Freunde
Andreas erwachte viel zu früh. Nur dass ihn heute nicht das Lärmen der Maschinen draußen im Sägewerk seines Vaters geweckt hatte, sondern lautes Glockengeläut im Ort. Ohne sich zu dem neuen Radiowecker umzudrehen, wusste er, dass es Viertel vor zehn am Morgen war. Sein Vater hatte ihm den Wecker erst vor einem Monat anlässlich seines 15. Geburtstags geschenkt. Das Gerät war nur eines von vielen Geschenken gewesen …
Andreas stöhnte. Sonntag war immerhin der einzige Tag in der Woche, an dem man ausschlafen konnte. Theoretisch jedenfalls. Doch der Gottesdienst in Perchtals alter Kirche begann in einer Viertelstunde. Das Vorläuten diente sicher dazu, all jenen ein schlechtes Gewissen zu machen, die bislang standhaft zu Hause geblieben waren.
›A11 jene‹, das war der kleine Haufen ›schwarzer Schafe‹, wie Pfarrer Strobel gern die bezeichnete, die den Sonntagvormittag lieber im Bett verbrachten, anstatt seiner Predigt zu lauschen. Andreas gehörte dazu. Dabei war seine Mutter eine treue Kirchgängerin gewesen. Angeblich. Er dachte insgeheim oft an seine Mutter zurück und malte sich dann aus, wie es wäre, wenn sie noch lebte. Meist dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
Besonders dann, wenn im Ort die Glocke ertönte.
Dabei wusste Andreas nicht einmal viel über seine Mutter. All dienigen, die er fragen konnte, hielten sich bedeckt. Pfarrer Strobel erwähnte seine Mutter erst gar nicht. Dabei wusste Andreas schon lange Bescheid. Er hatte nie vergessen, dass man sie an einem Sonntag verscharrt hatte. Ganz am Rande des Friedhofs. Fast so wie einen räudigen Hund.
Andreas schlug nun endgültig die Augen auf und musterte die Wandschräge über seinem Kopf, die mit Postern von Mariah Carey, DJ Bobo und Dr. Alban behängt war. Helles, vom Schnee reflektiertes Licht fiel durch die Vorhänge des Dachfensters in sein Schlafzimmer und auf den Scheiben zeichneten sich Eisblumen ab. Endlich verstummte das Gebimmel. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. In die Kirche würde er trotzdem nicht gehen. Strobel wartete schon seit Jahren darauf, dass er kam. Als ob das die Tat seiner Mutter wiedergutmachen würde. Aber ihm war eh egal, was der Pfarrer vom ihm hielt. Oder von seiner Mutter. Allein, dass auch sein Vater so tat, als hätte es sie nie gegeben, schmerzte ihn. Sehr sogar.
Bei dem Gedanken an seinen Vater richtete sich Andreas hoffnungsvoll auf und lauschte. Doch in der kompletten oberen Etage, die er bewohnte, war es still. Ebenso unten im Haus. Müde und enttäuscht schwang er die Beine über die Bettkante und wollte aufstehen, als er unter seinen Füßen einen kantigen Gegenstand spürte. Der neue Walkman. Auch diesen hatte ihm sein Vater vor einem Monat zum Geburtstag geschenkt. Sein Vater. Andy hielt inne und starrte das Gerät an. Erneut setzte er einen Fuß auf das Gehäuse. Zunächst war es nur ein vorsichtiges Tasten, sodass er die Ecken und Kanten unter seinen Zehen spüren konnte. Dann stand er auf, verlagerte sein Körpergewicht und verstärkte den Druck. Teilnahmslos sah er dabei zu, wie das Kassettenfach unter seinem Fußballen eingedrückt wurde, um dann mit einem lauten Knacken zu zerspringen. Etwas Spitzes stach in seinen Fuß, doch irgendwie fand Andreas den Schmerz befreiend. Er hatte ja noch zwei andere Walkmen. Einer davon lag unausgepackt drüben im Spielzimmer. Jedenfalls, so weit er sich erinnerte.
Andreas kickte das kaputte Abspielgerät in eine Zimmerecke, wo es gegen achtlos hingeworfene Comics, Spieleschachteln und Schulbücher stieß. Dann stieg er über die Schultasche hinweg und kämpfte sich auf dem Weg zum Bad an Bergen alter Kleidung, aufgestapelten Heftromanen und TV-Zeitschriften vorbei. Einen Moment lang überlegte er, ob er ›Hyper, Hyper‹ von Scooter auflegen sollte. Natürlich möglichst laut, um wach zu werden. Doch dazu hätte er die Silberscheibe erst einmal unter dem großen Haufen anderer CDs finden müssen, die den Weg zu seinem Hifi-Turm versperrten. Ganz obenauflag stattdessen die aufgeklappte CD-Hülle der Kelly Family, deren Musik er gestern Elke auf Kassette aufgenommen hatte. Sie war leer. Die CD musste also noch im Fach stecken. Andreas hielt die Kelly Family für einen üblen Ausbund an Geschmacksverirrung, doch Elke liebte den Song ›An Angel‹, der derzeit im Radio rauf und runter gespielt wurde. Und Elke war einfach klasse. Mit dem herzförmigen Gesicht, den großen blauen Augen, die manchmal total lieb und dann wieder ganz schön frech blicken konnten, und den langen blonden Haaren sah sie wirklich aus wie ein Engel. Sie war ohne Zweifel das hübscheste Mädchen in ganz Perchtal. Unten, in Berchtesgaden, wo sie gemeinsam in eine Klasse gingen, war sie sogar die Hübscheste an der ganzen Schule. Und die wurde immerhin von Schülern besucht, die auch aus Ramsau, Schönau und Bischofswiesen stammten. Einzig Elkes Zwillingsschwester Miriam konnte es mit Elke aufnehmen. Sie sah ihrer Schwester zum Verwechseln ähnlich, und die beiden machten sich oft einen Spaß draus, Mitschüler und Lehrer zu veräppeln, indem sich die eine für die andere ausgab. Doch im Gegensatz zu den Übrigen wusste Andreas immer, wann er Elke gegenüberstand. Abgesehen vielleicht von Niklas, aber der zählte nicht. Also hatte er sich neulich nach der Schule aufgemacht, um die blöde CD zu besorgen. Auf die B-Seite der Kassette hatte er ein paar Schwofsongs aufgenommen. Er war schon gespannt darauf, wie Elke darauf reagieren würde.
