Kapitel 3
REISENDE MENSCHEN: Große, den Nomen ähnelnde Wesen. Viele Menschen verbringen eine Menge Zeit damit, von einem Ort zum anderen zu reisen, und das ist seltsam: Meistens befinden sich an ihrem Ziel schon zu viele Menschen.
Siehe auch TIERE, INTELLIGENZ, EVOLUTION und PUDDING.
Aus: Eine wissenschaftliche Enzyklopädie für
den
wißbegierigen jungen Nom von Angalo Kurzwarenler
Masklins und Gurders Stimmen hallten durch den Kabeltunnel, als sie über elektrische Leitungen hinwegkletterten.
»Ich dachte mit schon, daß es zu lange dauert!«
»Du hättest nicht zulassen dürfen, daß er allein losgeht! Du weißt doch, wie gern er Dinge fährt und steuert!«
»Ich hätte es nicht zulassen dürfen? Und was ist mit dir?«
»Er hat überhaupt kein Verantwortungsgefühl… Wohin jetzt?« Angalo hatte sich das Innere eines Flugzeugs als ein Durcheinander aus Drähten und Rohrleitungen vorgestellt. Das stimmte auch, zumindest in gewisser Weise. Die beiden Wichte kletterten nun durch eine schmale, von Kabeln erfüllte Welt unter dem Boden.
»Ich bin zu alt für so etwas! Für jeden Nom kommt einmal der Zeitpunkt, am dem er aufhören muß, in schrecklichen Flugmaschinen umherzukriechen!«
»Wie oft bist du in schrecklichen Flugmaschinen umhergekrochen?«
»Einmal zuviel!«
»Wir nähern uns dem Cockpit«, sagte das Ding.
»Das kommt davon, wenn wir uns den Menschen zeigen«, verkündete Gurder. »Es ist eine Strafe, jawohl.«
»Wer straft uns?« fragte Masklin und half dem Abt auf.
»Wie bitte?«
»Du hast eine Strafe erwähnt. Jemand muß sie beschlossen haben, nicht wahr?«
»Ich meinte eine Strafe im allgemeinen. So wie Schicksal.
Niemand beschließt das Schicksal, oder?« Masklin verharrte.
»Und nun, Ding?«
»Die Nachricht berichtete den Frauen-die-Nahrung-verteilen von einem kleinen Geschöpf im Cockpit«, erwiderte der schwarze Kasten. »Wir sind nun genau darunter. Hier gibt es viele Computer.«
»Sie sprechen mit dir, stimmt's?«
»Ein wenig. Sie sind wie Kinder. Die meisten Zeit über hören sie nur zu«, erklärte das Ding selbstgefällig. »Es mangelt ihnen an Intelligenz.«
»Was unternehmen wir jetzt?« fragte Gurder.
»Wir…« Masklin zögerte. Der unausgesprochene Satz enthielt an irgendeiner Stelle das Wort ›retten‹. Ein gutes, dramatisches Wort. Er sehnte sich danach, es auszusprechen.
Das Problem war nur: Dicht dahinter folgte ein anderes, und es bestand aus einer einzigen scheußlichen Silbe.
Es lautete wie.
»Ich glaube nicht, daß die Menschen versuchen, ihm ein Leid zuzufügen«, sagte Masklin und hoffte, daß er recht behielt. »Vielleicht sperren sie ihn irgendwo ein. Wir müssen einen Ort finden, von dem aus wir alles genau beobachten können.« Hilflos starrte er auf das Gewirr aus Leitungen und seltsamen Metallteilen weiter vorn.
»Dann solltest du mir die Führung überlassen«, meinte Gurder sachlich.
»Warum?«
»Du kennst dich im Draußen aus, wo's jede Menge Platz gibt.« Der Abt schob Masklin beiseite. »Aber wir Kaufhaus-Nomen wissen, wie man an Drinnen-Dingen vorbeikommt.« Er rieb sich die Hände.
»Also gut«, brummte er, griff nach einem Kabel und schlüpfte durch einen Spalt, den Masklin bisher gar nicht bemerkt hatte.
»Als ich ein Junge war, sind wir immer wieder auf Entdeckungsreise gegangen«, fuhr der Abt fort. »Haben dabei viele Abenteuer erlebt.«
»Ach?« kommentierte Masklin.
