Kapitel 8

VII. Und Grimma sprach: Wir haben zwei Möglichkeiten.

VIII. Wir können fliehen oder uns verstecken.

IX. Und die Nomen fragten: Was schlägst du vor?

X. Und Grimma sagte: Wir kämpfen.

Aus dem Buch der Nomen, Steinbrüche,
Kapitel 3, Verse VII-X

Es war kein dichtes Schneetreiben, eher das Gegenstück zu einem leichten Nieseln. Oma Morkie meinte, damit wolle der Winter darauf hinweisen, daß es, nun, Winter sei.

Oma hatte sich nie sehr für den Rat interessiert. Sie verbrachte ihre Zeit bei den anderen Alten, schimpfte mit ihnen und versuchte gelegentlich, sie ›aufzumuntern‹ und auf andere Gedanken zu bringen. Jetzt stapfte sie so durch den Schnee, als gehöre er ihr allein.

»Dies ist natürlich noch gar nichts«, sagte sie. »Ich erinnere mich an richtigen Schnee. War so hoch, war er, daß man nicht in ihm gehen konnte, sondern Tunnel hindurchgraben mußte!

Tja, damals hatten wir nichts zu lachen!«

»Äh«, erwiderte ein recht alter Wicht. »Fällt er immer so vom Himmel herab?«

»Und ob! Manchmal wird er auch vom Wind hin und her geweht. Dann bilden sich große Haufen!«

»Wir dachten immer…«, begann der alte Nom. »Auf den Bildern, äh, im Kaufhaus, meine ich … Wir dachten immer, der Schnee erscheint einfach so auf Dingen. Damit alles hübsch und festlich wirkt«, fügte er verlegen hinzu.

Sie beobachteten, wie die weiße Schicht auf dem Boden wuchs. Die Wolken über dem Steinbruch sahen aus wie angeschwollene Matratzen.

»Wenigstens kann jetzt niemand mehr von uns verlangen, in die abscheuliche Scheune umzuziehen«, meinte ein Wicht.

»Das stimmt«, pflichtete ihm Oma Morkie bei. »Wer bei solchem Wetter draußen unterwegs ist, könnte sich den Tod holen.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. Die alten Nomen brummten leise vor sich hin, blickten zum Himmel auf und hielten angestrengt nach den ersten Anzeichen von Rotkehlchen oder Rentieren Ausschau.

Die fallenden Schneeflocken formten weiße Mauern um den Steinbruch – man konnte nicht mehr über die weiten Felder sehen.

Dorcas saß in seiner Werkstatt und beobachtete, wie sich der Schnee am schmutzigen Fenster sammelte, das Licht im Schuppen grau werden ließ.

»Nun…«, murmelte er. »Wir wollten hier isoliert sein. Und jetzt sind wir’s. Wir können nicht weglaufen. Wir können uns nicht verstecken.« Er seufzte. »Ach, wir hätten alle zusammen mit Masklin aufbrechen sollen.« Er hörte Schritte, drehte sich um und erkannte Grimma. Während der letzten Tage hatte sie viel Zeit am Tor verbracht, doch der Schnee zwang sie nun dazu, drinnen zu bleiben.

»Er kann nicht zurückkehren«, sagte sie. »Nicht bei diesem Wetter.«

»Ja, hm«, erwiderte der Ingenieur unsicher.

»Er ist jetzt seit acht Tagen fort.«

»Ziemlich lange.«

»Was hast du gesagt, als ich hereinkam?« fragte Grimma.

»Ich habe nur mit mir selbst gesprochen. Bleibt der Schnee lange liegen?«

»Das könnte tatsächlich der Fall sein, wenn Oma Morkie recht hat. Manchmal dauert’s Wochen, bis er taut.«

»Oh.«

»Wenn die Menschen kommen …« Grimma zögerte.

»Früher oder später bemerken sie uns. Wahrscheinlich früher.«

»Ja«, brummte Dorcas traurig, »ja, ich fürchte, da hast du recht.«

»Wie viele von uns wären imstande, äh – nun, du weißt schon –, auch weiterhin hier zu leben?«

»Vielleicht einige Dutzend. Wenn sie nicht zuviel essen und tagsüber im verborgenen bleiben. Hier gibt’s keinen Speisesaal.« Dorcas seufzte erneut. »Und wenn ständig Menschen im Steinbruch sind, ist kaum mehr an die Jagd zu denken. Sie hätte ohnehin keinen Sinn: Bestimmt gibt’s bald keine Tiere mehr in der Nähe.«

»Wir sind Tausende!« Dorcas hob wortlos die Schultern. »Es ist schon für mich schwer genug, durch den Schnee zu gehen«, sagte er. »Die älteren Wichte schaffen das bestimmt nicht.