Andreas schlurfte durch den mit Videos und leeren Colaflaschen zugemüllten Flur ins Bad, schob mit dem Fuß die benutzten Handtücher beiseite und warf die neue elektrische Zahnbürste an, die ihm sein Vater letzten Monat mitgebracht hatte.
Angeblich hatte dessen neue Freundin sie für ihn ausgesucht. Dabei kannten sie beide sich gar nicht. Die Zahnpasta war fast leer. Andreas starrte die Tube resigniert an und warf sie achtlos in den überfüllten Mülleimer neben dem Waschbecken. Doch statt im Müll, landete sie auf dem Boden. Egal, nächste Woche kam ja Roberts Mutter und räumte auf. Gedanklich machte sich Andreas eine Notiz, ein oder zwei neue Tuben auf die Einkaufsliste für seinen Vater zu setzen. Als er fertig mit Zähneputzen war, trat er gelangweilt vor den Spiegel und überprüfte sein Gesicht mit den braunen Augen und dem dunklen Haar nach neuen Pickeln. Elke meinte, er habe Ähnlichkeit mit David Duchovny aus der neuen Akte-X-Serie, doch er hielt das eher für ein Gerücht. Cooler wäre es gewesen, wenn sie ihn mit Jean-Claude Van Damme verglichen hätte, immerhin trainierte er fast jeden Tag drüben im Kraftraum, den ihm sein Vater eingerichtet hatte. Andererseits war der Belgier eher klein, nach allem, was man so lesen konnte. Er selbst war mit seinen fast 1,84 Metern der Größte in der Klasse. Andreas wunderte sich darüber, dass Elke die neue Mystery-Serie überhaupt kannte. Denn sehen durften sie und ihre Schwester die Folgen zu Hause garantiert nicht. Immerhin, der Pickel auf seiner Stirn war fast weg. Damit stand es heute 1 zu 3 für ihn.
Andreas überlegte sich nun doch, ob er der Kirche einen Besuch abstatten sollte. Sicher waren Elke und Miriam mit ihren Eltern ebenfalls da. Es gab ja kaum eine Gelegenheit, die die strenggläubigen Bierbichlers zum Beten ausließen. Wenn die wüssten, wie viel Zeit ihre Töchter mit ihm, Robert und Niklas verbrachten, würden sie Elke und Miriam bestimmt ins Kloster stecken. Nee, besser er mied die Bierbichlers. Denn wann immer Elkes und Miriams Eltern ihm, Robert oder Niklas über den Weg liefen, stellten sie sich an, als seien er und seine Freunde von der Hölle ausgesandt worden, um ihre Töchter in finstere Abgründe zu zerren. Dabei war Robert streng genommen der einzige unter ihnen, der so aussah, als stünde er mit dem Satan im Bunde.
Was Robert wohl dazu sagen würde, wenn er ihm erzählte, dass er und Elke sich am Freitag geküsst hatten? Andreas grinste bei dem Gedanken.
Ohne das Lächeln aus seinem Gesicht zu bekommen, schlenderte er nach drüben in sein altes Spielzimmer, wo er gestern Jeans und Pullover hingeworfen hatte. Dort sah es nicht viel anders aus als im Schlafzimmer. Oder im Flur. Oder im Kraftraum neben der Treppe nach unten. Die riesige Platte mit der Märklineisenbahn, die hier noch bis vor einem Jahr gestanden hatte, hatte er damals mit Robert nach oben auf den Dachboden zu den vielen anderen Mitbringseln seines Vaters geschleppt und seitdem nicht mehr angerührt. Doch die Wände und Regale ächzten noch immer unter der Vielzahl anderer Geschenke: Sportgeräte, Romane, Modellflugzeuge, die Kiste mit der alten Autorennbahn, zwei Gitarren, mehrere Baukästen und vieles mehr. Der Boden indes war mit Süßigkeitenpapier und leeren Chipstüten übersät. Immerhin, die abgewetzte Sofaecke mit dem großen Fernseher und seinem PC war einigermaßen frei zugänglich. Dort stand auch sein Super Nintendo, der schon vor zwei Jahren seinen Atari fast gänzlich abgelöst hatte. Die Spielkonsole hatte knapp 300 Mark gekostet, aber für seinen Vater war das ein Klacks. Er und Robert verbrachten viel Zeit mit Spielen wie Super Mario World, Star Wars: X-Wing oder Warcraft. Und er war schon jetzt gespannt darauf, was die Japaner als Neuestes ausgebrütet hatten. In Fernost war gerade die PlayStation erschienen, die seiner Spielekonsole angeblich weit überlegen war.
Andreas dachte kurz darüber nach, ob er seinen Nintendo anwerfen sollte, doch die Aussicht, den Tag wieder mit einem Computerspiel zu beginnen, erfüllte ihn mit Leere. Mehr noch als an anderen Tagen sehnte er sich nach Gesellschaft. Der Wunsch, nicht allein zu sein, wurde plötzlich so übermächtig, dass Andreas fast körperliche Schmerzen verspürte. Er zitterte und dachte unwillkürlich wieder an Elke.
Vielleicht kamen sie und Miriam ja nachher zum See, wo sich die Clique zum Eislaufen treffen wollte? Bereits am Freitag hatte Bürgermeister Schober die zugefrorene Seefläche freigegeben. Hier bei ihm durften sich die Mädchen ja nicht blicken lassen, und bei Robert und Niklas ging es ebenfalls nicht. Nur, ob die beiden es ausgerechnet heute schafften, von zu Hause wegzukommen, stand in den Sternen. Heute war schließlich Sonntag.
Immerhin, einen Grund gab es, sich zu freuen. Denn bereits morgen war der fünfte Dezember, der Krampustag. Sozusagen das finstere Gegenstück zum Nikolaustag übermorgen. Und das bedeutete, dass morgen der traditionelle Krampuslauf in Perchtal anstand, ein vorweihnachtlicher Adventsbrauch, bei dem die ganze Ortschaft auf den Beinen war. Vielleicht würden sich ja -wie im letzten Jahr auch – einige Touristen aus Norddeutschland nach Perchtal verirren, denn angeblich kannte man den Krampuslauf oben bei den Fischköppen nicht. Auf jeden Fall würde das wilde Treiben ein ordentlicher Spaß werden.
