Kapitel 14
XV. Und die Nomen sprachen: Hier ist unsere neue Heimat, für immer und ewig.
XVI. Und der Draußenler schwieg.
Aus dem Buch der Nomen, Ausgänge,
Kapitel 4, Verse XV-XVI
Es handelte sich um einen alten Steinbruch. Die Nomen wußten das, weil am Tor ein rostiges Schild hing:
Steinbruch, Gefahr. Zutritt verboten.
Sie fanden ihn nach einem langen und verzweifelten Marsch über die Felder. Durch reinen Zufall, behauptete Angalo. Mit Arnold Bros’ (gegr. 1905) Hilfe, versicherte Gurder.
Es spielt keine Rolle, wie sie sich dort niederließen, die alten verfallenen Gebäude fanden. Höhlen und Felshaufen erforschten, Ratten verscheuchten. Das war nicht weiter schwer. Als weitaus schwieriger erwies es sich, die älteren Nomen dazu zu bewegen, nach draußen zu gehen. Oma Morkie trug erheblich zu einer Lösung dieses Problems bei, indem sie vor einer der Höhlen auf und ab stapfte, sich mutig der schrecklichen ›frischen Luft‹ aussetzte.
Hinzu kam: Die aus dem Kaufhaus mitgenommenen Nahrungsvorräte reichten nicht für immer. Die Nomen hungerten – und erinnerten sich bald an die Kaninchen auf den Feldern.
Und ans Gemüse. Es war nicht so rein und sauber, wie es nach dem Willen von Arnold Bros (gegr. 1905) eigentlich sein sollte, steckte vielmehr schmutzig im Boden. Viele Klagen darüber wurden laut. Die Maulwurfshaufen auf dem nächsten Feld stellten nur das Ergebnis des ersten experimentellen Kartoffelbergwerks dar…
Nach einigen recht unangenehmen Erlebnissen lernten Füchse, sich von den Nomen fernzuhalten. Und dann entdeckte Dorcas Elektrizität, die noch immer in Drähten wohnte – sie führten zu einem Kasten in einer der verlassenen Hütten. An sie heranzugelangen und gleichzeitig am Leben zu bleiben, erforderte ebenso gründliche Planung wie die Große Fahrt; man verwendete dabei Besenstiele und Gummihandschuhe.
Masklin überlegte lange und schob das Ding schließlich in die Nähe eines elektrischen Drahts. Einige Lichter flackerten daran, doch es schwieg auch weiterhin. Er glaubte, daß es zuhörte.
Er hörte, wie es lauschte. Nach einer Weile nahm er es fort und verstaute es in einem Mauerspalt. Aus irgendeinem Grund hielt er noch nicht den Zeitpunkt für gekommen, das Ding um Hilfe zu bitten. Je länger wir darauf verzichten, desto mehr Gelegenheit haben wir, unseren eigenen Verstand zu benutzen, dachte er und fand Gefallen an der Vorstellung, es später zu wecken und zu sagen: »Sieh nur, das alles haben wir allein fertiggebracht.« Gurder hatte bereits herausgefunden, daß sie sich vermutlich irgendwo in China befanden.
Aus dem Winter wurde Frühling, und der Frühling ging in den Sommer über…
Aber es war noch nicht vorbei, ahnte Masklin.
Er saß auf den Felsen oberhalb des Steinbruchs und hielt Wache. Es hielt immer jemand Wache, für alle Fälle. Eine von Dorcas’ Erfindungen – ein Schalter, verbunden mit einem Draht, durch den Elektrizität zu einer Glühbirne unter den Schuppen wanderte – lag versteckt unter einem Stein. Der alte Wicht hatte ein Radio in Aussicht gestellt, früher oder später.
Wahrscheinlich früher, denn inzwischen gingen bei ihm viele Schüler in die Lehre. Sie verbrachten viel Zeit in einer der Hütten, hantierten dort mit Drähten und wirkten sehr ernst.
Der Wachdienst erfreute sich großer Beliebtheit, zumindest an sonnigen Tagen.
Eine neue Heimat. Die Nomen richteten sich häuslich ein, streiften umher, planten und begannen damit, sich wohl zu fühlen.
Das galt auch für Bobo. Er verschwand am ersten Tag, kehrte zerzaust und stolz als Anführer der Steinbruchratten und Vater von vielen kleinen Rattenjungen zurück. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, warum Ratten und Wichte gut miteinander auskamen: Sie gingen sich aus dem Weg und verzichteten darauf, sich gegenseitig auf die Speisekarte zu setzen.
Sie gehören mehr hierher als wir, dachte Masklin. Dies ist kein richtiges Zuhause für uns. Menschen haben diesen Ort geschaffen und ihn vergessen, aber irgendwann erinnern sie sich wieder daran. Dann kehren sie zurück. Dann bleibt uns nichts anderes übrig als weiterzuziehen. Immer sind wir auf der Wanderschaft. Immer suchen wir nach unserer eigenen kleinen Welt, im Innern einer viel größeren. Einst hatten wir alles, und jetzt geben wir uns mit einem kleinen Stück davon zufrieden.
