Kapitel 23

Sie war nicht die einzige, der sonderbar zumute war. Auch für Lord Petrefact hatte sich die Situation gravierend verändert. Während er auf die Rückkehr seiner Verwandtschaft wartete, hatte er Croxley mit abscheulichen Erinnerungen an seine versaute Kindheit und an seine Ferien im New House ergötzt, hatte voll genüßlicher Schadenfreude berichtet, wie er mit dem Luftgewehr auf einen Gärtnergehilfen geschossen hatte, während sich der Kerl über die Zwiebeln beugte, und wie er da drüben im Fischteich den Lieblingspekinesen seiner Tante ersäuft hatte. Als die Familie schließlich eintraf, setzte Lord Petrefact zur Begrüßung sein widerlichstes Gesicht auf, mußte aber zu seiner Überraschung feststellen, daß seine Haßgefühle nicht erwidert wurden.

»Mein lieber Ronald, wie schön, sich mit eigenen Augen davon überzeugen zu können, daß es dir gutgeht«, sagte der Richter mit noch nie dagewesener Gutmütigkeit, und bevor sich Lord Petrefact von diesem Schock erholen konnte, wurde er von äußerst beunruhigender Jovialität überrollt. Osbert, der bei mehr als einer Gelegenheit geäußert hatte, daß er, wenn es nach ihm ginge, Ronald am liebsten wie eine Sau abschlachten würde, strahlte ihn förmlich an.

»Exzellente Idee, die du da hattest, so eine Familiengeschichte schreiben zu lassen«, dröhnte er. »Ich möchte nur wissen, warum nicht eher jemand darauf gekommen ist.«

Sogar Rändle verströmte ein Wohlwollen, in dessen Genuß sonst nur seine Wüstenrennmäuse und siamesischen Katzen kamen.

»Gut siehst du aus, Ronald, du strotzt ja vor Gesundheit«, murmelte er, während Fiona ihren Widerwillen gegen Männer unterdrückte und ihn auf die Wange küßte. Einen panischen Augenblick lang konnte Lord Petrefact daraus nur den Schluß ziehen, daß es um seine Gesundheit sehr viel schlechter bestellt war, als er glaubte, und daß die ungewohnte Herzlichkeit, mit der er überschüttet wurde, ein Vorzeichen seines nahenden Todes sein mußte. Als Croxley ihn, vom Rest der Familie liebevoll umringt, ins Haus hinein und in den Salon rollte, mobilisierte Lord Petrefact seine ganzen Haßgefühle. »Es geht mir nicht gut«, schnaubte er. »Tatsache ist, daß es um meine Gesundheit miserabel steht, aber ich kann euch versichern, daß ich nicht die Absicht habe, euch zuliebe abzukratzen. Dazu bin ich zu sehr an unserer Familiengeschichte interessiert.«

»Wir ebenso«, sagte der Richter, »das ist gar keine Frage.« Ringsum erhob sich zustimmendes Gemurmel. Lord Petrefact fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Zustimmung war das letzte, was er erwartet oder gewollt hatte. »Und ihr habt nichts dagegen, daß Professor Yapp daran arbeitet?«

Eine Sekunde lang glaubte Lord Petrefact ein winziges Zögern zu bemerken, als der Richter seine Hoffnungen auch schon enttäuschte. »Wie ich höre, ist er so eine Art Radikaler«, sagte er, »aber ich bin ziemlich sicher, daß sein Gebell schlimmer ist als sein Biß.«

Lord Petrefact neigte dazu, ihm recht zu geben. Wenn Yapps Anwesenheit in Buscott nicht mehr bewirkt hatte als diese bizarre Freundlichkeit seitens der Familie, dann hatte er überhaupt nicht gebissen. »Und ihr seid alle damit einverstanden, daß er uneingeschränkten Zugang zur Familienkorrespondenz erhält?«

