Mutprobe

»Das Mädchen sah genau so aus wie ich. Haargenau so. Ich schwöre es euch! Und sie hat … sie hat mich …« Andy hörte Elke schweigend zu, die unvermittelt abbrach und wieder zu schluchzen begann. Sie saß in eine Decke gehüllt auf der Parkbank, während Robert nervös eine Selbstgedrehte qualmte, die er in seiner Handmuschel verborgen hielt. Inzwischen war es längst dunkel im Perchtal. Vom Himmel wirbelten dicke Schneeflocken herab, die die Sicht auf den verschatteten Perchtensee schwierig machten und zu dem Eindruck beitrugen, als spanne sich die kaltschwarze Fläche vor ihnen scheinbar ins Nirgendwo. Sie froren, doch keiner von ihnen war bereit zu gehen. Auch Robert, Niklas und Miriam starrten immer wieder hinüber zum Seeufer, wo Elke die Leiche im Eis entdeckt hatte. Dort war der unruhige Schein von Taschenlampen zu sehen.

Die freiwillige Feuerwehr aus dem Ort war längst mit Spitzhacken und Schaufeln angerückt und hatte die Stelle mit rotweißen Bändern abgesperrt. Bürgermeister Schober war erschienen, ebenso Doktor Bayer, obwohl der eigentlich Tierarzt war. Von den Männern abgesehen standen ein gutes Dutzend weiterer Schaulustiger auf der Eisfläche, die hergekommen waren, kaum dass sich die Nachricht vom Leichenfund herumgesprochen hatte. Sogar der alte Hoeflinger war unter ihnen und starrte mit seinen halbblinden Augen hinaus auf den See. Konrad und seine Bande, die ebenfalls geblieben waren, rissen gelegentlich geschmacklose Witze. Andreas ignorierte die vier, doch auch er beäugte interessiert die Bergungsarbeiten. Inzwischen konnte man hören, wie drüben an der Fundstelle eine Motorsäge angeworfen wurde.

»Und du bist dir sicher, dass du dich nicht geirrt hast?«, hub Andreas beruhigend an.

»Ja, doch!« Elke entzog sich ihm verärgert und wirkte so, als wolle sie etwas hinzufügen. Stattdessen schlang sie die Decke nur noch fester um sich und schniefte. »Die sah aus wie ich. Wenn ich es doch sage.«

Andreas blickte zu Robert auf, der lediglich mit den Schultern zuckte und seine Zigarette in den Schnee warf. Andreas hatte bereits mit ihm gesprochen. Ebenso wie er selbst hatte auch Robert keine Details unter der Eisfläche ausmachen können. Dafür war es bereits zu dunkel gewesen. Mehr hatte auch Roman Köhler nicht zugelassen. Sobald er selbst bei der Fundstelle erschienen war, hatte er sie auch schon fortgescheucht, um die Honoratioren im Ort zu informieren. Die Sache war ehrlich gesagt auch so gruselig genug.

Zwei der Männer stapften nun über die verschneite Eisfläche auf sie zu. Es handelte sich um Köhler in Begleitung von Doktor Bayer. Ihr Lehrer nickte ihnen knapp zu, während der Arzt sich vor Elke hinkniete.

»Du bist das Bierbichler-Mädchen, das die Tote gefunden hat?« Elke schniefte und nickte. »Geht’s dir gut? Ich kann dir was geben, wenn du möchtest.«

»Nee, geht schon.«

Bayer strich sich nachdenklich über den Schnauzbart und kramte dann ein Pillendöschen aus seinem Arztkoffer. »Das ist pflanzlich. Ein Beruhigungsmittel. Du nimmst am besten jetzt zwei und nachher noch eine, in Ordnung? Und wenn später was ist, dann kommst du in meine Praxis. Ihr wisst doch, wo ich praktiziere?«

»Ja, wissen wir«, erklärte Miriam. »Wir hatten doch früher mal einen Hund.«

»Weiß man schon, wer die Tote ist?«, wollte Andreas wissen.

»Nein, wissen wir nicht«, antwortete Köhler knapp. »Sie holen sie gerade erst aus dem Eis. Sie scheint aber mit der Schneeschmelze vor ein paar Tagen in den See gespült worden zu sein, so dicht, wie der Körper am Bachbett liegt.«

»Wann kommt eigentlich die Polizei?«, fragte Niklas. »Hat die niemand angerufen?«

»Doch, natürlich«, erklärte Doktor Bayer und schloss seine Tasche wieder. »Aber es wird wohl noch etwas dauern, bis sich die Beamten zu uns durchgeschlagen haben. Über Berchtesgaden wütet zurzeit ein heftiger Schneesturm, der fast den ganzen Verkehr im Umland lahmgelegt hat. Bis die Straße nach Perchtal freigeräumt ist, wird es wohl noch eine Weile dauern.« Er seufzte. »So, und jetzt schlage ich vor, dass ihr nach Hause geht. Hier gibt es eh nichts mehr zu sehen.« Er berührte Elke mitfühlend an der Schulter, dann begaben sich die beiden Männer wieder zur Fundstelle.