»Hier entlang, glaube ich. Achte auf die elektrischen Leitungen.« Und: »Oh, ja. Wir sind durch Liftschächte geklettert, haben uns Telefon-Schaltkästen von innen angesehen…«
»Du hast doch immer wieder darauf hingewiesen, daß Kinder zuviel Zeit damit verbringen, umherzulaufen und Unsinn anzustellen.«
»Äh. Ja. Nun, das ist Jugendkriminalität«, sagte Gurder streng. »Wir waren damals nur temperamentvoll. Laß es uns hier versuchen.« Sie krochen zwischen zwei warmen Metallwänden. Voraus glänzte helles Licht.
Auf allen vieren schoben sich Masklin und Gurder nach vorn.
Der Raum war seltsam geformt und nicht viel größer als das Führerhaus des Lastwagens. Auch in diesem Fall bot er gerade genug Platz für die menschlichen Fahrer beziehungsweise Piloten.
Doch hier wimmelte es von Kontrollen.
Sie bedeckten die Wände und Decke: kleine Lampen, Schalter, Anzeigefelder und Hebel. Masklin dachte: Wenn Dorcas hier wäre, so würde es uns nie gelingen, ihn fortzubringen. Aber Angalo ist hier irgendwo, und wir müssen ihn fortschaffen.
Zwei Menschen knieten auf dem Boden, und eine der Frauen-die-Nahrung-verteilen stand neben ihnen. Ihre Stimmen muhten und knurrten.
»Menschen, die miteinander sprechen«, murmelte Masklin.
»Ich wünschte, wir könnten sie verstehen.«
»Wenn Sie möchten, daß ich für Sie übersetze…«, ließ sich das Ding vernehmen.
»Bist du imstande, die von Menschen verursachten Geräusche zu deuten?«
»Natürlich. Die Menschen sprechen wie Nomen, nur langsamer.«
»Was? Was? Das hast du uns nie gesagt! Warum hast du uns das nie gesagt?«
»Es gibt Milliarden von Dingen, von denen ich Ihnen nie erzählt habe. Wo soll ich beginnen?«
»Wie wär's damit, wenn du uns mitteilst, worüber die Menschen reden?« schlug Masklin vor. »Bitte?«
»Einer von ihnen hat gerade gesagt: ›Es muß eine Maus oder so gewesen sein.‹ Und der andere sagte: ›Das glaube ich nur, wenn Sie mir eine Maus zeigen, die Kleidung trägt.‹ Und die Frau-die-Nahrung-verteilt sagte: ›Was ich gesehen habe, war keine Maus. Das Etwas hat eine Himbeere nach mir geworfen (Ausruf).‹«
»Was ist eine ›Himbeere‹?«
»Die kleine rote Frucht der Pflanze Rubus idaeus.«
Masklin wandte sich an Gurder.
»Hast du eine Himbeere nach ihr geworfen?«
»Wer? Ich? Hör mal, es lagen überhaupt keine Früchte in der Nähe – andernfalls hätte ich sie gegessen. Ich habe mich auf ein ›Bääähhh‹ beschränkt.«
»Einer der Menschen hat gerade gesagt: ›Ich habe mich umgedreht, und dort stand das Wesen, starrte aus dem Fenster.‹«
»Angalo, kein Zweifel«, meinte Gurder.
»Der andere Mensch auf den Knien hat geantwortet:
›Nun, was auch immer es ist – es steckt jetzt hinter dieser Schalttafel und kann nicht weg.‹«
»Der Mensch nimmt einen Teil der Wand ab!« stellte Masklin entsetzt fest. »O nein! Er greift hinein!« Erneut muhte es.
»Der Mensch hat gesagt: ›Er hat mich gebissen! Der kleine Teufel hat mich gebissen!‹« übersetzte das Ding. Es sprach im Plauderton.
»Typisch Angalo«, brummte Gurder. »So war auch sein Vater. Gab nie auf. Setzte sich immer wieder zur Wehr.«
»Die Menschen wissen gar nicht, wonach sie suchen!« stieß Masklin hervor. »Sie haben Angalo gesehen, aber er lief fort!