Bereits Mitte November hatte Roman Köhler eine kleine Gruppe heranwachsender Jungs im Vereinshaus zusammengetrommelt, um die Perchten- und Teufelskostüme der letzten Jahre aus der Mottenkiste zu holen und zu flicken. Der Mittdreißiger war in Berchtesgaden ihr Vertrauenslehrer und unterrichtete sie dort in Sport und Geschichte. In seiner Freizeit aber war er ein lässiger Typ, der ein bisschen dafür sorgte, dass die Perchtaler Jugend nicht an Langeweile zugrunde ging. Im Sommer organisierte er für den Ferienpass Zeltlager, Ausflüge und die berühmten Wasserschlachten auf dem Perchtensee. Und hin und wieder schleifte er die Jugendlichen in das kleine Heimatkundemuseum nahe dem Bürgermeisteramt, das sonst nur für Touristen interessant war. Er hielt Traditionen für wichtig, dabei stammte Köhler nicht mal von hier, sondern war vor einigen Jahren aus Salzburg zugezogen.
Die Pass, wie man die Gruppe aus Nikolaus und Krampussen bezeichnete und die morgen im Ort ihr Unwesen treiben würde, bestand aus Köhler selbst und fünf Jungen. Darunter leider auch Konrad Toschlager, der Sohn des Schlachters, und seine beiden bekloppten Freunde Wastl und Lugge, die zwei Jungs aus dem Vorjahr abgelöst hatten. Auch Andy und Robert hatten einen der begehrten Plätze als Krampus ergattert, und das, obwohl es noch einige andere hoffnungsvolle Kandidaten gegeben hatte. Doch das ›Meyenberger Sägewerk‹ seines Vaters war der größte Arbeitgeber in Perchtal, darauf musste auch Köhler Rücksicht nehmen.
Was Niklas betraf, der war leider zu dick und unsportlich. Der wäre unter dem Gewicht der schweren Ganzkörperkostüme schon nach wenigen Metern zusammengebrochen. Wer einen Krampus gab, der musste schon ordentlich Kondition mitbringen. Andreas hatte die schwarzen Ziegenfellumhänge samt den hölzernen Teufelsmasken mit den echten Widderhörnern und den schweren Kuhglocken am Gürtel nie gewogen, aber er schätzte, dass jedes der Kostüme gut und gerne zwölf Kilo auf die Waage brachte. Roman Köhler selbst wollte es sich natürlich nicht nehmen lassen, auch dieses Jahr wieder den gütigen Nikolaus zu geben, der die Kinder am Straßenrand beschenkte. Ihnen anderen war es bestimmt, die Schaulustigen zu erschrecken und ihnen einen Klaps mit der Weidenrute zu verpassen, wenn sie nicht beiseite sprangen. Die Kleinsten fingen dann manchmal an zu weinen, wenn die schrecklichen Krampusse auf sie zukamen, aber das gehörte dazu. Richtig cool war es, dass man den Mädels im Ort ordentlich auf den Hintern klatschen durfte, ohne dass diese später sagen konnten, wer von den Jungs die Verantwortung dafür trug. Andreas feixte innerlich. Er hatte zwar erst einen Krampuslauf hinter sich, dennoch fühlte er sich bereits wie ein Profi. Das Beste von allem aber war, dass sein Vater versprochen hatte, morgen zu kommen. Und diesmal wollte er seine Zusage auch halten.
Andreas suchte nach der Jeans und seinem Pullover. Obwohl er gestern vor dem Schlafengehen gelüftet hatte, stank es im Zimmer noch immer schwach nach Ravioli und Roberts Zigaretten. Andreas ignorierte den Teller mit den eingetrockneten Tomatensoßeresten vor dem Fernseher ebenso wie den überfüllten Aschenbecher neben dem Computer. Endlich fand er die Kleidungsstücke, und wie so oft erwischte er sich bei dem heimlichen Gedanken, dass er es gut fände, wenn ihn mal jemand für sein Chaos die Leviten lesen würde. Egal. Er wollte, dass der Tag schön würde.
Andreas hatte sich gerade fertig angezogen, als er neben der Spielekonsole die drei Päckchen mit dem Juckpulver sah, die er unter der Woche in Berchtesgaden gekauft hatte. Richtig, er und Robert hatten ja noch etwas vor! Ein gemeines Grinsen kräuselte Andreas Lippen, und sein Entschluss stand fest: Er würde schnell frühstücken und dann Robert aufsuchen. Sie mussten die Sache noch heute durchziehen, denn morgen war es zu spät dafür. Andy verstaute die Tütchen gerade in seiner Hosentasche, als er unten im Haus einen quietschenden Laut vernahm. Es klang irgendwie unangenehm, so als ob Nägel über Glas fuhren.
War sein Vater etwa doch da?
Mehr springend als gehend schlüpfte Andreas in ein altes Paar Socken und flitzte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. »Papa?«
Doch unten war es so still wie immer.
Andreas eilte in die Küche und sah sich um. Auf dem Küchentisch stand eine Einkaufstüte mit neuen Mikrowellengerichten, daneben lag ein Briefumschlag. Er öffnete ihn und fand darin zwei Fünfzig-Mark-Scheine sowie einen Notizzettel mit einer schludrigen Schrift, die Andreas leicht als die seines Vaters identifizierte:
Konnte nur auf einen Sprung vorbeikommen. In der Tüte ist was zum Essen. Muss sofort wieder zurück nach Berchtesgaden. Weiß leider noch nicht, ob ich es morgen schaffe.
Enttäuscht ließ Andreas den Zettel sinken. Sein Vater hatte nicht einmal mit ›Papa‹ unterzeichnet, so wie er es früher getan hatte. Scheiße, er hatte ihm doch fest in die Hand versprochen, dass er morgen beim Krampuslauf dabei sein würde!