»Toll, was sollen wir denn jetzt zu Hause unseren Eltern sagen?«, klagte Miriam. »Die wissen doch gar nicht, dass wir am See waren. Wenn die hören, dass Elke die Tote entdeckt hat, dann wird Vater ausrasten.«

»Könnt ihr nicht sagen, ihr hättet am See einen Spaziergang gemacht?«, versuchte sich Niklas an einem Vorschlag.

»Nachdem uns jeder hier beim Eishockeymatch gesehen hat?« Elke wischte sich die Tränen weg. »Vater mag zwar weltfremd sein, aber bescheuert ist er nicht.«

In diesem Moment tauchte Pfarrer Strobel am Ufer auf. In seiner Begleitung befanden sich zwei kräftige Männer, die eine Bahre trugen. Noch immer war weiter vorn im Schneetreiben das Lärmen der Motorsäge zu hören.

»Strobel muss uns helfen!«, zischte Elke plötzlich. »Immerhin hat er uns heute erlaubt, dass wir kommen durften.«

»Unser Herr Pfarrer?« Andreas sah Elke verwundert an.

»Ja, der hat sich heute überhaupt ganz merkwürdig aufgeführt«, erklärte Miriam. »Er war nämlich bei uns, nachdem es heute Mittag Ärger bei uns zu Hause gab. Deinetwegen!«

»Wegen Andy?« Niklas sah irritiert zu den Schwestern auf. »Wieso denn wegen Andy?«

»Ist doch egal, warum«, wiegelte Elke ab. »Auf jeden Fall hat uns Strobel anschließend erlaubt herzukommen.«

Stockend berichteten die beiden Mädchen, was sich auf der Straße vor ihrem Elternhaus abgespielt hatte.

»Wir hatten fast den Eindruck, als wolle er uns auf euch ansetzen«, endete Miriam, die den Pfarrer nicht aus den Augen ließ. »Der Typ war voll seltsam. Und das mit der Nachtwanderung übermorgen, das klang fast wie eine Drohung. Ihr lasst uns doch nicht allein mit dem, oder?« Bittend sah sie die Jungen an. Andreas, Robert und Niklas warfen sich befremdete Blicke zu.

»Nee, natürlich nicht«, meinte Andreas nachdenklich und starrte nun ebenfalls wieder rüber zum See. Er hatte keine Ahnung, welches Interesse der Pfarrer an ihnen hatte. Dabei sollte Strobel wissen, dass er es ihm bis heute nicht verzieh, seine Mutter damals wie eine Aussätzige verscharrt zu haben. Der ganze Ort hatte für Selbstmörder nicht viel übrig.

Strobel und seine Begleiter erreichten nun die Männer in ihren signalroten Jacken, und sie konnten im Schein der Lampen sehen, wie diese etwas Schweres auf die Bahre wuchteten. Andreas lief ein Schauer über den Rücken. Dennoch ging von dem Treiben auf dem See eine eigentümliche Faszination aus.

»Okay, dann fragt ihn«, meinte er. »Bis übermorgen ist es ja noch etwas hin. Wir werden schon noch herausfinden, was der Kerl in Wahrheit von uns will.« Er schenkte Elke den letzten Rest heißen Tees ein, und sie verfolgten mit, wie die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr mit der abgedeckten Bahre über das Eis zurückkehrten und an den tuschelnden Schaulustigen vorbei in den Ort stiefelten. Strobel und der Bürgermeister folgten dem Trupp in einiger Entfernung. Sie befanden sich in Gesellschaft von Roman Köhler und Doktor Bayer. Andreas und seine Freunde erhoben sich und lauschten den leisen Gesprächsfetzen.

»Wenn sich der Verdacht bestätigt, dann wäre das ungeheuerlich …«, konnten sie Bayers Bassstimme heraushören.

»Nun warten wir doch erst einmal ab«, brummte Bürgermeister Schober. »Nach all den Jahren sollten wir das Ganze mit Bedacht angehen …«

»Pfarrer Strobel?« Elke, die noch immer in ihre Decke gehüllt war, trat gemeinsam mit ihrer Schwester an die Männer heran, die erst jetzt bemerkten, dass die Freunde noch am See waren.

