Kapitel 12
IV. Es gibt keine Zuflucht für uns, und doch müssen wir aufbrechen.
Aus dem Buch der Nomen, Ausgänge,
Kapitel 3, Vers IV
»Kaninchen, dachte ich«, sagte Grimma. Dorcas klopfte ihr auf die Hand.
»Ausgezeichnet«, krächzte er.
»Wir standen mitten auf dem Weg, als Sacco uns verließ«, erzählte Nooty. »Und es wurde immer kälter, und Dorcas bat uns, ihn zur anderen Seite der Hecke zu bringen, und ich sagte, daß man manchmal Kaninchen auf dem Feld sehen kann, und daraufhin sagte er: Sucht einen Kaninchenbau. Tja, und wir fanden einen. Ich dachte schon, wir müßten hier die ganze Nacht verbringen.«
»Au!« stöhnte Dorcas.
»Stell dich nicht so an«, erwiderte Oma Morkie fröhlich, als sie das Bein untersuchte. »Wenn du glaubst, das tut weh …
Dann hast du gar keine Ahnung, was Schmerzen sind. Nun, scheint nichts gebrochen zu sein. Nur eine scheußliche Verstauchung.« Die Kaufhaus-Wichte sahen sich interessiert und auch mit einer gewissen Anerkennung im Bau um. Hier gab es ordentliche Wände.
»Eure Vorfahren haben wahrscheinlich in solche Höhlen gelebt«, sagte Grimma. »Natürlich mit Regalen und so.«
»Hübsch«, meinte ein Nom. »Gemütlich. Fast wie unter dem Boden.«
»Allerdings riecht es hier drin«, kritisierte ein anderer.
»Das liegt an den Kaninchen.« Dorcas nickte dorthin, wo die Dunkelheit dunkler wurde. »Wir haben sie gehört, aber sie halten sich von uns fern. Übrigens: Nooty erwähnte einen Fuchs, der draußen herumgeschnüffelt hat.«
»Wir sollten so schnell wie möglich zurückkehren«, sagte Grimma. »Ich glaube nicht, daß sich ein Fuchs dazu hinreißen ließe, uns anzugreifen. Immerhin: Die hiesigen Füchse kennen uns. Friß einen Wicht und stirb – das haben sie gelernt.«
Die Nomen scharrten mit den Füßen. Grimma hatte natürlich recht, doch in diesem Zusammenhang gab es ein Problem: Der betreffende Wicht wurde trotzdem gefressen, und sicher tröstete es ihn kaum zu wissen, daß der Fuchs anschließend dafür büßen würde.
Außerdem: Sie waren durchnäßt und froren. Im Steinbruch hätte ein Kaninchenbau sicher keinen großen Reiz auf sie ausgeübt, aber jetzt schien er wesentlich attraktiver zu sein als die entsetzliche Nacht. Sie riefen in die Finsternis und stapften an mehreren Kaninchenlöchern vorbei. Nach einer Weile hörten sie Nootys Stimme.
»Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß wir uns keine allzu großen Sorgen machen müssen«, sagte Grimma.
»Füchse lernen schnell, nicht wahr, Oma?«
»Wie bitte?« erwiderte Oma Morkie.
»Ich habe gerade darauf hingewiesen, daß Füchse schnell lernen«, wiederholte Grimma sichtlich verzweifelt.
»O ja, da hast du recht«, bestätigte Oma. »Der durchschnittliche Fuchs scheut keine Mühen, um seine Zähne in etwas Leckeres zu bohren. Vor allem bei kaltem Wetter.«
»Das meinte ich nicht! Warum drückst du dich immer so aus, daß alles schlimm klingt?«
»Das war keineswegs meine Absicht«, entgegnete Oma Morkie und schniefte.
»Wir müssen zum Steinbruch zurück«, betonte Dorcas.
»Dieser Schnee wird nicht einfach so verschwinden, oder? Ich komme zurecht, wenn ich mich auf etwas stützen kann.«
»Wir könnten eine Bahre für dich bauen«, schlug Grimma vor. »Obwohl… Ich weiß gar nicht, ob die Rückkehr zum Steinbruch lohnt.«
»Wir haben gesehen, wie Menschen über den Weg fuhren«, sagte Nooty. »Aber wir mußten durch den Dachstunnel gehen, und der Pfad war nicht mehr zu erkennen. Dann versuchten wir, das Feld zu überqueren, was sich als Fehler herausstellte, wegen der tiefen Furchen im Acker. Und wir hatten nichts zu essen«, fügte sie hinzu.
