vor.«
Er schwieg, während Croxley ein stummes Gebet zum Himmel schickte. »Geflügelpastete«, sagte Lord Petrefact schließlich, »eine große Portion Geflügelpastete. Die wird den Höhepunkt bilden.«
»Sollte mich nicht wundern«, meinte Croxley. »Wenn Sie mich fragen, dieser Yapp wird um sein Leben rennen müssen, wenn Sie beim Spanferkel angelangt sind ...«
»Ich werde einen großen Bogen um dieses verdammte Schwein machen«, unterbrach Lord Petrefact ihn wütend, »das wissen Sie ebensogut wie ich. Meine Verdauung würde da nicht mitmachen, und außerdem haben mir die Ärzte strengste Diät verordnet.«
»Sehr wohl, Sir. Eine Portion Geflügelpastete.«
»Zwei«, korrigierte Lord Petrefact. »Eine für Sie und eine für ihn. Und reichlich. Ich freue mich schon auf das herrliche Aroma.«
»Ja, Sir«, sagte Croxley nach kurzer, stummer Zwiesprache mit sich selbst. Er hatte den Einwand erwogen, daß es den Tiefkühlkostkünstlern in der Küche ebenso schwerfallen dürfte, ihre Geflügelprodukte in der gewünschten Dicke herzustellen, wie ein Spanferkel aufzutreiben. Aber er schwieg weiter. »Und sorgen Sie dafür, daß ihnen die Schwänze abfallen«, fuhr Lord Petrefact fort.
»Die Schwänze?«
»Die Schwänze. Fasane hängt man auf, bis ihre Schwänze abfallen.«
»Lieber Himmel«, seufzte Croxley, »bringen Sie da nicht was durcheinander? Ich denke doch, daß Fasane kaum Schwänze ...«
»Schwanzfedern, Sie Trottel. Die Vögel müssen so angegammelt sein, daß einem die Schwanzfedern in der Hand bleiben. Jeder anständige Koch weiß das.«
»Wenn Sie es sagen«, meinte Croxley, der an dieser Stelle endgültig beschloß, dafür zu sorgen, daß die Kühlkostfirma die Geflügelpastete einfach vergaß.
»Gut. Wie viele Gänge haben wir jetzt?«
»Sechs«, resümierte Croxley.
»Vier«, sagte Lord Petrefact unerbittlich. »Nach der Pastete, denke ich, gibt es Zabaglione mit Champagnergeschmack und anschließend überbackene Gorgonzolaschnittchen ...« Während Croxley die Anweisungen aufschrieb, gab er sich Mühe, seine Phantasie zu zügeln. »Und wo soll Professor Yapp zu schlafen versuchen?« fragte er schließlich. »Im Nordflügel. Stecken Sie ihn in die Suite, die der König von Belgien 1908 bewohnt hat. Das sollte seine historische Phantasie etwas aufwühlen.«
»Ich bezweifle, daß ihm nach diesem Dinner noch viel Zeit für seine historische Phantasie bleibt«, sagte Croxley. »Ich würde ihn etwas näher beim Reanimationsteam unterbringen.« Lord Petrefact fegte seinen Einwand beiseite. »Das Schlimme an Ihnen ist, daß Sie überhaupt keine Phantasie habenCroxley.«
Croxley hatte, war aber klug genug, es nicht zu sagen. »Phantasie, Croxley, das ist es, was einen großen Mann ausmacht. Wir haben da diesen Yapp, und wir wollen was von ihm, also ...«
»Was denn?«
»Was soll das heißen: was denn?«
»Was in drei Teufels Namen sollten ausgerechnet wir von einem verrückten sozialistischen Radikalen wie Yapp wollen?«
»Kümmern Sie sich nicht darum, was wir von ihm wollen«, sagte Lord Petrefact, der die Ergebenheit seines Sekretärs der Familie gegenüber zu sehr schätzte, um einen ernsthaften Streit zu provozieren. »Tatsache ist, daß wir etwas wollen. Ein Mann ohne Phantasie würde nun davon ausgehen, daß es das beste sei, ihm das Anliegen geradeheraus vorzutragen. Wir wissen, daß er ein extremer Linker ist und uns als Kapitalistenschweine betrachtet. Dagegen können wir nichts unternehmen. Also müssen wir unsere Rolle spielen und ihn bei seiner Eitelkeit packen. Haben Sie das verstanden?«
»Durchaus, Sir«, sagte Croxley, der gar nichts verstanden hatte, außer daß er mit Sicherheit bald eine Magenkolik bekommen würde, wenn er sich nicht umgehend mit den Kühlkostkerlen verständigte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt und kümmere mich um die Vorbereitungen.« Er eilte aus dem Zimmer. Lord Petrefact drückte auf den Knopf am Rollstuhl, rollte hinüber zum Fenster und schaute mißbilligend in den Garten hinunter, den sein Großvater so penibel angelegt hatte. »Zwerg auf dem Misthaufen« hatte ihn das alte Scheusal genannt. Jetzt war der Zwerg das Oberhaupt dieses familiären Misthaufens und auf dem besten Weg, das Ansehen der Familie, die ihn von jeher verachtet hatte, zu zertrümmern. Auf seine Art haßte Lord Petrefact diese Familie fast so glühend wie Waiden Yapp, wenn auch aus persönlicheren Gründen.