Erst jetzt entdeckte er den funkelnagelneuen Eishockeyschläger, der neben dem Küchentisch lehnte. Er bestand nicht etwa aus Holz, sondern aus dem neuen Verbundstoff Carbone. Andreas nahm ihn zur Hand und untersuchte ihn. Ganz so, wie es die Sportzeitschriften angepriesen hatten, wies er tatsächlich keine Klebestellen auf und bestand komplett aus einem Stück. Angeblich absorbierte er Vibrationen weit besser als die herkömmlichen Schläger und verringerte dadurch die Verletzungsgefahr. Und doch vertrieb auch dieses neue Geschenk seines Vaters nicht das schale Gefühl von Enttäuschung, das Andreas quälte.
Er stellte den Schläger zurück und fragte sich wieder, was das für Geräusche gewesen waren, die er oben gehört hatte. War sein Vater etwa noch da? Aufgeregt stürmte er zur Haustür; sie war abgeschlossen. Er schlüpfte in ein Paar Pantoffel, fischte aufgewühlt nach dem Hausschlüssel in seiner Lederjacke neben dem Gäste-WC und sperrte auf. Draußen schneite es; kalte Luft schlug ihm entgegen, die nach dem Harz frisch geschlagener Bäume roch. Hastig sah er sich auf großen Vorhof des Sägewerks mit seinen Lager- und Werkhallen um. Der Platz war wie erwartet verlassen und bis hinüber zu der mit Planen abgedeckten Stellfläche mit den angelieferten Baumstämmen mit einer blütenweißen Decke Neuschnee überzogen. Obwohl, das stimmte nicht ganz. Einige Meter vor der Halle mit den Gatter- und Bandsägen waren Fußabdrücke zu sehen, die wie aus dem Nichts kommend auf das Haus zuführten. Doch nicht zum Eingang, sondern nach nebenan zu der Fahrradkellertreppe. Andreas schüttelte irritiert den Kopf und rannte ungeachtet der Kälte an einem der zugeschneiten LKWs vorbei, hinüber zu der Einfahrt zwischen der Rundholzsortieranlage und der Trockenhalle. Erst dort hielt er inne. Auf der Schneedecke zeichneten sich vage die Reifenspuren des Ferraris ab, den sein Vater fuhr. Sie reichten hinüber bis zum offenen Tor des Sägewerks, und auch sie waren bereits ein gutes Stück unter dem Neuschnee verschwunden. Sein Vater war also bereits vor einigen Stunden da gewesen. Und das, ohne ihn zu wecken. Fast so, als wäre er vor ihm geflüchtet …
Andreas spürte, wie ihm die Augen brannten, während er mutterseelenallein in der Kälte stand und auf die Einfahrt blickte. Schnee drang ihm in Nacken und Pantoffeln, und ihm wurde kalt. Am liebsten hätte er den elenden Zettel in seiner Hand zerknüllt, doch er brachte es nicht übers Herz. Mit den Tränen kämpfend, schleppte er sich zum Haus zurück, warf die Tür hinter sich zu und stiefelte erneut in die Küche. Dort schob er einen Hocker vor den alten Küchenschrank, stellte sich drauf und kramte den Brotkorb hervor, den er dort oben deponiert hatte. Darin lagen seine Schätze. Die einzigen Gegenstände im ganzen Haus, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Andreas legte den Zettel seines Vaters zu den vielen anderen, die sich darin über die Jahre angesammelt hatten. Manchmal, wenn er die vielen Notizen seines Vaters hervorkramte und erneut las, überkam ihn ein heimeliges Gefühl, fast so, als redete sein Vater wirklich mit ihm. Und in diesen Momenten glaubte er sogar selbst daran, dass er ihm noch etwas bedeutete.
Und doch blieb die Frage, was das quietschende Geräusch vorhin verursacht hatte. Andreas war plötzlich unbehaglich zumute. Dabei dachte er, seine Angst, allein in diesem großen alten Haus zu leben, schon vor langer Zeit überwunden zu haben.
Vorsichtig schlich er zurück in den Gang mit der Treppe nach oben und beäugte misstrauisch die Tür zum Wohnzimmer. Sie stand einen winzigen Spalt breit auf. Andreas gab sich einen Ruck und stieß sie auf. Wie immer war der Raum überhitzt, denn die Heizung funktionierte hier nicht richtig. Schwülwarme Luft schlug ihm entgegen, die leicht nach brackigem Wasser roch. Rechts von ihm, neben dem Wohnzimmerschrank aus echter Eiche, blubberte sein großes Aquarium, das inzwischen mit Algen nur so übersät war. Sein Vater hatte es ihm vor zwei Jahren geschenkt. Fische lebten darin nur noch wenige. Doch für das Aquarium hatte Andreas kein Interesse. Sein Augenmerk galt vielmehr der Glasfront hinter der ledernen Sofagarnitur, durch die man im Sommer einen großzügigen Blick auf den verwilderten Garten werfen konnte. Die großen Fenster waren komplett beschlagen … oder hätten es zumindest sein müssen. Tatsächlich aber zeichneten sich auf ihnen große Buchstaben ab, die langsam an Konturen verloren.
Fassungslos sah er sich im Raum um, doch er war leer, und auch die Gartentür war zugesperrt. Dabei gab es keinen Zweifel: Jemand war noch vor wenigen Minuten hier gewesen und hatte die Buchstaben von innen auf das Glas gemalt.
Auf den Scheiben stand: DU BIST TOT!
Leise rieselte der Schnee. Robert stand regungslos am zugigen Badfenster und sah den dicken Flocken dabei zu, wie sie vom Himmel herabsanken und die Gasse vor dem Haus gleichsam in ein weißes Leichtuch hüllten. Robert mochte den Vergleich. Das Straßenpflaster, die Dächer und Fenstersimse der Nachbarhäuser, alles wirkte unter der kalten Pracht so unbefleckt und rein. So friedlich und erstarrt. Irgendwie … leblos.