Ebensowenig wie die kleinen Kinder.«

»Also müssen wir hierbleiben«, entgegnete Grimma.

»So wie’s Nisodemus will.«

»Ja. Wir können nur bleiben und hoffen. Vielleicht verschwindet der Schnee bald. Dann fliehen wir ins Gebüsch oder so.«

»Und wenn wir kämpfen?« fragte Grimma. Dorcas knurrte leise. »Kein Problem. Wir kämpfen dauernd. Streit und Zank – du kennst das ja. Es liegt in der nomischen Natur.«

»Nein, ich meine: Und wenn wir gegen die Menschen kämpfen? Um den Steinbruch?« Langes Schweigen folgte.

»Was, wir?« erwiderte Dorcas schließlich. »Gegen Menschen?«

»Ja.«

»Aber die Menschen sind Menschen!«

»Ja.«

»Aber sie sind viel größer als wir!« stieß der Ingenieur verzweifelt hervor.

»Größere Ziele, leichter zu treffen.« In Grimmas Augen leuchtete es. »Wir sind viel schneller und klüger als sie, und wir wissen, daß sie existieren, und außerdem haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite«, fügte sie hinzu.

»Das was?« fragte Dorcas verwirrt.

»Das Überraschungsmoment. Die Menschen wissen nicht, daß wir hier sind«, erklärte Grimma.

Der Ingenieur musterte sie argwöhnisch. »Du hast wieder in komischen Büchern gelesen«, vermutete er.

»Das ist immer noch besser, als herumzusitzen, die Hände zu ringen und zu jammern: ›Meine Güte, meine Güte, die Menschen kommen und werden uns alle zertrampeln.‹«

»Na schön«, sagte Dorcas. »Aber was schlägst du vor?

Glaub mir: Es wäre alles andere als leicht, ihnen einen Knüppel auf den Kopf zu schlagen.«

»Nicht auf den Kopf«, antwortete Grimma.

Dorcas starrte sie groß an. Gegen Menschen kämpfen? Es war eine so verblüffende Vorstellung, daß es der Verstand zunächst ablehnte, sich eingehender damit zu befassen.

Andererseits … Der Ingenieur entsann sich an ein ganz bestimmtes Buch. Masklin hatte es im Kaufhaus entdeckt, und es brachte Dorcas damals auf die Idee, wie man einen Lastwagen fahren konnte. Wie lautete der Titel? Gullivers Reisen? Es zeigte das Bild eines Menschen, der auf dem Rücken lag, während kleine Gestalten – sie sahen wie Nomen aus – ihn mit Stricken fesselten. Nicht einmal die ältesten Wichte konnten sich an so etwas erinnern. Es mußte vor langer, langer Zeit geschehen sein.

Dem Ingenieur fiel etwas ein.

»Einen Augenblick«, sagte er. »Wenn wir damit beginnen, gegen die Menschen zu kämpfen …« Er unterbrach sich.

»Ja?« drängte Grimma ungeduldig.

»Dann setzen sie sich zur Wehr, oder? Ich weiß, daß sie nicht besonders intelligent sind, aber irgendwann merken sie bestimmt, was passiert, und dann wehren sie sich. ›Vergeltung‹ nennt man so etwas.«

»Genau«, bestätigte Grimma. »Und deshalb ist es sehr wichtig, daß wir sofort mit der Vergeltung anfangen.« Dorcas dachte darüber nach. Es klang irgendwie logisch. »Aber nur in Notwehr«, sagte er. »Nur in Notwehr. Selbst Menschen gegenüber. Um unnötiges Leid zu vermeiden.«

»Meinetwegen«, räumte Grimma ein.