»Ich wüßte nicht, wie er das Buch ohne diese Informationen anständig schreiben könnte«, meinte Rändle. »Und ich bin überzeugt, daß es sich auch gut verkaufen wird. Unser Osbert hat mich gerade an die Geschichte erinnert, wie Onkel Oswald den japanischen Vertrag für das Schwimmdock an Land gezogen hat. Offenbar hat er Tante Georgette überredet, eines Abends auf dem Rückweg vom Klo in das Zimmer des zuständigen Schlitzauges zu schlüpfen und ...« Lord Petrefact hörte sich die Geschichte mit zunehmender Besorgnis an. Wenn Rändle bereit war, solches Zeug veröffentlichen zu lassen, dann war er zu allem bereit. Wieder flackerte bei Lord Petrefact der dunkle Verdacht auf, daß man ihn hinterging. Und um die Probe aufs Exempel zu machen, zog er aus dem Sumpf des Familienklatsches das übelste Gewächs, das er finden konnte. »Was ist mit Simeon Petrefacts Vorliebe für Ziegen?« fragte er.

»Wie ich gehört habe, mochte er sie am liebsten tot«, sagte Osbert. »Frisch geschlachtet und noch warm.« Lord Petrefact starrte ihn an. An seinen mageren Händen, die die Lehne des Rollstuhls umklammerten, traten die Knöchel weiß hervor. Irgend etwas war total schiefgelaufen. Oder sie versuchten nur, ihn bei Laune zu halten, weil sie hofften, daß er die Veröffentlichung von Yapps skurriler Geschichte gar nicht mehr erleben würde. Aber diese Hoffnung konnten sie begraben. »Nachdem ihr ja nun alle eure Zustimmung gegeben habt, wäre es vielleicht das beste, einen neuen Vertrag mit Professor Yapp zu schließen, einen Familienvertrag, den ihr alle unterschreibt und in dem ihr ihm vorbehaltlosen Zugang zu allen Dokumenten und Informationen zusichert, die er benötigt.« Wieder rechnete er mit Widerspruch, aber der Richter versprühte noch immer Jovialität, und die anderen wirkten ebenso ungerührt wie zuvor.

»Also, Purbeck, wie lautet deine Antwort?« fragte er brüsk mitten in dieses irritierende Lächeln hinein. Aber diesmal war es eine andere Stimme, die ihm antwortete. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß Professor Yapp noch sehr viel Gelegenheit haben wird, seine Nachforschungen über die Familie fortzusetzen, mein lieber Ronald.« Wütend riß Lord Petrefact den Kopf herum. Unter der Tür stand Emmelia und lächelte. Aber im Gegensatz zum jovialen Lächeln der anderen spiegelte sich in dem ihren Triumph und boshafte Schadenfreude.

»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte er, so drohend ihm das in seiner verqueren Stellung möglich war. Emmelia schwieg. Wie sie so dastand und lächelte, strahlte sie eine Gelassenheit aus, die in gewisser Weise noch besorgniserregender war als der Empfang der Familie. »Beantworte meine Frage, verflucht noch mal«, schrie Lord Petrefact. Und da er seinen Kopf nicht länger in der verrenkten Stellung halten konnte, wandte er sich wieder dem Richter zu. Purbecks Gesichtsausdruck war wenig aufschlußreich. Er sah Emmelia ebenso verblüfft an wie zuvor Lord Petrefact. Und die anderen ebenfalls.

Schließlich wiederholte der Brigadegeneral seine Frage. »Äh ... also, ich meine ... was soll das heißen?« Aber Emmelia ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie ging zur Klingel hinüber und läutete. »Jetzt wollen wir uns erst mal alle hinsetzen, und ich sage Annie, daß sie uns Tee bringen soll«, meinte sie, während sie Platz nahm wie jemand, der ein belangloses gesellschaftliches Beisammensein arrangiert hat. »Wie nett von dir, daß du gekommen bist, Ronald. Ohne dich wären wir ziemlich hilflos gewesen. Ah, Annie, Sie können den Tee heute hier servieren. Es sei denn ...«, sie machte eine vielsagende Pause und wandte sich dann an Lord Petrefact, »es sei denn, du hättest gern etwas Stärkeres.«

»Weshalb denn, zum Teufel? Du weißt verdammt gut, daß die Ärzte mir verboten haben ...«

»Dann einfach nur Tee, Annie«, unterbrach ihn Emmelia und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Man neigt fast dazu, deine Leiden zu vergessen, mein lieber Ronald. Für einen Achtzigjährigen siehst du wirklich großartig jugendlich aus.«