Schon seit Wochen war es in Perchtal bitterkalt. Abgesehen von dem seltsamen Wärmeeinbruch vor einer Woche, der mit seinem Schmelzwasser dafür gesorgt hatte, dass die Bäche der Gegend über die Ufer getreten waren, versanken die Täler und Berge des Berchtesgadener Landes nun wieder unter dicken Lagen Schnees. Wenn es weiter so schneite, würde der Ort bald von der Außenwelt abgeschnitten sein. Das war auch letztes Jahr schon passiert. Nicht, dass er Berchtesgaden oder seine Schule dort so prickelnd fand, aber besser als das Leben in diesem Kaff war beides allemal.
Von irgendwoher war das leise Kratzen einer Schneeschippe zu hören. Robert vernahm das Geräusch, obwohl im Hintergrund die düstere Musik von Dead Can Dance den Flur erfüllte. Eigentlich stand er auf härtere Gruppen wie Darkthrone, Immortal oder Burzum, doch Dead Can Dance gehörte zu seinem Morgenritual wie für andere das Frühstück. Die elegischen Klänge schienen dem Reich der Toten zu entsteigen. Tatsächlich kamen sie ganz profan von drüben aus seinem Zimmer, denn dort lief der Ghettoblaster, den ihm Andy vor einem halben Jahr vermacht hatte. Die Lautstärkeregler waren gerade so weit aufgedreht, dass er seine Mutter nicht wach machte. Dabei bezweifelte Robert, dass sie es gestern Abend noch bis in ihr Schlafzimmer geschafft hatte. Zugleich war die Musik so laut, dass sie andere etwaige Geräusche im Haus übertönte. Das war besser so, denn wenigstens der Morgen war die Zeit, die ihm allein gehörte.
Widerwillig löste sich Robert vom Fenster und trat vor den Badezimmerspiegel, unter dem sorgsam all die Haarspraydosen und Haarfärbemittel neben einer unruhig flackernden Grabkerze aufgereiht waren, die er benötigte, um sich aufzustylen. Das schwarze Haar auf seinem rasierten Schädel, das er normalerweise zu einem Irokesenschnitt hochtoupierte, hing verfilzt in sein hageres Gesicht, und seine blauen Augen sahen irgendwie rot umrändert aus. Cool. Mit etwas Glück blieb das so.
Dummerweise hatte er sich von Andy dazu überreden lassen, bei diesem ollen Krampuslauf morgen mitzumachen. Dazu gehörte heute Abend eine Kostümprobe und eine letzte Einweisung, auf die Roman Köhler bestand, der die Pass organisierte. Der Typ war zwar für einen Lehrer ganz in Ordnung, doch Robert nervte, dass die Teufelsmasken seinen ganzen Style zerstörten. Außerdem schwitzte man in den Ziegenfellkostümen, dass es nicht zum Aushalten war. Das Einzige, was daran noch okay war, war der Umstand, dass die Felle schwarz waren. Der Rest war echt Kinderfasching. Und das, obwohl sich die meisten anderen Gleichaltrigen im Ort wahrscheinlich ein Bein ausgerissen hätten, um zur Pass zu gehören. Aber er war nicht wie die anderen. Er war ja nicht einmal so wie die älteren Punks in Berchtesgaden. Oder die paar Grufties, die es an seiner Schule gab. Er war eben er. Irgendwas dazwischen. Egal. Leider stand Andy voll auf den Krampuslauf, und Andy war nun mal sein bester Kumpel. Und irgendwo hatte er ja auch recht. Sie konnten schließlich Konrad Toschlager und seinen spackigen Freunden nicht einfach so das Feld überlassen.
Mit dem Gedanken an ihre Erzfeinde entschloss sich Robert zu einer kurzen Katzenwäsche. Aufstylen lohnte sich heute nicht. Kurz entschlossen verzichtete er daher auf Haarwachs und Spray und kämmte sich den schwarzen Haarschopf streng nach links. Anschließend ordnete er die Dosen, Bürsten und Kämme, zündete sich eine bereitliegende Kippe an und ging rüber in sein Zimmer. Es war ganz schwarz gestrichen, und auch hier brannten zwei Kerzen. Schließlich war heute der zweite Advent, obwohl er selbst Andy gegenüber niemals zugegeben hätte, dass das der Grund dafür war. Der Schein der Flammen flackerte rhythmisch im Takt von ›Mothers Tungue‹, das jetzt aus den Boxen dröhnte. Robert nahm einen weiteren Zug und betrachtete die neuen Kinoplakate an der Wand gegenüber der Zimmertür: Nightmare before Christmas, The Crow und Pulp Fiction. Robert hatte in Berchtesgaden Bekanntschaft mit dem Vorführer eines Kinos geschlossen und war insgeheim ziemlich stolz drauf, dass er etwas besaß, das Andy nicht hatte. Dessen Vater war zwar der reichste Mann in Perchtal, und Andy fehlte es an nichts, aber Plakate wie diese konnte er ihm nicht besorgen. Was alles andere betraf, hätte Robert jederzeit mit Andy getauscht. Vermutlich sogar mit dessen toter Mutter. Man munkelte im Ort, dass sie sich vor ein paar Jahren mit der Jagdflinte ihres Mannes den Kopf weggeblasen hatte. Warum, das wusste er nicht. Aber prinzipiell war das natürlich schon ein cooler Abgang. Besser als hier in Perchtal darauf zu warten, von der Langeweile erstickt zu werden. Andy sah das logischerweise anders. Trotzdem beneidete Robert ihn manchmal um sein Leben.
Es wurde Zeit.
Meine Güte, wie er das hasste.
Robert drückte die Kippe in seinem Totenkopfaschenbecher aus und stellte ihn zurück auf das Regal mit den Musikkassetten, die ihm Andy aufgenommen hatte. Robert hatte sie nach Alphabet sortiert. Ganz links Blasphemie, ganz rechts Rotting Christ. Er schätzte Ordnung. Sie machte ihn ruhiger. Sogar sein Bett hatte er bereits gemacht. Dass Andy seine eigene Bude so versiffen ließ, hatte Robert nie verstehen können. Aber Andy war eben Andy. Mit ihm wurde es wenigstens nicht langweilig. Dafür beschwerte sich sein Freund auch nicht, dass er seit seinem 13. Lebensjahr rauchte. Das war jetzt zwei Jahre her. Robert konnte sich die Qualmerei zwar eigentlich nicht leisten, aber auch die Kippe vor dem Frühstück – wenn seine Mutter zur Abwechslung mal dran dachte, Essen zu machen – gehörte inzwischen zu seinem morgendlichen Ritual. Und Rituale waren wichtig.