»Und du meinst wirklich, wir sollten gegen die Menschen kämpfen?«

»Ja.«

»Und … wie?«

Grimma biß sich auf die Lippe. »Hmm … Der junge Sacco und seine Freunde. Vertraust du ihnen?«

»Es sind gute Jungs. Und auch Mädchen, ein oder zwei von ihnen.« Dorcas lächelte. »Immer bereit, etwas Neues auszuprobieren.«

»Nun, dann brauchen wir Nägel…«

»Du hast dir alles genau überlegt, wie?« fragte der Ingenieur.

Ehrfurcht regte sich in ihm. Grimma schien oft schlecht gelaunt zu sein, und vielleicht lag es daran, daß ihr Gehirn sehr schnell arbeitete: Andere Leute konnten ihr nicht folgen, und dadurch verlor sie die Geduld. Doch jetzt zeigte sie keine Gereiztheit, sondem echten Zorn. Dorcas spürte fast so etwas wie Mitleid, als er an Menschen dachte, die einer solchen Grimma über den Weg liefen.

»Ich habe viel gelesen«, sagte sie.

»Äh, ja, das sehe ich«, erwiderte der Ingenieur. »Aber, äh, ich frage mich, ob es nicht vernünftiger wäre …«

»Wir laufen nicht noch einmal weg«, fuhr Grimma in einem kategorischen Tonfall fort. »Wir kämpfen auf dem Weg. Wir kämpfen am Tor. Wir kämpfen im Steinbruch. Und wir kapitulieren nie.«

»Was bedeutet ›kapitulieren‹?« erkundigte sich Dorcas verzweifelt.

»Wir kennen überhaupt nicht die Bedeutung des Wortes Kapitulation«, sagte Grimma.

»Nun, mir ist sie nicht bekannt«, stellte der Ingenieur fest.

Grimma lehnte sich an die Wand.

»Möchtest du etwas Seltsames hören?« fragte sie.

Dorcas rang mit sich selbst.

»Äh, vielleicht.«

»Es gibt Bücher über uns.«

»Wie Gullivers Reisen?«

»Nein. Darin ging’s um Menschen. Über uns, meine ich.

Über ganz normale Leute, die so groß sind wie wir. Aber sie sind grün und haben komische Stengel auf dem Kopf. Manchmal stellen die Menschen Schüsseln mit Milch für uns vor die Tür, und wir erledigen ihre Hausarbeit. Und sie haben Flügel, wie Bienen. So steht’s in den Büchern. Wir heißen darin ›Kobolde‹ und ›Elfen‹. Ich hab’s in Märchen für Kleine gelesen.«

»Das mit den Flügeln könnte nicht klappen«, entgegnete Dorcas skeptisch. »Wir sind zu schwer.«

»Und die Menschen glauben, wir wohnen in Pilzen«, sagte Grimma.

»Hm, klingt nicht sehr praktisch.«

»Und sie glauben, wir reparieren Schuhe.«

»Schon besser«, brummte Dorcas. »Gute solide Arbeit.«

»In dem Buch stand auch, daß wir die Blumen anmalen, damit sie hübsch bunt sind.« Dorcas hob beide Brauen.

»Nein«, murmelte er nach einer Weile. »Ich habe mir die Farben der Blumen angesehen. Sie sind eingebaut, ich bin ganz sicher.«

»Wir leben«, sagte Grimma. »Ich meine, wir existieren wirklich. Ohne Stengel auf dem Kopf. Ohne Bienenflügel. Warum stehen solche Sachen in Büchern?«

»Keine Ahnung«, antwortete Dorcas. »Ich lese nur Handbücher. Richtige Bücher müssen Listen und Bauteilnummern enthalten, wenn du mich fragst.«

»Wenn es den Menschen jemals gelingt, uns zu fangen …

Jetzt wissen wir, was uns dann bevorsteht. Sie verwandeln uns in Kobolde und Elfen, die Blumen bemalen. Sie lassen nicht zu, daß wir etwas anderes sind. Sie zwingen uns, klein zu sein.« Grimma seufzte. »Hast du jemals das Gefühl, nie genug zu wissen?«

»O ja. Dauernd.«

Grimma runzelte die Stirn.

»Eins weiß ich: Wenn Masklin zurückkehrt, so wird etwas da sein, zu dem er zurückkehren kann.«

»Oh«, sagte Dorcas.