»Ich bin noch keine verdammten ...«, begann er, bevor er merkte, daß das nur ein Köder gewesen war. »Kümmere du dich nicht um mein Alter, sondern sag mir lieber, warum du dir verdammt noch mal einbildest, Professor Yapp würde die Familiengeschichte nicht schreiben.«

»Weil er, mein lieber Ronald«, sagte Emmelia, die die Spannung sichtlich genoß, »allem Anschein nach ... nun, wie soll ich es ausdrücken? ... Sagen wir einfach, daß er mehr Zeit zur Verfügung hat, als ihm ...«

»Zeit zur Verfügung? Was zum Teufel soll dieses Gefasel? Natürlich hat er Zeit zur Verfügung. Sonst hätte ich ihn wohl kaum engagiert.«

»Nicht ganz die Zeit, die du dir vorstellst. Ich glaube, man könnte auch sagen, er brummt.«

Lord Petrefact stierte sie verständnislos an. »Brummt?«

»Brummt. Wenn ich recht informiert bin, so ist das der volkstümliche Ausdruck für ›eine Gefängnisstrafe absitzen‹. Purbeck, du mußt das doch wissen.«

Der Richter nickte ausdruckslos.

»Du meinst also, daß dieser verdammte Yapp ...«, begann Rändle, aber Emmelia hob die Hand.

»Professor Yapp ist verhaftet worden«, sagte sie und glättete ihren Rock in der düsteren Gewißheit, daß sie Lord Petrefacts Blutdruck in den kritischen Bereich hinauf drückte. »Verhaftet?« gurgelte er. »Verhaftet? Mein Gott, dann habt ihr ihn also aus dem Rennen gezogen.«

Emmelias Lächeln war verschwunden. »Wegen Mord«, zischte sie, »und außerdem weißt du ganz genau, daß ich mich nicht bei Pferderennen herumtreibe und ...«

»Ist doch scheißegal, wo du dich herumtreibst«, brüllte Lord Petrefact. »Wen zum Teufel soll er denn ermordet haben?«

»Einen Zwerg. Einen armen, kleinen Zwerg, der niemandem etwas zuleide getan hat«, sagte Emmelia, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und verlieh ihren Worten sentimentalen Nachdruck, indem sie sich die Augen abtupfte. Lord Petrefact war zu perplex, um das überhaupt zu bemerken. In Gedanken war er zu jenem schrecklichen Abend in Fawcett zurückgekehrt, an dem Yapp dieses auffallende Interesse an verkrüppelten Dingen und besonders an Zwergen an den Tag gelegt hatte. Wie hatte der Schweinehund sie doch gleich genannt? Perks? Irgend so was. Und jetzt war dieser Irre hingegangen und hatte einen ermordet. Lord Petrefact zweifelte nicht eine Sekunde daran. Schließlich hatte er das Schwein ja genau deshalb nach Buscott geschickt, weil er das Talent besaß, auf Schritt und Tritt Verwüstungen anzurichten. Aber Zwerge kaputtzumachen war denn doch etwas anderes. Das würde einen Prozeß bedeuten, bei dem Yapp in den Zeugenstand treten müßte und sagen würde ... Bei diesem Gedanken schauderte Lord Petrefact. Der Familie mit unerwünschter Publicity zu drohen war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, wenn man persönlich dafür verantwortlich gemacht wurde, einen Zwergenkiller angeheuert zu haben ... Gewaltsam drängte er diesen Gedanken zurück und schaute zu Emmelia hinüber, aber ihr Blick verriet ihm, daß von dieser Seite keinerlei Trost zu erwarten war. Jetzt plötzlich paßte auch alles zusammen. Kein Wunder, daß sich die ganze Familie so über sein Kommen gefreut hatte und so bereitwillig in Sachen Familiengeschichte kooperieren wollte. Als Lord Petrefact aus seinen schrecklichen Gedankengängen wiederauftauchte, wandte er sich den anderen zu.