»Hatten wir euch nicht nach Hause geschickt?« Doktor Bayer betrachtete Elke und Miriam und runzelte plötzlich die Stirn. Auch Bürgermeister Schober und Pfarrer Strobl wechselten einen raschen Blick.

»Lassen Sie es gut sein.« Strobel schob den Doktor mit öligem Lächeln beiseite. »Gehen Sie ruhig schon vor, wir treffen uns dann gleich in der alten Leichenhalle hinter der Kirche. Die wird zwar schon lange nicht mehr benutzt, aber solange Perchtal von der Außenwelt abgeschnitten ist, scheint mir das der beste Ort, um den Leichnam aufzubahren.«

»Ja, natürlich.« Der Doktor schloss sich dem Bürgermeister an und starrte doch immer wieder zurück.

»Was ist denn jetzt mit dem Krampuslauf morgen?«, tönte es von der anderen Seite her. Konrad und seine Freunde waren ebenfalls aufgesprungen.

»Was glaubst du wohl?«, erklärte Köhler mühsam beherrscht. Er spuckte den Rest eines Bonbons in den Schnee. »Der fällt dieses Jahr aus. Ein Amüsement dieser Art ist sicher das Letzte, was Perchtal im Moment braucht. Ich melde mich bei euch.« Rasch eilte er hinter den anderen Männern her. Konrad und seine Freunde starrten den Erwachsenen enttäuscht hinterher, schulterten ihre Schläger und kehrten dem See mit einem vernichtenden Blick in Richtung Freunde den Rücken. Andreas schüttelte den Kopf. Offenbar machten die vier nun sie für die Entscheidung verantwortlich. Der Pfarrer unterhielt sich derweil leise mit den Mädchen. Strobel nickte väterlich und tätschelte den beiden die Wangen. »Macht euch keine Gedanken, meine Engel.« Mit bohrendem Blick musterte er die drei Jungs. »Auch ihr solltet jetzt nach Hause gehen. Schlaft euch aus.« Elke kehrte zur Parkbank zurück und nahm ihre Schlittschuhe auf, während Strobel und Miriam auf sie warteten.

»Pfarrer Strobel bringt uns jetzt nach Hause«, erklärte sie leise. »Er wird die Sache auf sich nehmen.« Blass und mit bebenden Lippen sah sie Andreas an. »Und die Tote im See sah doch so aus wie …«, sie spähte kurz zu ihrer Schwester, »wie wir!« Trotzig drehte sie sich auf dem Absatz um und folgte Strobel und Miriam zurück in den Ort.

Andreas fröstelte. Auch Niklas und Robert sahen sich unbehaglich an. Robert versuchte sich eine neue Kippe anzuzünden, doch der viele Schnee erstickte immer wieder die Flamme seines Feuerzeugs.

»Elke steht unter Schock«, sagte Niklas altklug. »Ich meine, was wäre denn das für ein komischer Zufall?«

»Ja, wäre tatsächlich ein bisschen seltsam«, murmelte Robert, der Feuerzeug und Kippe verärgert wegsteckte. »Elke und Miriam wüssten doch, wenn sie als Drillinge und nicht als Zwillinge auf die Welt gekommen wären, oder?« Er lachte trocken, doch Andreas starrte ihn nachdenklich an.

»Oder etwa nicht?« Robert hörte auf zu lachen, und eine Weile war nur das Säuseln des Windes zu hören, der ihnen vom See her Schnee in den Nacken blies.

»Du hast die Männer doch vorhin gehört. Irgendwas an der Toten scheint wirklich seltsam zu sein«, meinte Andreas und versuchte sich die Worte des Bürgermeisters in Erinnerung zu rufen. »Wie auch immer, uns wird man garantiert nichts sagen. Es sei denn …«

»Es sei denn was?«, fragte Robert lauernd.

»Na ja, einen Weg gäbe es schon, um mehr über die Tote zu erfahren.«

»Du hast jetzt aber nicht das vor, was ich denke?« »Du … ihr …« Niklas verschluckte sich fast, als er begriff. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seine Freunde an. »Ihr wollt euch die Tote doch nicht etwa … noch mal … ansehen?« Andreas wusste, dass das Folgende unfair war. Aber hier ging es immerhin darum, Elke zu beruhigen. »Wenn du Schiss hast, kannst du ja zu Hause bleiben.« Ausdruckslos baute er seine Hockeyschläger vor sich auf. »Aber ich wette, die Mädels fänden das gar nicht gut.«