»Oh«, wiederholte er. »Ich verstehe.«

Bittere Kälte erwartete den Ingenieur in Jekubs Bau. Andere Wichte kamen nie hierher, wegen des unangenehmen Geruchs, und das war Dorcas nur recht. Er schlurfte über den Boden und hob den Rand der großen Plane, unter der Jekub schlief. Zwar hatte er eine Art Strickleiter improvisiert, aber es dauerte trotzdem lange, an dem Ungeheuer hinaufzuklettern. Schließlich erreichte Dorcas seinen üblichen Sitzplatz und verschnaufte.

»Ich möchte den Leuten nur helfen«, sagte er leise.

»Ich möchte ihnen Dinge geben wie Elektrizität und so weiter, ihr Leben erleichtern, aber sie bedanken sich nicht einmal dafür. Sie wollten, daß ich Schilder anfertige, und ich habe ihnen den Wunsch erfüllt. Jetzt will Grimma gegen die Menschen kämpfen. Sie hat viele Ideen, und die meisten von ihnen stammen aus Büchern. Ich weiß, daß sie nur deshalb Pläne schmiedet, um Masklin zu vergessen, aber ich fürchte, damit schafft sie nur zusätzliche Probleme. Und wenn ich ihr nicht helfe, wird alles noch schlimmer. Ich möchte vermeiden, daß irgend jemand zu Schaden kommt. Leute wie wir können nicht so einfach repariert werden wie Maschinen.«

Er stieß mit den Hacken an Jekubs… Welcher Teil von ihm war es? Wahrscheinlich der Hals. »Für dich ist alles einfach«, fuhr Dorcas fort. »Du schläfst hier, ruhst dich aus …« Eine Zeitlang blickte er an Jekub hinab.

Und dann, noch leiser: »Ich frage mich …«

Fünf Minuten verstrichen. Der Ingenieur kroch und kletterte durch die Schatten, verschwand hier, kam dort wieder zum Vorschein und murmelte Bemerkungen wie: »Völlig leer. Kein Strom mehr drin. Wir brauchen eine neue Batterie.« Und:

»Scheint soweit in Ordnung zu sein, muß nur gesäubert werden.« Und: »Hmm, du hast zuwenig im Tank …« Schließlich trat er unter der staubigen Plane hervor und rieb sich die Hände.

Jeder braucht ein Ziel, dachte er. Sonst ist das Leben leer.

Nisodemus möchte, daß alles so wird wie früher. Grimma möchte, daß Masklin zurückkehrt. Und Masklin… Niemand weiß genau, was Masklin möchte. Vermutlich strebt er ziemlich viel an.

Sie alle haben Ziele. Mit einem Ziel im Leben kann man sich fünfzehn Zentimeter groß fühlen.

Und ich habe gerade eins für mich gefunden. Potzblitz.

Der Mensch kehrte später zurück, und er kam nicht allein. Der kleine Laster folgte einem viel größeren mit der Aufschrift ›Blackbury Sand & Kies GmbH‹. Seine Reifen verwandelten die dünne Schneeschicht in glitzernden Schlamm.

Er rumpelte über den Weg, wurde langsamer, als er sich dem breiten Bereich vorm Tor näherte – und hielt. Es war kein besonders gutes Anhalten. Das Heck des Lastwagens schwang herum und stieß fast an die Hecke. Der Motor stotterte und verstummte. Etwas zischte. Und dann, ganz langsam, sank das große Fahrzeug. Zwei Menschen stiegen aus, stapften um den Laster herum und sahen sich die Räder an.

»Die Reifen sind nur unten platt«, flüsterte Grimma im Gebüsch.

»Keine Sorge«, raunte Dorcas. »Das haben Reifen so an sich: Die flachen Stellen sinken immer nach unten. Eigentlich erstaunlich, was man mit ein paar Nägeln anstellen kann, nicht wahr?« Der kleinere Laster hielt hinter dem großen. Dort stiegen ebenfalls zwei Menschen aus und gesellten sich den ersten beiden hinzu. Einer von ihnen hielt die größte Zange in den Händen, die Dorcas jemals gesehen hatte. Während sich seine Gefährten an einem Rad bückten, ging er zum Tor und setzte die Zange dort an, wo das Vorhängeschloß hing.