»Das hätte ich mir denken können«, brüllte er heiser. »Von allen verfluchten Erzschweinen seid ihr die allerschlimmsten! Nein, glaubt bloß nicht, daß ich schon fertig bin. Ich bin ...«

»Ich wünschte, du wärest es«, fuhr Emmelia scharf dazwischen. »Es ist einfach ermüdend, sich dein Geschimpfe anzuhören, zumal du die Schuld einzig und allein bei dir selbst suchen mußt. Du hast uns diesen ungeheuerlichen Menschen auf den Hals gehetzt, ohne dich vorher mit mir abzusprechen. Purbeck hast du auch nicht gefragt. Ebensowenig Rändle und ...«

Jetzt schnitt Lord Petrefact ihr das Wort ab. »Croxley, zurück zum Wagen. Ich bleibe keine Minute länger in diesem Haus.«

»Und was wird aus deinem Tee, mein lieber Ronald?« fragte Emmelia zuckersüß. »Es kommt so selten vor, daß die ganze Familie versammelt ist, und ...«

Doch Lord Petrefact war schon draußen. Die Räder seines Rollstuhls knirschten auf dem Kies, und schweigend saß die Familie da, bis der Leichenwagen davonfuhr. »Stimmt das denn, Emmelia?« fragte der Richter. »Aber natürlich«, entgegnete sie und zog die Bushampton Gazette aus der Handtasche. Bis alle den Bericht gelesen hattenbrachte Annie auch den Tee.

»Also, ich muß schon sagen, daß das eine gnädige Wendung des Schicksals ist«, meinte der Brigadegeneral mit einem tiefen Seufzer. »Damit wäre Ronald also gestoppt. Ich verwette meinen guten Ruf darauf, daß er keine Ahnung hat, was in der Mühle vorgeht. Seit er damals erfahren hat, daß Tante Mildred ihn in ihrem Testament übergangen hat, habe ich ihn noch nie so außer sich gesehen.«

»Ich neige dazu, dir recht zu geben«, meinte der Richter. »Aber Ronald ist nicht der einzige, an den wir jetzt denken müssen. Entscheidend ist doch, ob dieser Mörder Yapp etwas über die Mühle weiß. Sollte er die Sache vor Gericht zur Sprache bringen ...«

»Ich wage doch anzunehmen, daß du deinen Einfluß dahingehend geltend machen wirst, daß er das nicht tut«, sagte Emmelia.

»Ja ... schon ...«, murmelte der Richter. »Natürlich wird man tun, was man kann.« Er hob die Tasse hoch und nippte nachdenklich an seinem Tee. »Nichtsdestoweniger wäre es nützlich zu wissen, ob er die Mühle in seiner Aussage irgendwie erwähnt hat. Vielleicht ließe sich das ja irgendwie feststellen.« Während Yapp an jenem Abend – dem ersten von vielen – in seiner Zelle lag und krampfhaft versuchte, hinter all diesem Horror und Chaos einen logischen Grund für sein Hiersein zu erkennen, sich dieses aber nur mit einer unglaublichen Verschwörung erklären konnte, versammelten sich die Petrefacts im New House um den riesigen Eßtisch und setzten eben jenen Prozeß in Gang, der seine Theorie rechtfertigen sollte.

»Ich hätte gedacht, es müßte dir ein leichtes sein festzustellen, ob dieser Yapp in seiner Aussage etwas von den Vorgängen in der Mühle erwähnt hat«, sagte der Richter zu Emmelia. Aber diesmal zeigte Emmelia ausnahmsweise keinerlei Interesse an den Sorgen der Familie. »Du kannst ja Frederick fragen. Um diese Zeit ist er mit Sicherheit im Arbeiterclub. Was mich betrifft, ich gehe jetzt zu Bett.«

»Wahrscheinlich hat sie einen schlimmen Schock weg«, meinte der Brigadegeneral, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. In gewisser Weise hatte er recht. Der Schock, entdecken zu müssen, daß die Familie, über die sie so lange ihre schützende Hand gehalten hatte, sie kaltblütig im Stich ließ und im Grunde nichts weiter war als ein Haufen erbärmlicher Feiglinge, hatte Emmelias Einstellung grundlegend verändert. Sie lag im Bett, horchte auf das von unten heraufdringende Stimmengemurmel und verspürte zum erstenmal in ihrem Leben eine gewisse Sympathie für Ronald. Sympathie war übertrieben, denn eigentlich war es eher die gemeinsame Verachtung für die restliche Familie; aber sie reichte aus, um als Zünglein an ihrer geistigen Waagschale den Ausschlag zu geben. Sollten die doch selbst mit dem Problem fertig werden! Sie hatte ihren Part gespielt, und von jetzt an würden die anderen eben den ihren spielen müssen.