»Gebt euch keinen übermäßigen Hoffnungen hin«, wandte Grimma ein. »Die Menschen haben kaum etwas von unseren Vorräten übriggelassen. Sie halten uns für Ratten.«
»Nun, das ist nicht weiter schlimm«, kommentierte Dorcas.
»Im Kaufhaus haben wir sie dazu ermutigt, uns für Ratten zu halten. Sie stellten Fallen auf. Als ich ein junger Bursche war, jagten wir Ratten im Keller, und dann führten wir sie zu den Fallen.«
»Jetzt benutzen die Menschen vergiftetes Essen«, sagte Grimma.
»Das gefällt mir nicht.«
»Komm. Bringen wir dich heim.«
Draußen schneite es noch immer, aber die Flocken fielen jetzt nicht mehr so dicht und erweckten den Eindruck, aus einem billigen Sonderangebot zu stammen. Am östlichen Horizont zeigte sich eine rote Linie – nicht die Morgendämmerung, sondern nur ein erster Hinweis darauf. Das Licht wirkte alles andere als heiter und fröhlich. Wenn die Sonne aufging, würde sie in einem Kerker aus Wolken gefangen sein.
Die Nomen sammelten einige Wiesenkerbel-Halme und konstruierten für Dorcas eine Art Stuhl, den vier Wichte tragen konnten. An der windgeschützten Seite der Hecke lag tatsächlich weniger Schnee, doch dafür hielt sie ein Durcheinander aus welken Blättern, Zweigen und anderen Dingen bereit. Dadurch kam die Gruppe nur langsam voran.
Für Menschen ist alles viel leichter, dachte Grimma, als handlange Dornen ihre Kleidung zerrissen. Masklin hat recht: Diese Welt gehört ihnen. Alle Dinge haben genau die richtige Größe für sie. Die Menschen können jeden beliebigen Ort aufsuchen; niemand vertreibt sie. Wir glauben, frei zu sein, aber wir leben doch nur in abgelegenen Winkeln der Welt, zum Beispiel unter dem Fußboden und so. Und wir stehlen den Menschen auch dies und jenes, um zu überleben.
Die übrigen Wichte schlurften in müdem Schweigen. Die einzigen Geräusche – abgesehen vom Knirschen des Schnees und der Blätter unter Nomenfüßen – stammten von Oma Morkie, die sich eine Mahlzeit genehmigte. Sie hatte Weißdornbeeren gefunden und kaute sie mit offensichtlichem Genuß. Ihre Begleiter lehnten die bitteren Früchte ab.
»Wahrscheinlich muß man sich an ihren Geschmack gewöhnen«, brummte Oma und sah Grimma an.
Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dachte Grimma und ignorierte Oma Morkies beleidigten Blick.
Wenn wir zurück sind… Unsere einzige Chance besteht darin, den Steinbruch in kleinen Gruppen zu verlassen, aufs Land zu ziehen, wieder in Kaninchenbauten zu leben und uns von den Dingen zu ernähren, die wir irgendwo finden. Einigen Gruppen gelingt es vielleicht, den Winter zu überstehen, wenn die Alten gestorben sind.
Es bedeutet: Wir müssen Abschied nehmen von Elektrizität, von Büchern, von Bananen …
Aber ich bleibe im Steinbruch, bis Masklin zurückkehrt.
»Kopf hoch, Mädchen.« Oma Morkie versuchte, freundlich zu lächeln. »Sei nicht so trübsinnig. Ich sage immer: Vielleicht passiert’s nie.« Selbst Oma war bestürzt, als Grimma ihr ein Gesicht zuwandte, das ebenso weiß zu sein schien wie der Schnee. Die junge Nomin klappte den Mund auf und schloß ihn wieder.
Dann sank sie langsam auf die Knie und schluchzte. Die Wichte hatten nie zuvor etwas Schrecklicheres gehört. Grimma schrie, schimpfte, rügte und befahl. Es war völlig falsch, daß sie weinte; dadurch stand die ganze Welt Kopf.
»Ich wollte sie nur ein wenig aufmuntern«, murmelte Oma Morkie.