Er drückte zu, und es war eine Anstrengung, selbst für den Menschen. Doch nach einigen Sekunden ertönte ein so lautes Knacken, daß es auch die Wichte im Gebüsch hörten. Unmittelbar darauf klirrte und rasselte es, als die Kette zu Boden rutschte.

Dorcas stöhnte und mußte nun alle seine Hoffnungen aufgeben. Die Kette gehörte Jekub. Das vermutete er jedenfalls, weil sie in einem gelben Kasten an Jekubs Seite gelegen hatte. Andererseits, dachte er nicht ohne Stolz, ist die Kette noch immer heil. Sie hat gehalten, im Gegensatz zum Schloß.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Grimma. »Die Menschen sehen doch, daß sie hier unerwünscht sind. Warum bestehen sie trotzdem darauf, zum Steinbruch zu kommen?«

»Wenn sie Steine suchen …«, meinte Sacco. »Davon gibt’s auch woanders genug.« Der Mensch zog das Tor weit genug auf, um zur anderen Seite zu gelangen.

»Bestimmt geht er zum Verwalterbüro«, sagte Sacco.

»Bestimmt macht er Geräusche am Telefon.«

»Nein«, erwiderte Dorcas fest.

»Bestimmt spricht er mit Anordnung«, fuhr Sacco fort. »Er wird ihm sagen – auf Mensch, meine ich –, er wird ihm sagen: ›Einige unserer Reifen sind platt.‹«

»Nein«, wiederholte Dorcas. »Er wird sagen: ›Warum funktioniert das Telefon nicht?‹«

»Warum funktioniert das Telefon nicht?« fragte Nooty.

»Weil ich weiß, welche Drähte man durchschneiden muß«, antwortete Dorcas. »Seht nur, jetzt verläßt er das Verwalterbüro.« Sie beobachteten, wie der Mensch zwischen den Hütten umherschritt. Schnee verhüllte die kläglichen Versuche der Wichte, den Ackerbau zu erlernen, doch im Weiß auf dem Boden zeigten sich viele kleine Fußabdrücke, wie Vogelspuren.

Der Mensch schien sie nicht zu bemerken. Menschen bemerkten fast nie etwas.

»Stolperdrähte«, sagte Grimma.

»Was?« fragte Dorcas.

»Stolperdrähte. Wir sollten Stolperdrähte spannen. Menschen sind groß. Und je größer man ist, desto unangenehmer wird es, das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen.«

»Hoffentlich fallen die Menschen nicht auf uns«, kommentierte Dorcas besorgt.

»Nein. Und wir könnten noch mehr Nägel verwenden«, fügte Grimma hinzu.

»Meine Güte!«

Die Menschen standen vor dem Laster mit den platten Reifen. Schließlich schienen sie eine Entscheidung zu treffen, gingen zum Land Rover und stiegen ein. Der Lastwagen blockierte den Weg – das Fahrzeug rollte zurück, wendete an einer Feldzufahrt und verschwand in Richtung Straße.

Der Laster stand auch weiterhin am Tor. Dorcas ließ den angehaltenen Atem entweichen. »Ich habe befürchtet, daß jemand von ihnen hierbleibt«, brummte er.

»Sie kommen wieder«, sagte Grimma. »Darauf hast du selbst hingewiesen. Die Menschen kehren zurück und bringen irgendwie die Reifen in Ordnung.«

Dorcas nickte. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren und uns sputen. Also los.« Er stand auf und lief zum Weg. Sacco hörte überrascht, daß der Ingenieur leise pfiff.

»Nun, wir müssen dafür sorgen, daß die Menschen den Lastwagen nicht bewegen können«, sagte Dorcas zu seinen Begleitern, die Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. »Wenn er an Ort und Stelle stehenbleibt, blockiert er den Weg. Und wenn er den Weg blockiert, ist es den Menschen nicht möglich, irgendwelche Maschinen in den Steinbruch zu bringen.«

»Gut«, meinte Grimma, doch es klang ein wenig verwirrt.

»Zuerst die Batterie«, entschied Dorcas. »Ohne Batterie kein Strom. Ohne Strom funktioniert bei einem Laster überhaupt nichts.«

»Genau«, bestätigte Sacco.

»Ein großes eckiges Ding«, erklärte der Ingenieur.