Und vorübergehend taten sie das auch. Gegen elf Uhr traf Frederick mit der tröstlichen Nachricht ein, daß Yapps Aussage, wie ihm Sergeant Richey anvertraut hatte, dessen Frau für Plastikunterwäsche zuständig war, keinen anderen Hinweis auf die Fabrik enthielt als den, daß die Arbeiter dort ihren zweifellos kargen Lohn im Schweiße ihres Angesichts verdienen müßten. »Und du glaubst nicht, daß das ein unterschwelliger Hinweis auf diese mit Sämischleder gefütterten Höschen ist?« fragte Mrs. Van der Fleet-Petrefact, die insgeheim ein Faible für diese Dinger entwickelt hatte. »In denen schwitzt man doch auch ziemlich stark ...«

»Oder vielleicht auf den Thermalvibrator?« schlug ihr Mann vor.

Der Richter betrachtete Frederick mit unverhohlenem Abscheu. »Also?« fragte er, während er überlegte, ob er vielleicht gar eine Happy Susi trug.

»Ich glaube nicht«, sagte Frederick. »Immerhin ist sein Rechtsanwalt bei ihm gewesen und hätte sicher etwas gesagt, wenn Yapp Bescheid gewußt hätte.«

»Stimmt«, sagte der Richter. »Und wie heißt dieser Rechtsanwalt?«

»Rubicond, glaube ich, aber ich begreife nicht, was das mit der Sache zu tun hat.«

»Kümmere dich nicht um Dinge, die du nicht begreifst. Die Juristen sind eine Brüderschaft, und da genügt schon ein Wort ...« Nachdenklich nippte der Richter an seinem Portwein. »Also, wir müssen einfach auf das Beste hoffen und die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen lassen.«

Und die »Gerechtigkeit« nahm ihren Lauf. Am Montag wurde Yapp dem als Gerichtspräsident verkleideten Osbert Petrefact vorgeführt und zwei Minuten später wieder in seine Zelle zurückgeschickt. Am Dienstag verlieh Richter Petrefact anläßlich eines Urteils, das er über einen Pedell verhängte, weil dieser zwei Teenager unflätig beschimpft hatte (was gar nicht stimmte), seiner dezidierten Meinung Ausdruck, daß Gewaltakte gegen Untergebene und kleine Personen wie etwa Zwerge radikal unterbunden werden mußten, wenn Recht und Gesetz nicht völlig zusammenbrechen sollten. Der Pedell bekam zehn Jahre. Am schärfsten, anonym freilich, wurde Yapp von Lord Petrefacts Zeitungen verurteilt. Jede erschien mit einem Leitartikel, in dem darauf hingewiesen wurde, daß Zwerge eine gefährdete Spezies seien, eine Minderheit, deren Interessen nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die renommierteste Zeitung, The Warden, schrieb sogar, daß Personen restringierter Größe von seiten einer angeblich sozial eingestellten und fortschrittlichen Gesellschaft etwas Besseres verdienten, als als normale Männer und Frauen behandelt zu werden, und daß man ihnen deshalb kürzere Arbeitszeiten und Behindertenrente zugestehen sollte. Innerhalb von drei Tagen wurde sogar der Premierminister zum Thema Menschenrechte für Zwerge und EG-Bestimmungen hinsichtlich der Einteilung von Individuen nach Größenkriterien befragt. Und ein völlig unbekannter Liberaler hatte mit der Einbringung eines Gesetzentwurfs gedroht, der die größenproportionale Unterbringung im öffentlichen Verkehrswesen und im gesamten Unterhaltungsbereich gewährleisten sollte. Mit einem Wort: Man hatte der Öffentlichkeit derart massiv suggeriert, daß Willy Coppett von Professor Yapp ermordet worden war, daß es spontan zu einem in voller Länge vom Fernsehen übertragenen Protestmarsch von Zwergen kam, die Schutzmaßnahmen gegen Übergriffe durch Personen exzessiver Größe forderten, ihre Glaubwürdigkeit jedoch weitgehend dadurch einbüßten, daß sie ein Polizeikontingent in die Flucht schlugen, das abkommandiert worden war, um einen Zusammenstoß zwischen den marschierenden Zwergen und einem militanten Frauentrupp, der mit der Forderung »Abtreibung für Zwerge« auf die Straße ging, zu verhindern. In dem darauffolgenden Handgemenge erlitten mehrere Frauen Fehlgeburten, und ein halbwüchsiger Zwerg, der sich unter dem Rock einer hochschwangeren Frau verfangen hatte, wurde als vermeintliche Frühgeburt mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht.