Die verlegenen Nomen bildeten einen Kreis, und niemand von ihnen wagte es, sich Grimma zu nähern. Jetzt war alles möglich. Wenn ihr jemand auf die Schulter klopfte und ›Na, na‹ sagte – wer weiß, was dann geschehen mochte? Vielleicht biß sie die Hand ab oder so. Dorcas musterte die Wichte rechts und links, seufzte und stand mühsam auf. Er humpelte zu Grimma und hielt sich an einem Dornzweig fest.
»Du hast uns gefunden, und jetzt kehren wir zum Steinbruch zurück, und dann ist alles in Ordnung«, sagte er in einem beruhigenden Tonfall.
»Eben nicht! Wir müssen weiterziehen!« Die Nomin schluchzte erneut. »Ihr hättet im Kaninchenbau bleiben sollen!
Es wird alles noch viel schlimmer!«
»Nun, ich schätze, jetzt übertreibst du ein bißchen…«, begann Dorcas.
»Wir haben nichts zu essen, und wir können die Menschen nicht aufhalten, und wir sitzen im Steinbruch fest, und ich habe versucht, alle zusammenzuhalten, und jetzt kommt’s noch viel schlimmer!«
»Wir hätten sofort zur Scheune gehen sollen«, meinte Nooty.
»Diese Möglichkeit besteht nach wie vor«, erwiderte Grimma. »Für die jungen Nomen. Flieht von hier. Bevor die Menschen kommen.«
»Aber die Kinder können den weiten Weg bis zur Scheune nicht zurücklegen«, gab Dorcas zu bedenken. »Und für die Alten stellt der Schnee ein unüberwindliches Hindernis dar.
Das weißt du, Grimma. Du bist nur verzweifelt.«
»Wir haben alles versucht! Und trotzdem wird es immer schlimmer! Wir dachten, es sei herrlich, im Draußen zu leben, aber jetzt holt uns die bittere Wirklichkeit ein!« Dorcas starrte sie verblüfft an.
»Es hat keinen Sinn mehr«, fuhr Grimma fort. »Wir sollten aufgeben. Wir sollten einfach aufgeben und hier sterben.«
Entsetzte Stille folgte.
Schließlich brach Dorcas das Schweigen.
»Äh«, sagte er. »Äh. Ist das dein Ernst? Ich meine, ist das dein ernster Ernst?« Sein Tonfall veranlaßte Grimma, den Kopf zu heben. Alle Nomen beobachteten sie.
Und ein Fuchs blickte auf die Wichte hinab. Es handelte sich um eine von jenen Gelegenheiten, die dafür sorgt, daß sich Sekunden wie ein Gummiband dehnen. Grimma sah das gelb-grüne Glühen in den Augen des Tiers, den zu einer grauen Wolke kondensierenden Atem. Die Zunge baumelte aus dem Maul. Der Fuchs schien überrascht zu sein.
Er war neu in dieser Gegend und noch nie zuvor Nomen begegnet. Sein nicht sehr komplexer Verstand sah sich nun mit einem für ihn recht erstaunlichen Phänomen konfrontiert: Die Gestalt der Wichte – zwei Arme, zwei Beine, oben ein Kopf – erinnerte an Menschen, und Menschen bedeuteten normalerweise Gefahr; doch die Größe entsprach genau der eines Bissens.
Grauen lähmte Dorcas und die anderen. Ein Fluchtversuch war völlig sinnlos: Füchse hatten doppelt so viele Beine, um fliehende Wichte zu verfolgen. Man konnte ohnehin nicht entkommen – warum vor dem Tod außer Atem geraten?
Etwas knurrte.
Die Nomen stellten erstaunt fest, daß dieses Geräusch von Grimma stammte.
Sie ergriff Oma Morkies Gehstock, trat vor und schlug ihn auf die Nase des Fuchses. Das Tier jaulte und blinzelte dumm.
»Verschwinde!« rief Grimma. »Wie kannst du es wagen, uns zu belästigen!« Sie schlug erneut zu. Ihr Opfer duckte sich, neigte den Kopf zur Seite. Die junge Nomin trat einen weiteren Schritt vor, und ihr dritter Hieb traf das Tier an der Schnauze.
Der Fuchs rang sich zu einer Entscheidung durch. Weiter unten an der Hecke gab es Kaninchen, und Kaninchen schlugen nicht mit Stöcken. Kaninchen waren viel friedlicher.
Er heulte und wich zurück, ohne Grimma aus den Augen zu lassen. Dann drehte er sich rasch um, lief fort und verschwand in der Dunkelheit.