Robert klappte das Zimmerfenster einen Spalt breit auf, sodass der Rauch abziehen konnte. Das alte Thermometer am Fensterbrett zeigte minus sechs Grad Celsius an. Trotz der Kälte war sich Robert sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Andy hier aufkreuzte. Eigenartig, heute fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sein Freund ganz schön anhänglich sein konnte.
Hätte er einen Super Nintendo und eine so coole Bude für sich allein, dann würde er den lieben langen Tag Games zocken. Unwillkürlich warf Robert einen Blick auf den schlanken Kirchturm, der wie ein mahnender Finger über den verschneiten Hausdächern Perchtals aufragte. Elke und Miriam langweilten sich jetzt sicher mit ihren Eltern beim Sonntagsgottesdienst. Wenn diese religiösen Spinner ihre Töchter in seiner Gesellschaft erblickten, dann gab es jedes Mal Ärger. Dass die hübschen Zwillingsschwestern bei alledem normal geblieben waren, grenzte fast an ein Wunder. Erst letzte Woche hatte Miriam ihnen anvertraut, dass sie und Elke aus Perchtal abhauen wollten, sobald sie beide volljährig waren. Er und Andy hatten den beiden bereits angeboten, eine WG zu gründen, wenn es soweit war. Vielleicht in Nürnberg. Das war weit genug weg. Doch bis dahin war es noch einige Zeit hin. Drei scheiß lange Jahre. Niklas war wahrscheinlich der Einzige von ihnen, der hier in Perchtal versauern würde. Die arme Sau wurde von seiner Mutter ja fast zu Tode gemästet. Niklas’ Eltern gehörte die Bäckerei im Ort, und so gab es bei ihm zu Hause keinen Mangel an Süßem. Das war zwar gut für Andy, die Mädels und ihn selbst, aber schlecht für Niklas. Denn wenn der so weiterfraß, dann war er vermutlich schon bald so dick, dass er nicht mehr durch eine Tür passte. Dabei war Niklas echt schlau. Abgesehen von Sport hatte er überall Einser in seinem Zeugnis stehen. Ohne seine Nachhilfestunden hätten er und Andy die letzte Klasse garantiert nicht geschafft.
Robert schloss das Fenster wieder, gürtete sich die schwarze Lederhose umständlich mit einem seiner Nietengürtel und schlüpfte in die Dog Martens, die sich Andy für ihn bei seinem Vater bestellt hatte. Die Stiefel waren Roberts ganzer Stolz, und manchmal verbrachte er den ganzen Nachmittag damit, sie zu putzen. Seine Mutter hätte die Kohle für Stiefel wie diese nie zusammengebracht. Taschengeld hatte Robert gerade so viel, dass es zweimal die Woche für Drehtabak bei Aldi reichte. Obwohl, eigentlich musste er sich das Taschengeld selbst vom Haushaltsgeld abzweigen. Seine Mutter vergaß ihn regelmäßig. Wenn sie überhaupt Geld für ihn über hatte.
Robert wechselte den Totenkopfsticker an seinem rechten Ohrläppchen gegen eine übergroße Sicherheitsnadel aus und atmete noch einmal tief ein. Er wusste selbst, dass er versuchte, Zeit zu schinden. Und doch würde ihn das nicht davor bewahren, endlich rüberzugehen und die Sache hinter sich zu bringen. Möglichst bevor Andy hier auftauchte.
Er schaltete den Ghettoblaster aus, blies die Kerzen in Zimmer und Bad aus und stiefelte in den Flur. Behutsam klopfte er gegen die Schlafzimmertür seiner Mutter und öffnete sie. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen, die unangenehm nach Schweiß roch. Im Halbdunkel konnte er das Bett seiner Mutter ausmachen. Es stand direkt neben dem alten Schminktisch, auf dem schemenhaft Lockenwickler und Bierdosen zu sehen waren. Schuhe, Blusen und Röcke lagen achtlos herum, und auf einem Stuhl neben dem Kleiderschrank stapelte sich zwei Monate alte Bügelwäsche. Aber das hier war auch das einzige Zimmer im Haus, das aufzuräumen sich Robert weigerte. Viel entscheidender war, dass das Bett leer war. Scheiße, er hatte es geahnt.
Robert zog die Tür missmutig zu und ging hinüber zum Wohnzimmer, von wo ihm das leise Geräusch des laufenden Fernsehers entgegenschallte. Auf SAT1 lief die Wiederholung vom Glücksrad. Der Geruch nach billigem Weinbrand wurde intensiver, außerdem mischte sich in den Alkohohldunst ein säuerlicher Gestank, der Robert nur zu vertraut war. Kotze.
Ihm wurde schlecht, und er hielt die Luft an, als er das Zimmer betrat. Als Erstes zog er die zerschlissenen Vorhänge zurück, sodass Licht ins Zimmer fiel. Dann riegelte er das Fenster auf und öffnete es. Kalte klare Luft drang ins Zimmer. Robert war egal, dass ihn fröstelte. Auf dem Wohnzimmertisch standen wie immer einige Flachmänner sowie eine halb volle Flasche Maria Cron. Eine weitere Flasche mit Weinbrand hielt seine Mutter in der Hand. Sie saß noch immer angezogen im Fernsehsessel und war nur notdürftig mit einer Wolldecke bedeckt. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht lehnte schlaff gegen die Kopflehne, die Augen waren geschlossen, und im linken Mundwinkel klebten hervorgewürgte Essenreste, die auch ihren blauen Arbeitskittel an der Schulter bedeckten.