»Mindestens acht von euch sind notwendig, um die Batterie zu tragen. Und laßt sie bloß nicht fallen, ganz gleich, was auch passiert.«

»Warum?« fragte Grimma. »Es wäre doch eine gute Idee, die Batterie kaputtzuschlagen, oder?«

»Äh, äh, äh«, stieß Dorcas hervor, wie ein Motor, der nicht ansprang. »Nein, weil, weil, weil es gefährlich sein könnte. Ja.

Gefährlich. Ja. Wegen, wegen, wegen der Säure und so. Die Batterie muß ganz vorsichtig ausgebaut werden, und ich bringe sie dann an einem sicheren Ort unter. Ja. An einem sehr sicheren Ort. Los geht’s. Ihr holt den Schraubenschlüssel.« Dorcas deutete auf zwei Nomen.

Die beiden Wichte eilten fort.

»Und abgesehen von der Batterie?« erkundigte sich Grimma.

»Wir entleeren den Tank«, sagte der alte Ingenieur fest, als sie unter den Lastwagen traten. Er war viel kleiner als jener Laster, den sie bei der Langen Fahrt benutzt hatten, aber er wirkte trotzdem riesig. Dorcas ging noch einige Schritte vor und blieb dann unter dem großen gewölbten Metalleib des Tanks stehen.

Vier junge Nomen holten einen leeren Kanister aus dem Gebüsch. Dorcas rief sie zu sich und deutete auf das gewaltige Gebilde weiter oben.

»Sucht nach einer Schraube. Sie dient dazu, den Treibstoff abzulassen. Dreht sie mit dem Schraubenschlüssel auf. Und stellt vorher den Kanister darunter!« Die jungen Leute nickten begeistert und machten sich an die Arbeit. Wichte sind gute Kletterer und erstaunlich kräftig, wenn man bedenkt, daß sie nicht größer werden als zehn Zentimeter.

»Und achtet darauf, nichts zu verschütten!« rief ihnen Dorcas nach.

»Warum spielt das eine Rolle?« fragte Grimma hinter ihm.

»Wir wollen das Zeug doch nur aus dem Tank holen. Ist es nicht völlig gleich, was anschließend daraus wird?« Sie maß den Ingenieur mit einem nachdenklichen Blick.

Dorcas drehte sich um, blinzelte und überlegte fieberhaft.

»Äh«, sagte er. »Äh. Äh. Weil. Weilweilweil. Äh. Weil…

Treibstoff ist gefährlich. Darf nicht in den Boden gelangen.

Wegen der Umweltverschmutzung. Wir sollten ihn im Kanister aufbewahren und …«

»Und an einem sicheren Ort verstauen?« fragte Grimma mißtrauisch.

»Ja, ja, genau!« Dorcas spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Gute Idee. Komm, gehen wir dorthin …« Er spürte einen plötzlichen Luftzug und hörte ein Pochen: Die Batterie des Lastwagens landete dort, wo sie eben noch gestanden hatten.

»Entschuldige, Dorcas!« rief Sacco von oben. »Sie war viel schwerer, als wir dachten. Wir konnten sie nicht festhalten.«

»Idioten!« entfuhr es Grimma.

»Ja, Idioten seid ihr!« donnerte der Ingenieur. »Vielleicht ist die Batterie beschädigt worden! Kommt runter und bringt sie zur Hecke, in Ordnung?«

»Wir hätten verletzt werden können«, sagte Grimma.

»Ja, ja, ja, genau das meine ich«, erwiderte Dorcas.

»Könntest du hier ein bißchen organisieren? Es sind gute Jungs, aber manchmal übertreiben sie’s mit ihrer Begeisterung, wenn du verstehst, was ich meine.« Er wanderte durch die Schatten, den Kopf weit nach hinten geneigt.

»Nun!« zischte Grimma und beobachtete, wie Sacco und seine Freunde verlegen herabkletterten.

»Steht nicht einfach so herum«, sagte sie. »Zur Hecke mit der Batterie. Hat euch Dorcas nicht gezeigt, wie man mit Hebeln umgeht? Sind sehr wichtig. Es ist erstaunlich, was man mit Hebeln anstellen kann. Während der Langen Fahrt haben wir sie häufig benutzt …« Sie unterbrach sich, blickte zur fernen Gestalt des Ingenieurs und kniff die Augen zusammen.

Er ist schlau, dachte Grimma. Und er hat irgend etwas vor.