Die Nomen atmeten auf.
»Meine Güte«, hauchte Dorcas.
»Tut mir leid, aber ich kann Füchse einfach nicht ausstehen«, brachte Grimma hervor. »Und Masklin meinte immer, wir müßten ihnen zeigen, wer der Boß ist.«
»Ich erhebe keine Einwände«, erwiderte Dorcas.
Grimma betrachtete den Gehstock.
»Was habe ich vorhin gesagt?« fragte sie.
»Du hast gesagt, wir sollten aufgeben und hier sterben«, antwortete Oma Morkie.
Grimma starrte sie an. »Nein, habe ich nicht. Ich war nur müde und abgespannt, das ist alles. Kommt. Wir holen uns den Tod, wenn wir noch länger herumstehen.«
»Oder der Tod holt uns.« Sacco starrte in die Finsternis und stellte sich vor, daß überall Füchse lauerten.
»Das ist nicht komisch«, schnappte Grimma und schritt fort.
»Es sollte auch gar nicht komisch sein«, entgegnete Sacco und schauderte.
Weit oben, von den Wichten unbemerkt, glitt ein sonderbarer Stern im Zickzack über den Himmel. Er wirkte recht klein.
Oder vielleicht sah er nur klein aus, weil er weit entfernt war.
Wenn man ihn aufmerksam genug beobachtete, erwies er sich als Scheibe. Aufgrund seiner Gegenwart wurden überall auf der Welt Nachrichten durch die Luft geschickt.
Er schien nach etwas zu suchen.
Lichter flackerten im Steinbruch, als sie zurückkehrten. Mehrere andere Nomen wollten gerade aufbrechen, um nach ihnen zu suchen. Die Vorstellung, durch Schnee und Nacht zu stapfen, erfüllte sie zwar nicht mit Begeisterung, aber sie hatten das Verwalterbüro dennoch verlassen, um draußen Ausschau zu halten.
Die Nomen jubelten, als sie erfuhren, daß alle Vermißten überlebt hatten, und angesichts der allgemeinen Freude vergaß Grimma fast den Umstand, daß sie sicher zu einem sehr unsicheren Ort zurückgekehrt waren. Das Buch mit den Sprichwörtern enthielt einen Satz, der alles zusammenfaßte. Es ging dabei um Regen und eine Traufe, was auch immer das sein mochte. Grimma führte die Rettungsgruppe ins Büro und hörte zu, als Sacco das Abenteuer in allen Einzelheiten beschrieb und sich dabei immer wieder unterbrechen mußte, um Zwischenfragen zu beantworten. Er schilderte, wie der erschrockene Dorcas aus dem Lastwagen sprang und gerade noch rechtzeitig von den Schienen getragen wurde, bevor der Zug herankam.
Anschließend erzählte er vom langen Marsch bis zum Weg. Es klang alles überaus mutig und aufregend. Und sinnlos, dachte Grimma, doch diesen Gedanken behielt sie für sich.
»Eigentlich war es gar nicht so schlimm«, sagte Sacco. »Ich meine, vom Laster blieb kaum etwas übrig, aber der Zug blieb auf den Gleisen. Wir haben alles genau gesehen«, beendete er seinen Vortrag. »Und ich bin halb verhungert.« Sein strahlendes Lächeln verblaßte wie das Tageslicht nach dem Sonnenuntergang.
»Es gibt nichts zu essen?« fragte er.
»Noch viel weniger«, antwortete ein Nom. »Wenn du uns Brot besorgst, könnten wir es mit Schnee belegen.« Sacco dachte darüber nach.
»Die Kaninchen«, sagte er. »Die Kaninchen auf dem Feld…«
»Es ist dunkel draußen«, murmelte Dorcas. Er schien über irgend etwas nachzudenken.
»Äh, ja«, gestand Sacco ein.
»Und im dunklen Draußen treibt sich ein Fuchs herum«, warnte Nooty.
Grimma entsann sich an ein anderes Sprichwort. »In der Not frißt der Teufel Fliegen.« Die anderen Wichte musterten sie im unsteten Schein brennender Streichhölzer.
»Der Teufel?« Nooty runzelte die Stirn. »Wer ist das?«
»Eine schreckliche Person, die tief im Boden lebt, an einem sehr heißen Ort«, erklärte Grimma. »Glaube ich.«
»Wie der Kesselraum im Kaufhaus?«
»Vielleicht.«
»Und er frißt Fliegen?« erkundigte sich Sacco verwundert.