Er blickte in den Steinbruch hinab und sah Oma Morkie, die mit einigen jungen Wichten in der Sonne saß und sie das Lesen lehrte.
Eine gute Sache, zweifellos. Masklin fiel es noch immer schwer, geschriebene Worte zu verstehen, aber die Kinder lernten schnell.
Es gab nach wie vor Probleme. Zum Beispiel die Abteilungsfamilien. Es existierten keine Abteilungen mehr, über die sie herrschen konnten, und daher zankten sie sich häufig. Ständig fanden irgendwo Auseinandersetzungen statt, und alle erwarteten von Masklin, den Streit zu schlichten. Offenbar arbeiteten Nomen nur dann zusammen, wenn sie ein gemeinsames Ziel anstrebten…
Jenseits des Mondes, hatte das Ding gesagt. Ihr habt einmal zwischen den Sternen gelebt.
Masklin streckte sich auf dem Boden aus und lauschte den Bienen.
Eines Tages kehren wir zurück. Wir finden einen Weg, um das große Schiff im Himmel zu erreichen, und dann kehren wir zurück. Aber noch ist es nicht soweit. Umfangreiche Vorbereitungen sind notwendig, und der schwierige Teil besteht erneut darin, den Nomen alles begreiflich zu machen. Jedesmal nach dem Erklettern einer Stufe lassen wir uns nieder und glauben, am Ende der Treppe zu sein. Und dann fangen wir wieder an, uns zu zanken.
Trotzdem: Es ist bereits ein guter Anfang zu wissen, daß die Sterne dort oben auf uns warten.
Von hier aus konnte Masklin viele Kilometer weit übers Land sehen. Bis hin zum Flughafen. Er erinnerte sich an das allgemeine Erschrecken, als sie den ersten Jet sahen, doch mehrere Wichte entsannen sich an Bilder in den Büchern, die sie gelesen hatten. Sie meinten, es sei nur eine Art Lastwagen, der am Himmel fuhr.
Masklin erklärte nicht, warum er es für eine gute Idee hielt, mehr über den Flughafen herauszufinden. Er wußte, daß einige der anderen etwas argwöhnten, aber es gab soviel zu tun, daß sie kaum darüber nachdachten.
Er war ganz vorsichtig zu Werke gegangen, indem er darauf hinwies, wie wichtig es sei, möglichst viel über diese neue Welt zu erfahren. Er wählte seine Worte mit großer Sorgfalt, um Fragen nach dem Warum vorzubeugen. Niemand erhob Einwände – es standen genug Nomen zur Verfügung, und das Wetter war gut. Masklin führte eine Erkundungsgruppe über die Felder. Die Reise dauerte eine Woche, doch der Trupp bestand aus dreißig Personen, und deshalb ergaben sich keine besonderen Schwierigkeiten. Sie mußten sogar eine Autobahn überqueren, doch glücklicherweise war es nicht nötig, sich auf den Asphalt zu wagen. Ein für Dachse gebauter Tunnel ermöglichte es ihnen, zur anderen Seite zu gelangen. Unterwegs begegneten sie einem Dachs, der jedoch sofort weglief, als er sie sah. Schlechte Nachrichten wie bewaffnete Nomen sprachen sich rasch herum.
Und dann fanden sie einen Drahtzaun, kletterten daran herauf und beobachteten stundenlang, wie Flugzeuge landeten und starteten.
Dabei entstand ein inzwischen schon vertrautes Gefühl in Masklin: Einmal mehr glaubte er, etwas Wichtiges zu sehen.
Die Jets schienen groß und gräßlich zu sein, aber Lastwagen hatten zunächst den gleichen Eindruck erweckt. Man mußte nur über sie Bescheid wissen. Wenn man den richtigen Namen kannte, so wurde man damit fertig, hielt eine Art Hebel in der Hand. Eines Tages mochten Flugzeuge nützlich sein. Eines Tages brauchen wir sie vielleicht.
Für den nächsten Schritt.
Seltsamerweise spürte Masklin Optimismus und Zuversicht.
Einmal prickelte herrliche Gewißheit in ihm: Nomen stritten, zankten, behinderten sich gegenseitig und neigten zu den dümmsten aller dummen Fehler, aber letztendlich würden sie es schaffen. Denn auch Dorcas hatte die Flugzeuge beobachtet, während er sich am Drahtzaun festhielt, und er wirkte dabei sehr nachdenklich. Masklin fragte ihn: »Angenommen – nur einmal angenommen, mehr nicht –, wir müßten einen fliegen – den Lastwagen stehlen … Kämen wir damit zurecht?«
Dorcas rieb sich das Kinn.
»Es sollte eigentlich nicht zu schwer sein, sie zu fahren«, erwiderte er und lächelte. »Immerhin haben sie nur drei Räder.«