Aber das war noch nicht alles. Hinter den Kulissen wurden allerhand zwielichtige Drähte gezogen, um Waiden Yapp in Mißkredit zu bringen und dafür zu sorgen, daß sein Prozeß so kurz wie möglich, seine Verurteilung gewiß und seine Haftstrafe lang sein würde und daß er in seiner Aussage die Familie Petrefact mit keinem Wort erwähnte. Mit Hilfe jener offenbar telepathischen Einflußnahme, die das gesamte englische Rechtswesen durchzieht, konnte Purbeck Petrefact Kronanwalt Sir Creighton Hore fernsteuern, der wiederum von Mr. Rubicond entsprechend präpariert war. Ehrenwerterweise wies der berühmte Anwalt das Angebot eines Richteramtes zurück, aber er verstand den Wink. Er war ohnehin bereits zu dem Schluß gelangt, daß es ein Akt juristischer Idiotie wäre zuzulassen, daß Yapp einem Kreuzverhör unterzogen würde. »Der Mann ist eindeutig total verrückt, und wir können uns ohne Schwierigkeiten auf den Fall ›Regina gegen Thorpe und andere‹ als Präzedenzfall berufen.«

»Könnten wir nicht einfach auf ›geisteskrank‹ plädieren?« fragte Mr. Rubicond.

»Wir könnten, aber unglücklicherweise übernimmt Broadmoor den Fall, und der wird sich mit keinem Beweis zufriedengeben, der hinter den McNaghten-Richtlinien zurückbleibt.«

»Aber die sind doch schon seit Jahren außer Kraft.«

»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen, mein Lieber.

Unglücklicherweise hat Lord Broadmoor aus unbekannten Gründen – und man kann nur annehmen, daß es sich in erster Linie um persönliche handelt – es noch nie akzeptiert, wenn sich jemand ›schuldig, aber geisteskrank‹ bekannte. Wir können von Glück sagen, wenn unser Klient mit Lebenslänglich davonkommt.«

»Es ist recht ungewöhnlich, daß man ausgerechnet Broadmoor diesen Fall übertragen hat«, meinte Mr. Rubicond naiv. Sir Creighton Hore behielt sein Wissen für sich. Doch die Auswirkungen gewisser Einflüsse reichten noch weiter. Nicht einmal an der Universität Kloone, wo Yapp einst so beliebt gewesen war, erweckte seine mißliche Lage sonderliches Mitgefühl. Auch das letzte Restchen Sympathie wurde durch eine erstaunlich großzügige Schenkung der Petrefact-Stiftung im Keim erstickt, mit der zwei neue Professoren bezahlt und das William-Coppett-Heim für Mikropersonen ins Leben gerufen wurde. Nur zwei ehemalige Kollegen unternahmen den halbherzigen Versuch, Yapp zu besuchen, doch der war zu niedergeschlagen, um irgendeinen Menschen aus jener Welt, die ihn so schmählich hatte fallenlassen, sehen zu wollen.

Außerdem war er drauf und dran, den Verlockungen eines neuen Dogmas zu erliegen: dem des Märtyrertums. Schon allein mit dem Wort verband man etwas Ehrenhaftes; aber vor allem schützte es ihn vor der erschreckenden Vorstellung, lediglich einem Irrtum zum Opfer gefallen zu sein. Alles lieber als das, denn wenn er sich erst gestattete, sich von der dem Zufall unterworfenen, chaotischen Natur des Daseins verführen zu lassen, würde er die über Jahre hinweg so sorgfältig gepäppelte Gewißheit einbüßen, daß die Geschichte ein Ziel verfolgte und daß das Glück der Menschheit letztlich sichergestellt war. Sobald er sich zum Gegenteil bekannte, lief er wirklich Gefahr, Mr. Rubiconds Ratschlag wörtlich zu nehmen und verrückt zu werden. Um diesem Schicksal zu entgehen, redete er sich beständig ein, daß man ihn in eine Falle gelockt habe.