»Ich bezweifle, ob er wirklich Fliegen verspeist«, sagte Grimma. »Wahrscheinlich bedeutet es: Wenn man überhaupt nichts hat, begnügt man sich mit Dingen, die man sonst verschmäht.«
»Aber ausgerechnet Fliegen …« Dorcas hüstelte. Er wirkte beunruhigt. Nun, alle waren beunruhigt, doch als die Beunruhigung verteilt wurde, hatte der Ingenieur offenbar eine doppelte Portion erhalten.
»Na schön«, brummte er.
Irgend etwas in seiner Stimme weckte die Aufmerksamkeit der Nomen.
»Begleitet mich«, sagte er. »Und glaubt mir: Ich bedauere sehr, daß dies nötig wird.«
»Wohin sollen wir dich denn begleiten?« fragte Grimma.
»Zu den alten Schuppen an der Klippe«, erwiderte Dorcas.
»Aber sie könnten jederzeit einstürzen. Du hast immer wieder darauf hingewiesen, wie gefährlich sie sind.«
»Das stimmt auch. Sie sind gefährlich. Sie enthalten viele Dinge, die Kinder nicht anrühren sollten und so …« Der Ingenieur zupfte sich nervös am Bart.
»Aber«, sagte er. »Aber es gibt dort auch noch etwas anderes. Etwas, an dem ich gearbeitet habe. In gewisser Weise.« Er begegnete Grimmas Blick. »Etwas, das mir gehört. Nie zuvor habe ich etwas Phantastischeres gesehen. Es ist noch besser als Frösche in einer Blume.« Er hüstelte erneut. »Wie dem auch sei: Dort mangelt es nicht an Platz. Der Boden besteht nur aus Erde, doch die Schuppen sind groß, und, äh, man kann sich dort gut verstecken.«
Das Schnarchen des Menschen ließ die ganze Hütte erzittern.
»Außerdem möchte ich dem Ding dort nicht mehr so nahe sein«, fügte Dorcas hinzu.
Die anderen Nomen murmelten zustimmend. »Habt ihr euch schon überlegt, was ihr damit anstellen wollt?« fragte der Ingenieur.
»Einige von uns wollten den Gefangenen töten, aber ich halte das nicht für eine gute Idee«, antwortete Grimma. »Die übrigen Menschen wären sicher sehr verärgert.«
»Darüber hinaus scheint es nicht richtig zu sein«, sagte Dorcas.
»Ich weiß, was du meinst.«
»Nun, was fangen wir mit ihm an?«
Grimma sah in das riesige Gesicht. Alles war riesig: jede Pore, jedes einzelne Haar. Seltsam: Für kleinere Geschöpfe, zum Beispiel für Ameisen, mochte das Gesicht eines Wichts ähnlich aussehen. Wenn man genauer darüber nachdachte: Klein und Groß wurden von der jeweiligen Perspektive bestimmt, insbesondere von den eigenen Ausmaßen.
»Wir lassen ihn hier«, sagte Grimma schließlich.
»Aber… Haben wir Papier?«
»Auf dem Schreibtisch liegt jede Menge«, erwiderte Nooty.
»Bitte hol einen Zettel. Dorcas, du hast doch immer etwas zu schreiben dabei, nicht wahr?« Der Ingenieur suchte in seinen Taschen und fand einen Brocken Bleistiftgraphit.
»Geh vorsichtig damit um«, mahnte er. »Vielleicht kann ich mir nicht mehr davon beschaffen.«
Kurze Zeit später kam Nooty mit einem gelben Stück Papier zurück. Ganz oben bildeten dicke schwarze Buchstaben die Worte: Blackbury Sand & Kies GmbH. Darunter stand: Rechnung.
Grimma überlegte einige Sekunden lang, befeuchtete den Graphitstummel und begann zu schreiben.
»Was machst du da?« fragte Dorcas.
»Ich bemühe mich, mit dem Menschen zu kommunizieren«, erläuterte die junge Nomin. Sie konzentrierte sich und malte ein neues Wort.
»Ich habe immer gedacht, daß es einen Versuch wert ist«, sagte Dorcas. »Aber hältst du dies für den geeigneten Zeitpunkt?«
»Ja«, bestätigte Grimma und beendete das letzte Wort.