Sie sind nicht sicher, was sie gesehen haben, und eigentlich glauben sie gar nicht an Wichte! Wenn wir verhindern, daß er gefangen wird, wenn wir mit ihm verschwinden … Dann nehmen die Menschen sicher an, daß es sich um eine Maus oder so handelte!«
»Vielleicht können wir hinter die Wand kriechen und auf diese Weise Angalo erreichen«, überlegte Gurder laut. »Aber das dauert zu lange.« Masklin blickte sich verzweifelt um.
Außer den drei Menschen, die Angalo zu fangen versuchten, waren noch zwei andere zugegen. Sie saßen vorn – vermutlich die Fahrer.
»Mir sind die Ideen ausgegangen«, stöhnte Masklin. »Fällt dir etwas ein, Ding?«
»Mir fallen viele Dinge ein. Meinem Denkvermögen sind praktisch keine Grenzen gesetzt.«
»Ich meine, kannst du uns dabei helfen, Angalo zu retten?«
»Ja.«
»Also los.«
»Wie Sie wünschen.«
Einige Sekunden später dröhnte dumpfer Alarm. Winzige Lampen blinkten. Die Fahrer riefen etwas, beugten sich vor und betätigten Schalter.
»Was ist los?« fragte Masklin.
»Vielleicht sind die Menschen überrascht, weil sie diese Maschine nicht mehr fliegen«, erwiderte das Ding.
»Sie haben keine Kontrolle mehr darüber? Wer fliegt sie jetzt?« Lichter glitten über den schwarzen Kasten.
»Ich.«
Einer der Frösche fiel vom Ast und verschwand stumm zwischen den Blättern tief unten. Sehr kleine Tiere können weit fallen, ohne sich zu verletzen. Es ist also durchaus möglich, daß der Frosch im Wald unterm Baum überlebte und dort Erfahrungen machte, die auf der Liste aller interessanten Froscherfahrungen an zweiter Stelle stehen.
Die übrigen Frösche setzten den Weg fort.
Masklin half Gurder durch einen metallenen Tunnel voller Leitungen. Oben stapften Menschenfüße über den Boden; muhende Stimmen ertönten und klangen besorgt.
»Ich glaube, die Menschen sind nicht besonders glücklich«, sagte der Abt.
»Aber jetzt haben sie keine Zeit mehr, nach etwas Ausschau zu halten, das wahrscheinlich eine Maus gewesen ist«, erwiderte Masklin.
»Es ist keine Maus, sondern Angalo!«
»Aber nachher werden die Menschen glauben, daß es eine Maus war. Sie wollen nichts von Dingen wissen, die sie beunruhigen.«
»Die meisten Nomen teilen diese Einstellung«, murmelte Gurder.
Masklin sah auf das Ding unter seinem Arm.
»Du fährst die Concorde?« vergewisserte er sich. »Im Ernst?«
»Ja.«
»Ich dachte, man muß ein Lenkrad drehen und Schalthebel bewegen, um irgend etwas zu fahren«, sagte Masklin.
»Alles wird von Maschinen erledigt. Die Menschen drücken Tasten und drehen Lenkräder, um Maschinen mitzuteilen, was sie tun sollen.«
»Und was machst du jetzt?«
»Ich bin der Boß«, antwortete das Ding.
Masklin lauschte dem leisen Donnern der Triebwerke.
»Ist es schwer, hier der Boß zu sein?«
»Eigentlich nicht. Aber die Menschen mischen sich immer wieder ein.«
»Dann sollten wir Angalo so schnell wie möglich finden«, sagte Gurder. »Komm.«
Sie krochen durch einen weiteren Kabeltunnel. »Die Menschen müßten uns eigentlich dankbar sein, weil ihnen unser Ding die Arbeit abnimmt«, meinte der Abt.
»Ich fürchte, sie sehen das alles aus einer anderen Perspektive«, entgegnete Masklin.
»Wir fliegen in einer Höhe von fünfundfünfzigtausend Fuß und mit einer Geschwindigkeit von eintausenddreihundertzweiundfünfzig Meilen in der Stunde«, sagte das Ding. Als die beiden Nomen nicht darauf reagierten, fügte es hinzu: »Das ist sehr hoch und sehr schnell.«
Masklin hielt eine Bemerkung für angebracht. »Gut.«
»Sehr, sehr schnell.«
Die Wichte quetschten sich durch eine Lücke zwischen zwei Metallplatten.
»Schneller als eine Gewehrkugel.«
»Erstaunlich«, kommentierte Masklin.