Robert konnte nur raten, wann genau seine Mutter mit dem Saufen angefangen hatte. Vermutlich um sein fünftes oder sechstes Lebensjahr herum, als sein Vater abgehauen war. Er kannte ihn bloß von Fotos. Wenigstens gehörte ihnen das Haus, in dem sie lebten, sodass sie keine Miete zahlen mussten. Was den Rest betraf, brachte seine Mutter sie beide irgendwie mit Putzen über die Runden. Montags bis freitags schuftete sie bei allen im Ort, die sich eine Putzfrau leisten konnten. Zu Hause musste Robert ran. Das hatte angefangen, als er acht geworden und seine Mutter erstmals so blau gewesen war, dass sie seinen Geburtstag vergessen hatte. Inzwischen war er aber ganz gut organisiert. Organisation war überhaupt alles, wie er schon vor langer Zeit festgestellt hatte. Wenigstens hatte seine Mutter die Sauferei unter der Woche wieder einigermaßen im Griff. Doch spätestens ab Freitag war dann Ende im Gelände. Sie schüttete sich dann drei Tage lang so zu, dass er bereits einige Male den Notarzt unten aus Berchtesgaden hatte rufen müssen, um ihr den Magen auspumpen zu lassen. Jeder in Perchtal wusste, wie es um seine Mutter stand, doch keiner sagte etwas. Die Blicke, die man ihm auf der Straße zuwarf, sprachen natürlich trotzdem Bände. Fuck off!
Robert ging in die Küche, um einen Eimer mit warmem Wasser und einen Lappen zu besorgen. Mit beidem bewaffnet, trat er zu seiner Mutter, knipste den Fernseher aus und wischte ihr das Erbrochene von den Lippen. Er ekelte sich.
»Stefan …?«, lallte seine Mutter. Sie öffnete die Lider und starrte ihn mit glasigem Blick an.
»Nein, Mama. Ich bin’s. Robert.« Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn manchmal mit falschem Namen ansprach. »Du bist wieder vor dem Fernseher eingeschlafen. Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«
»Tut mir leid … Bub.« Seine Mutter kam nur langsam wieder zu sich und starrte verständnislos den Lappen in Roberts Hand an. Robert sah, dass sie den Inhalt der Flasche in ihrer Hand beim Schlafen verschüttet hatte. Rechts vom Sessel hatte sich eine Lache mit Weinbrand bis unter die Glasvitrine mit den Steinfiguren hin ausgebreitet, die sie früher gesammelt hatte. »Am besten, du gehst rüber ins Bad und wäschst dich, Mama. Du riechst furchtbar. Anschließend kannst du ja ins Schlafzimmer gehen und dich noch ein bisschen ausruhen.«
»Ja … ja … Gestern ist es wohl etwas spät geworden.« Seine Mutter rülpste, und Robert wich vor ihrem Atem zurück. Dann mühte sie sich umständlich hoch, hielt sich an der Lehne fest und betrachtete ihren Sohn auf eine Weise, die Robert stets naheging. »Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, Bub«, wisperte sie trunken. »Wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn du dich nur nicht so hässlich machen würdest.«
Er hasste es, wenn sie seinen Vater erwähnte. »Wir müssen allein klarkommen, Mama. Das weißt du doch.«
»Ja. Nein. Ich meine …« Seine Mutter fuhr mit der Hand fahrig durch die Luft, rang nach Worten und beschrieb eine Geste, die klarstellte, dass sie vergessen hatte, was sie sagen wollte. »Ich geh rüber. Ich … ich verspreche dir auch, nachher war Schönes zu kochen.«
»Klar, Mama.« Robert wusste, was er von dem Versprechen zu halten hatte. Außerdem hatte er gestern schon festgestellt, dass sie kaum noch etwas Ordentliches da hatten. Er ärgerte sich über sich selbst, denn in der Haushaltsdose drüben in der Küche befand sich sogar ein Zehner, wie er eben festgestellt hatte. Eigentlich erledigte er die Einkäufe, schon um auf Nummer sicher zu gehen, dass seine Mutter ihr Verdientes nicht wieder in Fusel investierte. Das hatte er nun davon. Er und Andy hatten ja gestern unbedingt den ganzen Tag damit verplempern müssen, Spiele zu zocken. Jetzt war Sonntag, und die Läden waren geschlossen.
Robert sah seiner Mutter dabei zu, wie sie in Richtung Flur torkelte, dann sammelte er die leeren Flaschen auf dem Wohnzimmertisch ein und stellte sie zu den anderen in die Küche. Drüben im Bad rauschte die Klospülung. Hoffentlich säuberte seine Mutter auch ihren Kittel. Er war noch nicht dazu gekommen, den anderen zu waschen. Anschließend besann er sich wieder des Putzeimers und eilte zurück, um die Weinbrandlache am Boden aufzuwischen. Inzwischen war es im Wohnzimmer so kalt, dass er sehen konnte, wie sein Atem zu kleinen Wölkchen gefror. Egal. Hauptsache, der schreckliche Geruch verflog.
Robert warf den Wischlappen zurück in den Eimer und sah zu seinem Erstaunen, dass der Fernseher wieder lief. Nur dass auf der Mattscheibe grauer Schnee zu sehen war. Offenbar war die Antenne oben auf dem Dach von den Schneemassen beschädigt worden. Robert knipste das Gerät abermals aus und schloss das Wohnzimmerfenster nun doch. Anschließend entsorgte er das Wischwasser im Küchenwaschbecken und sah dabei zu, wie es gurgelnd ablief.
Drüben aus dem Wohnzimmer war plötzlich ein Knacken zu hören, das so klang wie brechendes Eis. Im nächsten Moment schallte ein singender Kinderchor bis hinüber in die Küche. Die blassen Stimmchen klangen seltsam verzerrt, so als habe jemand einen Radiosender falsch eingestellt: Oh Kinderlein kommet, oh kommet doch all …
Robert eilte irritiert aus der Küche und sah durch das Milchglas der Haustür, dass Andy in diesem Moment draußen nach der Klingel tastete. »Warte, ich komme gleich!«
Abermals betrat Robert das Wohnzimmer – und blieb mit offenem Mund stehen. Der Fernseher lief schon wieder, doch noch immer hatte er kein richtiges Bild. Stattdessen zeichneten sich im Geflimmer auf der Mattscheibe die vagen Konturen einer hohlwangigen Bischofsgestalt samt Mitra und Hirtenstab ab, die ihn aus tief eingesunkenen Augen anstarrte, während in den Lautsprechern und begleitet von sphärischen Pfeiftönen das Kinderlied verklang: … So nimm unsre Herzen zum Opfer denn hin; wir geben sie geeeherne mit fröhlichem Sinn – und mache sie heilig und selig wie dein’s, und mach sie aufeeewig mit deinem nur eins …
Robert langte nach der Fernbedienung und klickte sich durch die Programme. Überall das gleiche Bild. Teufel, was war denn heute mit dem verdammen Apparat los? Plötzlich war da schon wieder nur noch Schneegeflimmer. Doch es färbte sich zunehmend rot. Robert rieselte es eiskalt den Rücken herunter, als abermals das Antlitz des unheimlichen Bischofs auf der Mattscheibe erschien. Ihm war, als steige die Gestalt aus einem Meer von Blut auf. Sie kam näher und immer näher. Das Gesicht wurde dabei größer und immer größer … Mit einem lauten Aufschrei schaltete Robert das TV-Gerät aus und warf die Fernbedienung auf die Couch. Die Stille, die das Zimmer umfing, war fast noch unheimlicher als das eben Erlebte. Doch das war es nicht allein. Seine Sinne mussten ihm einen Streich gespielt haben. Anders konnte es nicht sein.