Dementsprechend sah dann auch seine Argumentation aus. »Aber ich will ins Kreuzverhör genommen werden«, protestierte er, als ihm der Anwalt erklärte, daß man ihn nicht in den Zeugenstand rufen würde. »Nur so habe ich die Chance, die Wahrheit zu sagen.«

»Und unterscheidet sich die Wahrheit in irgendeiner Weise von der Aussage, die Sie gegenüber der Polizei gemacht und unterschrieben haben?« fragte Mr. Rubicond. »Nein«, erwiderte Yapp.

»Wenn das so ist, dann wird sie den Richtern und Geschworenen vorgelegt, und Sie ersparen es sich, die ganze Sache nur noch schlimmer zu machen. Wenn Sie natürlich wild entschlossen sind, sich vierzig Jahre anstelle einer rein nominellen lebenslänglichen Haftstrafe einzuhandeln, kann ich Sie nicht daran hindern. Lord Broadmoor wartet nur auf die Gelegenheit, die längste Haftstrafe in der Geschichte dieses Landes zu verhängen. Und ich bin fest davon überzeugt, daß er sie beim Schöpf ergreifen wird, wenn Sie als Zeuge auftreten. Sind Sie ganz sicher, daß Sie sich nicht lieber schuldig bekennen und das Ganze schnell hinter sich bringen wollen?« Aber Yapp beharrte auf seiner Unschuld und der Gewißheit, daß er einer Verschwörung dieser kapitalistischen Petrefacts zum Opfer gefallen war.

»Auf alle Fälle haben Sie die Möglichkeit, ein paar Worte zu sagen, sobald die Geschworenen mit ihrer Entscheidung zurückkehren«, sagte Mr. Rubicond trübsinnig. »Aber wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, dann schweigen Sie lieber. Lord Broadmoor reagiert wütend auf Mißachtung des Gerichts und bringt es ohne weiteres fertig, Ihnen noch ein paar Jahre zusätzlich aufzubrummen.«

»Die Geschichte wird mich reinwaschen«, sagte Yapp. »Das ist mehr, als man von den Geschworenen behaupten kann. Mrs. Coppett wird einen denkbar gräßlichen Eindruck auf sie machen. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hat sie bereits gestanden, daß sie Ehebruch begangen hat.«

»Ehebruch? Mit mir? Aber das ist unmöglich. Es ist absolut unwahr, und abgesehen davon bezweifle ich sehr, daß sie die Bedeutung dieses Wortes überhaupt kennt.«

»Aber die Geschworenen kennen sie«, sagte Mr. Rubicond. »Und dieses verstümmelte Korsett wird unserem Fall auch nicht sonderlich guttun. Broadmoor wird die Geschworenen garantiert darauf hinweisen. Nicht, daß das nötig wäre. Derartige Abscheulichkeiten sprechen für sich selbst.« Niedergeschmettert hüllte Yapp sich in Schweigen. Mit der ihm eigenen Gutherzigkeit verglich er sein Schicksal mit dem der armen und gelangte zu dem Schluß, daß er nur unwesentlich schlechter dran sei.

»Ohne ihren Willy, um den sie sich kümmern kann, ist sie mit ihrer Weisheit sicher am Ende«, sagte er schließlich. »Kommt drauf an, wo die anfängt«, meinte Mr. Rubicond, dem es nach wie vor unbegreiflich war, daß ein Mann mit Yapps Bildung und Ansehen an der geistig minderbemittelten Frau eines Zwerges irgend etwas auch nur im mindesten Reizvolles finden konnte. Dies war für ihn das stärkste Indiz für die Annahme, daß sein Klient beides war: schuldig und geisteskrank. »Jedenfalls hat sie meines Wissens Unterschlupf bei Miss Petrefact gefunden. Dort ist sie in guten Händen, falls das ein Trost für Sie ist.«

War es nicht. Als Yapp jetzt in seine Zelle zurückkehrte, war er erst recht davon überzeugt, daß er in eine Falle getappt war. Zwei Tage später schickte er Mr. Rubicond und Sir Creighton Hore weg und erklärte, daß er die Absicht habe, seine Verteidigung selbst zu übernehmen.