»Doppelt so schnell wie der Schall in dieser Atmosphäre«, fuhr das Ding fort.
»Donnerwetter.«
»Um es anders auszudrücken…« Das Ding klang nun ein wenig verärgert. »Dieses Flugzeug könnte die Strecke vom Kaufhaus bis zum Steinbruch in weniger als fünfzehn Sekunden zurücklegen.«
»Ein Glück für uns, daß es uns nicht entgegenkam, als wir mit dem Lastwagen fuhren«, sagte Masklin.
»Hör auf, das Ding zu verspotten«, warf Gurder ein.
»Es will dir nur zeigen, daß es ein braver Junge ist.
Beziehungsweise ein braves Ding«, korrigierte er sich rasch.
»Nein«, widersprach der schwarze Kasten mit einer für ihn ungewöhnlichen Hast. »Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Concorde eine Maschine ganz besonderer Art ist, und es erfordert großes Geschick, sie zu fliegen.«
»Dann solltest du vielleicht weniger reden«, sagte Masklin.
Mehrere Lichter blinkten am Ding.
»Das war gemein«, flüsterte Gurder.
»Ein Jahr lang habe ich mich immer so verhalten, wie es das Ding von mir verlangte – ohne ein einziges Danke«, entgegnete Masklin. »Übrigens: Wie hoch sind fünfundfünfzigtausend Füße?«
»Zehn Meilen. Oder sechzehn Kilometer. Zweimal die Entfernung vom Kaufhaus bis zum Steinbruch.«
Gurder schluckte.
»Oben?« brachte er hervor. »Wir sind so weit oben?« Er starrte auf den Boden.
»Oh«, ächzte er.
»Es ist alles in bester Ordnung«, sagte Masklin.
»Fang du jetzt nicht auch noch an. Mit Angalo haben wir schon Probleme genug. Warum klammerst du dich so an der Wand fest?« Gurders Gesicht war kreideweiß.
»Vermutlich sind wir so hoch über dem Boden wie die flaumigen weißen Wolkendinge«, hauchte er.
»Nein«, sagte der schwarze Kasten.
»Nein? Das beruhigt mich.«
»Die Wolken sind tief unter uns.«
»Oh.«
Masklins Hand schloß sich um den Arm des Abts. »Angalo, erinnerst du dich?« fragte er.
Gurder nickte langsam, schob sich Zentimeter um Zentimeter nach vorn. Er kniff die Augen zu und hielt sich an diversen Dingen fest.
»Wir dürfen nicht den Kopf verlieren«, mahnte Masklin.
»Obgleich wir so weit oben sind.« Er senkte den Blick. Das Metall unter seinen Füßen war fest und massiv. Man brauchte viel Phantasie, um trotzdem bis zum Boden zu sehen.
Das Problem war: Er hatte jede Menge Phantasie. »Äh«, sagte er. »Komm weiter, Gurder. Gib mir deine Hand.«
»Sie befindet sich direkt vor dir.«
»Entschuldige. Mit geschlossenen Augen konnte ich sie nicht sehen.«
Eine halbe Ewigkeit lang kletterten sie durchs Gewirr aus Kabeln und Leitungen, und schließlich murmelte Gurder: »Es ist sinnlos. Hier gibt es kein Loch, das groß genug wäre, um hindurchzugelangen. Angalo hätte eine solche Öffnung bestimmt nicht übersehen.«
»Dann müssen wir ins Führerhaus zurück und ihn auf eine andere Weise retten«, sagte Masklin.
»Und die Menschen?«
»Sie sind viel zu beschäftigt, um uns zu bemerken. Stimmt's, Ding?«
»Ja.«
Es existiert ein Ort, der so weit oben ist, daß es überhaupt kein Unten mehr gibt.
Etwas tiefer sauste ein weißer Pfeil über den Rand des Himmels, schneller als die Nacht. Er holte die Sonne ein, überquerte in wenigen Stunden einen Ozean, an dem einst die Welt endete …
Masklin ließ sich vorsichtig auf den Boden hinab und kroch nach vom. Zum Glück sahen die Menschen nicht in seine Richtung.
Ich hoffe, das Ding weiß, wie man dieses Flugzeug fährt, dachte er. Oder fliegt.
Er schlich zu der Schalttafel, hinter der sich Angalo verbarg.