»An die Arbeit«, forderte sie die jungen Wichte auf und lief zu Dorcas.

Er stand unter dem Motor des Lastwagens und sah zu einem Durcheinander aus rostigen Rohrleitungen. Als sich Grimma ihm näherte, hörte sie sein Murmeln:

»Nun, was brauchen wir sonst noch?«

»Brauchen?« wiederholte sie. »Wie meinst du denn das?«

»Oh, für Jek …« Dorcas klappte den Mund zu und drehte sich langsam um. »Äh, ich meinte nur… Was ist sonst noch nötig, um dafür zu sorgen, daß sich der Laster nicht mehr bewegen kann?« erklärte er mit steinerner Miene. »Äh, nur darum geht’s mir.«

»Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, den Laster zu fahren, oder?« fragte Grimma.

»Was für eine törichte Vorstellung. Wohin denn? Er könnte doch nicht über die Felder bis zur Scheune rollen.«

»Nun, dann ist ja alles klar.«

»Ich möchte ihn mir nur ansehen.« Dorcas fügte stolz hinzu:

»Man vergeudet nie seine Zeit, wenn man sie nutzt, um zusätzliches Wissen zu sammeln.« Auf der anderen Seite des Lastwagens trat er ins Licht und blickte auf.

»Interessant«, murmelte er.

»Was ist denn?«

»Die linke Tür – sie steht offen. Nun, die Menschen haben sie vielleicht offengelassen, weil sie beabsichtigten, wieder einzusteigen und mit dem Laster wegzufahren.« Grimma starrte ebenfalls nach oben: Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet.

Dorcas sah zur Hecke hinter ihnen.

»Ich schlage vor, wir suchen nach einem Zweig, der lang genug ist«, sagte er. »Dann klettern wir hoch und sehen uns um.«

»Du willst dich dort drin umsehen? Warum denn?«

»Vielleicht finden wir irgend etwas«, entgegnete Dorcas ausweichend. Er wandte sich seinen Assistenten unterm Laster zu.

»Wie kommt ihr zurecht? Wir könnten hier Hilfe gebrauchen.« Sacco wankte heran. »Wir haben es geschafft, das Batterie-Ding bis hinter die Hecke zu bringen«, schnaufte er. »Und der Kanister ist fast voll. Riecht ganz schrecklich. Es strömt noch immer viel aus dem Tank.«

»Könnt ihr die Schraube wieder daran befestigen?«

»Nooty hat’s versucht. Das schmierige Zeug hätte sie fast weggespült.«

»Laßt es einfach auf den Weg fließen«, brummte Dorcas.

»Moment mal«, warf Grimma ein. »Eben hast du gesagt, das sei gefährlich. Stellt der Treibstoff nur eine Gefahr dar, bis der Kanister voll ist – und dann nicht mehr?«

»Du wolltest, daß sich der Laster nicht bewegen kann, und diesen Wunsch habe ich dir erfüllt«, knurrte Dorcas. »Sei jetzt still.« Grimma musterte ihn verblüfft.

»Was hast du gesagt?« fragte sie leise.

Der Ingenieur schluckte. Ach, verdammt, dachte er.

Wenn man schon angeschrien wird, dann sollte es wenigstens einen guten Grund dafür geben.

»›Sei still‹, habe ich gesagt«, antwortete er. »Ich möchte nicht unhöflich sein, doch du gehst immer auf Leute los. Tut mir leid: So ist es nun einmal. Ich helfe dir. Ich bitte dich nicht, mir zu helfen, aber du könntest mich wenigstens in Ruhe zu lassen, anstatt mich dauernd mit irgendwelchen Sachen zu belästigen. Außerdem sagst du nie ›bitte‹ oder ›danke‹. Nomen sind ein wenig wie Maschinen«, fügte Dorcas ernst hinzu, während Grimmas Gesicht rot anlief. »Worte wie ›bitte‹ und ›danke‹ sind wie Schmierfett. Dadurch funktioniert alles besser.

Hast du verstanden?“ Er sah seine Assistenten an, die fast eingeschüchtert wirkten.

»Holt einen Zweig, der lang genug ist, um daran bis zum Führerhaus empozuklettern“, sagte er. „Bitte.“ Die jungen Wichte stürmten los, um der Aufforderung des Ingenieurs nachzukommen.