»Was meinst du?« Sie reichte Dorcas den Graphitbrocken und hob das Stück Papier.
Einige Buchstaben waren ein wenig krakelig, und die Worte verrieten, daß sich Grimma mit dem Lesen besser auskannte als mit Grammatik und Rechtschreibung. Doch die beiden Sätze vermittelten eine klare, unmißverständliche Botschaft.
Dorcas las. »Ich hätte mich anders ausgedrückt.«
»Mag sein. Aber dies habe ich geschrieben.«
»Ja.« Der Ingenieur neigte den Kopf zur Seite. »Nun, es handelt sich eindeutig um Kommunikation. Mehr Kommunikation ist kaum möglich. Ja.«
Grimma trachtete danach, zuversichtlich zu klingen, als sie sagte: »Führ uns jetzt zu den Schuppen.«
Zwei Minuten später befanden sich keine Nomen mehr im Verwalterbüro. Der Mensch lag auf dem Boden und schnarchte, die eine Hand ausgestreckt. Die Finger hielten jetzt ein Stück Papier.
Darauf stand: Blackbury Sand & Kies GmbH. Und darunter: Rechnung.
Und darunter: Wir häten dich uhmbringen könen. LAS UNS IN RUHE.
Draußen wich die Nacht dem Morgengrauen, und es schneite nicht mehr.
»Bestimmt fallen den Menschen unsere Fußspuren auf«, sagte Sacco. »So viele Spuren können sie gar nicht übersehen.«
»Spielt keine Rolle«, erwiderte Dorcas. »Es kommt nur darauf an, daß niemand zurückbleibt.«
»Bist du sicher?« fragte Grimma. »Bist du sicher, daß es eine gute Idee ist?«
»Nein.«
Sie schlossen sich den anderen Nomen an, die durch einen Riß im Wellblech kletterten. Kurz darauf standen sie in dem riesigen Schuppen.
Grimma sah sich um. Rost und Zeit hatten große Löcher in Wände und Decke gefressen. Alte Büchsen und Drahtrollen lagen in den Ecken, neben seltsam geformten Metallteilen und Marmeladengläsern, die Nägel enthielten. Alles roch nach Öl.
Nach einer Weile wandte sich Grimma an den Ingenieur.
»Wo ist das Ding, das du uns zeigen willst?« Dorcas deutete in die Schatten am Ende des Schuppens, und dort bemerkte die junge Nomin ein unförmiges Gebilde.
»Sieht aus wie – wie ein großes Tuch.«
»Das, äh, Objekt steht darunter. Sind alle da?« Dorcas hob die Hände trichterförmig vor den Mund. »Sind alle da?« rief er. Dann drehte er sich zu Nooty um. »Ich muß wissen, wo alle sind. Ich möchte nicht, daß sich jemand fürchtet, aber wir sollten vermeiden, daß irgendwelche Leute im Weg stehen.«
»Im Weg?« wiederholte Grimma. Dorcas schenkte ihr keine Beachtung.
»Sacco, nimm dir einige Jungs und hol die Sachen aus der Hecke«, sagte er. »Wir brauchen die Batterie, und ich weiß nicht, ob der Treibstoff genügt.«
»Dorcas!« Grimma klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Was geht hier vor?« Manchmal passierte so etwas mit dem Ingenieur. Wenn er an Maschinen und mechanische Dinge dachte, ignorierte er andere Nomen. Dann veränderte sich auch seine Stimme.
Er richtete den Blick so auf Grimma, als sähe er sie jetzt zum erstenmal. Einige Sekunden später blickte er auf seine Füße.
»Begleite mich«, sagte er langsam. »Ich, äh, zeig’s dir. Erklär den anderen alles. Das kannst du viel besser als ich.«
Grimma folgte ihm über den kalten Boden, während immer mehr Wichte in den Schuppen kamen und sich nervös an den Wänden zusammendrängten.
Dorcas führte sie unter die Plane, die eine große staubige Höhle formte.
Eine Art Lastwagenreifen ragte vor ihnen auf, doch er wies zahlreiche seltsame Vorsprünge auf. »Oh, ein Laster«, sagte Grimma unsicher. »Du hast hier einen Laster, nicht wahr?«
Dorcas schwieg und deutete stumm nach oben. Die junge Nomin hob den Kopf. Und dann noch etwas mehr. Sie starrte in den geöffneten Rachen von Jekub.