Profundes Unbehagen erfaßte ihn: Er verabscheute es, sich so offen zu zeigen. Nun, damals war es noch viel schlimmer gewesen, als er allein auf die Jagd ging.
Er hatte ständig damit rechnen müssen, von etwas erwischt zu werden, erst zwischen irgendwelchen Zähnen zu landen und dann in einem Magen. Wenn es Menschen gelang, einen Nom zu fangen… Niemand wußte, was sie mit ihm anstellten.
Er sprang in einen sehr willkommenen Schatten.
»Angalo!« zischte er.
Nach einer Weile flüsterte es hinter den Kabelsträngen:
»Wer ist da?« Masklin richtete sich auf. »Wie oft möchtest du raten?« fragte er mit normaler Stimme.
Angalo verließ sein Versteck. »Sie haben mich gejagt!«
klagte er. »Die Menschen! Und einer von ihnen streckte die Hand nach mir aus …«
»Ich weiß. Komm jetzt. Verschwinden wir von hier, solange sie abgelenkt sind.«
»Was ist los?« fragte Angalo, als sie ins Licht eilten.
»Das Ding fliegt die Concorde.«
»Wie denn? Es hat doch keine Arme. Es kann gar keinen anderen Gang einlegen oder so …«
»Das erledigen die Computer. Und das Ding erteilt ihnen Anweisungen. Komm jetzt.«
»Ich habe aus dem Fenster gesehen«, platzte es aus Angalo heraus. »Draußen ist überall Himmel!«
»Erinnere mich nicht daran«, erwiderte Masklin.
»Gestatte mir noch einen letzten Blick«, flehte Angalo. »Nur einen!«
»Gurder wartet auf uns, und wir sollten vermeiden, uns noch mehr Schwierigkeiten einzuhandeln.«
»Aber dieses Flugzeug ist besser als jeder Lastwagen …«
Irgendwo erklang eine Art ersticktes Schnaufen. Die Nomen sahen auf.
Einer der Menschen beobachtete sie. Sein Mund stand weit offen, und der Gesichtsausdruck deutete darauf hin, daß es ihm sehr schwer fallen würde zu erklären, was er gerade gesehen hatte – zunächst mußte er sich selbst davon überzeugen.
Der Mensch stand auf.
Angalo und Masklin wechselten einen Blick. »Lauf!« riefen sie beide gleichzeitig. Gurder wartete im Halbdunkel neben der Tür, als die beiden anderen Nomen vorbeistürmten – ihre Beine stampften wie Kolben. Er hob den Saum seines Umhangs und folgte ihnen.
»Was ist geschehen? Was ist geschehen?«
»Ein Mensch verfolgt uns!«
»Laßt mich nicht zurück! Laßt mich nicht zurück!«
Masklin gewann einen kleinen Vorsprung, als sie durch den Mittelgang rannten, zwischen den Reihen aus Menschen, die den drei dahinhuschenden Schemen keine Beachtung schenkten.
»Wir hätten nicht… herumstehen und … gaffen sollen!«
keuchte Masklin.
»Vielleicht bekommen wir… nie wieder eine … Gelegenheit dazu!« japste Angalo.
»Da hast du vollkommen recht!« Der Boden neigte sich.
»Was hat das zu bedeuten, Ding?«
»Ich lenke die Menschen noch etwas mehr ab.«
»Nein! Hier entlang!«
Masklin flitzte zwischen zwei Sessel, wich riesigen Schuhen aus und warf sich flach auf den Teppich. Die anderen beiden Wichte folgten seinem Beispiel. Nur wenige Zentimeter trennten sie von zwei gewaltigen Menschenfüßen.
Masklin hob das Ding dicht vor den Mund.
»Gib den Menschen das Flugzeug zurück!« raunte er.
»Ich hatte gehofft, daß Sie mir erlauben, es zu landen«, sagte das Ding. Zwar blieb die Stimme des schwarzen Kastens immer monoton, aber Masklin glaubte trotzdem, so etwas wie Wehmut zu hören.
»Weißt du, wie man eine Concorde landet?« fragte er.
»Nein. Aber ich könnte es lernen…«
»Gib den Menschen das Flugzeug zurück«, wiederholte Masklin. »Jetzt sofort!«
Ein leichter Ruck, dann eine Veränderung im Muster der Lichter am Ding. Masklin atmete erleichtert auf. »So, und wenn nun alle vernünftig sein könnten, wenigstens für ein paar Minuten …«
»Entschuldige bitte«, sagte Angalo. Er trachtete vergeblich danach, zerknirscht zu wirken. Masklin sah das Glitzern in seinen Augen, das verträumte Lächeln eines Noms, der sich in unmittelbarer Nähe seines ganz persönlichen Paradieses wußte.
»Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Selbst unter uns ist alles blau! Es scheint überhaupt keinen Boden mehr zu geben! Und …« Masklin musterte ihn mit nachdenklichem Ernst. »Wir könnten herausfinden, ob dieser Eindruck täuscht. Indem wir das Ding auffordern, die Concorde auch weiterhin zu fliegen.«
Er seufzte. »Ich schlage vor, wir bleiben hier ruhig sitzen, einverstanden?«
Eine Zeitlang hockten sie still unterm Sessel. »Dieser Mensch hat ein Loch in seiner Socke«, sagte Gurder schließlich.
»Na und?« fragte Angalo.
»Oh, ich weiß nicht. Ich hätte nie gedacht, daß auch Menschen Löcher in ihren Socken haben.«
»Wenn man eine Socke findet, braucht man nicht lange nach einem Loch zu suchen«, meinte Masklin.
»Es sind gute Socken«, fügte Angalo hinzu.
Masklin betrachtete sie. Für ihn sahen sie wie ganz normale Socken aus. Die Nomen im Kaufhaus hatten sie als Schlafsäcke benutzt.
»Woher willst du denn das wissen?« erkundigte er sich.
»Sie sind absolut Geruchsneutral«, sagte Angalo.
»Bestehen zu garantiert fünfundachtzig Prozent aus Polyputheketlon. Sie wurden im Kaufhaus angeboten. Kosten viel mehr als andere Socken. Siehst du das Etikett?«
Gurder holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen.
»Es war ein gutes Kaufhaus«, sagte er.
»Und die Schuhe«, fuhr Angalo fort. Er deutete zu den großen weißen Gebilden, die wie auf den Strand gezogene Boote in der Nähe lagen. »Seht ihr sie? Äußerst Strapazierfähig Und Mit Echter Gummisohle Ausgestattet. Sehr teuer.«
»Hab nie viel davon gehalten«, brummte Gurder.
»Zu auffällig. Ich ziehe ›Herrenschuhe, braun‹, mit Schnürsenkeln vor. Darin konnte man gut schlafen.«
»Die Schuhe mit den Gummisohlen …«, sagte Masklin langsam. »Es gab sie auch' im Kaufhaus, nicht wahr?«
»Ja. Manchmal gehörten sie zu den Sonderangeboten.«
»Hmm.« Masklin stand auf und schritt zu der großen, halb unter den Sessel geklemmten Ledertasche. Die beiden anderen Nomen beobachteten, wie er daran emporkletterte, bis er kurz über die Armlehne sehen konnte. Dann kehrte er zurück.
»Na so was«, sagte er verdächtig fröhlich. »Eine Tasche aus dem Kaufhaus, nicht wahr?« Gurder und Angalo maßen sie mit einem kritischen Blick.
»Ich habe nie viel Zeit in der Abteilung Reiseartikel verbracht«, erwiderte Angalo. »Aber da du es schon erwähnst … Es könnte eine besondere ›Reisetasche aus Kalbsleder‹ sein.«
»Für den ›anspruchsvollen Manager‹?« Gurder zögerte. »Ja, das wäre möglich.«
»Habt ihr darüber nachgedacht, wie wir das Flugzeug verlassen sollen?« fragte Masklin.
»So wie wir eingestiegen sind, nur umgekehrt?« spekulierte Angalo, der daran noch keinen Gedanken vergeudet hatte.
»Das dürfte schwierig werden«, entgegnete Masklin.
»Wegen der Menschen. Vielleicht suchen sie nach uns.
Obwohl sie glauben, daß wir nur Mäuse sind. An ihrer Stelle würde ich nicht zulassen, daß sich Mäuse in diesem Flugzeug herumtreiben. Stellt euch vor, was passiert, wenn Mäuse hier auf elektrische Leitungen pinkeln. Wenn man sechzehn Kilometer hoch fliegt und Mäuse im Innern eines Computers auf die Toilette gehen … Bestimmt ergäben sich dadurch gewisse Probleme. Die Menschen nehmen das sicher sehr ernst. Und deshalb müssen wir das Flugzeug verlassen, wenn die Passagiere von Bord gehen.«
»Aber die vielen Füße …« Angalo schauderte. »Ich möchte nicht zertrampelt werden.«
»Nun, ich dachte, wir könnten, äh, in die, äh, Tasche dort schlüpfen«, sagte Masklin.
»Lächerlich!« entfuhr es Gurder. Masklin atmete tief durch.
»Sie gehört Enkel Richard«, verkündete er.
»Ich hab's überprüft«, betonte er und beobachtete die Mienen seiner Gefährten. »Ich habe ihn schon einmal gesehen, und er sitzt im Sessel über uns. Enkel Richard, 39. Direkt über uns.
Liest eine Zeitung. Da oben. Er ist es, kein Zweifel.«
Gurder lief rot an und zielte mit dem Zeigefinger auf Masklin. »Willst du etwa behaupten, daß Richard Arnold, Enkel von Arnold Bros (gegr. 1905), Löcher in seinen Socken hat?«
»Dadurch werden es heilige Socken«, warf Angalo ein.
»Entschuldigung. Ich wollte nur ein wenig humorvoll sein. Um die Stimmung zu verbessern. Du brauchst mich nicht gleich so anzustarren.«
»Kletter auf die Tasche und überzeug dich selbst«, schlug Masklin vor. »Ich helfe dir dabei. Aber sei vorsichtig.«
Sie hoben Gurder hoch.
Kurze Zeit später rutschte er stumm übers Kalbsleder nach unten.
»Nun?« drängte Angalo.
»Auf der Tasche steht ›R.A.‹, in goldenen Buchstaben«, meinte Masklin.
Er sah zu Angalo und winkte mehrmals. Gurder war so bleich, als sei er gerade einem Geist begegnet. »Oh, ja, goldene Buchstaben«, stieß Angalo hastig hervor. »›Goldenes Monogramm für nur fünf neunundneunzig‹, hieß es auf einem Schild.«
»Sprich mit uns, Gurder«, bat Masklin. »Sitz nicht einfach so da.«
»Dies ist ein sehr ernster und feierlicher Augenblick für mich«, raunte Gurder.
»Wenn wir einen Teil der Naht aufschneiden, könnten wir von unten hineinkriechen«, sagte Masklin.
»Ich bin nicht würdig«, hauchte Gurder.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Angalo fröhlich. »Aber das verraten wir niemandem.«
»Und Enkel Richard wird uns helfen«, fügte Masklin hinzu.
Er hoffte, daß sich Gurder genug Vernunft bewahrt hatte, um ihn zu verstehen. »Er weiß nichts davon, doch er hilft uns trotzdem. Also ist alles in Ordnung. Bestimmt steckt so was wie Vorsehung dahinter.«
Eine allgemeine Vorsehung, dachte er. Eine Vorsehung, die niemand beschlossen hat. Wenn man von uns selbst absieht.
Gurder überlegte.
»Na schön«, sagte er. »Aber es ist nicht nötig, ein Loch in die Tasche zu schneiden. Es genügt, den Reißverschluß aufzuziehen.« Sie verloren keine Zeit. Der Reißverschluß klemmte – alle Reißverschlüsse klemmen; das gehört einfach dazu –, aber er ließ sich weit genug aufziehen, um es den Nomen zu ermöglichen, in die Reisetasche zu klettern.
»Und was machen wir, wenn Enkel, 39, sie öffnet und hineinsieht?« fragte Angalo.
»Nichts«, antwortete Masklin. »Dann lächeln wir freundlich.«
Die drei Frösche befanden sich jetzt weit draußen auf dem Ast.
Zunächst hatten sie nur eine glatte Fläche aus graugrünem Holz gesehen, doch nun erwies sich die neue Umgebung als ein Durcheinander aus rauher Borke, Wurzeln und Moosfladen – ein Kosmos des Schreckens für Frösche, die ihr ganzes Leben in einer Welt mit Blütenblättern am Rand verbracht hatten.
Trotzdem krochen sie weiter. Die Bedeutung des Wortes ›Rückzug‹ war ihnen völlig unbekannt. Ebenso wie die aller anderen Wörter.