Robert flüchtete in Richtung Haustür, wo er sich hastig Schal und Lederjacke überstreifte und nach den Schlittschuhen und dem Feldhockeyschläger griff, die er bereits gestern dort deponiert hatte. Ohne zu überprüfen, ob seine Mutter das Bad inzwischen verlassen hatte, rief er einen Abschiedsgruß und betrat die verschneite Gasse vor dem Haus.
Dort rieselten Schneeflocken vom Himmel. Andy stand eingemummelt vor der gegenüberliegenden Hauswand neben einer Mülltonne auf der sein eigenes Paar Schlittschuhe lag. Außerdem hatte er natürlich richtige Eishockeyschläger dabei. Davon sogar gleich zwei, wobei einer neu war. Ohne Vorwarnung warf er einen Schneeball nach ihm, dem Robert gerade noch ausweichen konnte.
»He, heute bist du ja mal richtig schnell. Ich hatte schon befürchtet, du brauchst noch ’ne Stunde, um dich aufzustylen.«
»Ich bin immer schnell«, gab Robert lahm zurück und schlug den Kragen hoch. »Wieso bist du schon so früh hier?«
Seltsamerweise verzichtete Andy auf einen weiteren lockeren Spruch. »Ich dachte mir, dass wir die Sache im Vereinshaus durchziehen, solange alle beim Mittagessen sind. Du hast doch den Schlüssel dabei, oder?«
Robert kramte den Nachschlüssel zum Vereinshaus fahrig aus der Jackentasche und präsentierte ihn seinem Freund. »Ja, kann losgehen.«
»Alles klar.« Andy versuchte sich an einem lässigen Grinsen, doch es wirkte aufgesetzt, so als sei er nicht ganz bei der Sache. »Konrad wird den diesjährigen Krampuslauf garantiert nicht so schnell vergessen, glaub mir.« Er griff sich seine Sachen, klopfte Robert kameradschaftlich auf die Schulter, und sie stapften gemeinsam durch den Schnee in Richtung Ortsmitte. Und doch wollte sich bei Robert keine rechte Vorfreude auf den geplanten Streich einstellen. Er musste an das zurückdenken, was er auf dem Bildschirm zu sehen geglaubt hatte. Die Sache war natürlich völlig verrückt, aber das Gesicht der seltsamen Bischofsgestalt im Fernseher hatte Schlieren bekommen und sich verändert. Robert fand einfach keine Erklärung für das soeben Erlebte. Am Ende hatte das Gesicht so ausgesehen wie das seine.
»Vater im Himmel, steh uns bei. Hilf unseren Töchtern, dass ihre Seelen nicht der Versuchung anheimfallen. Du … Du hast unsere Gebete doch schon einmal erhört. Als die Dunkelheit in unseren Herzen am schwärzesten und unsere Verzweiflung am größten war. Hilf ihnen der Sünde zu widerstehen. Hilf ihnen, ein Leben nach deinen Geboten zu leben.«
Elke saß unangenehm berührt am Esszimmertisch, um den sich ihre Familie versammelt hatte. Der Tisch war leer, abgesehen von einer gebügelten Spitzendecke aus Leinen, auf der ein herrlich nach Tannengrün duftender Adventskranz stand. Zwei der vier Kerzen brannten, doch Elke ignorierte den sanften Schein der Flammen. Vielmehr beobachtete sie argwöhnisch ihren Vater, der sich mit inbrünstig gefalteten Händen vor dem Tisch aufgebaut hatte. Wie immer hatte er seinen Vollbart sorgfältig getrimmt; mit seinem weißen Haar sah er fast ein wenig so aus wie der Alpöhi, Heidis Großvater aus der bekannten Trickfilmserie. Nur, dass in seinem Blick keine Güte lag, sondern bittere Enttäuschung. Seine Lippen zitterten. »Denn nur du, Herr, weißt, was du unseren beiden Engeln bestimmt hast. Wir … wir anderen sind nur deine getreuen Diener, die versuchen, ihnen den Weg zu ebnen, damit sie diesen deinen Willen erfüllen können.«
Elke saß ihrer Zwillingsschwester Miriam gegenüber, die ebenso wie sie selbst vorsichtshalber eine demütige Pose eingenommen hatte und die Hände sittsam über dem Tisch gefaltet hielt. Beide waren sie in strahlend weiße Kleider gehüllt, deren Schnitt dem letzten Jahrhundert zu entstammen schien und die sie unter Anleitung ihrer Mutter selbst hatten nähen müssen. Die Rüschen an Kragen und Ärmeln kratzten auf der Haut, und ebenso wie Elke trug auch ihre Schwester die langen blonden Haare heute zu züchtigen Haarzöpfen geflochten, die seitlich über die schmalen Schultern fielen. Der ganze Aufzug war total peinlich, doch sonntags bestanden Vater und Mutter darauf, dass sie sich so kleideten. Unmerklich verdrehte Miriam die Augen. Elke wusste, dass auch sie nicht den leisesten Schimmer hatte, warum sie beide überhaupt ins Esszimmer zitiert worden waren.
Mutter sagte zu allem natürlich nichts. Sie saß am Tischende und betete leise das Vaterunser. Elke hoffte inständig, dass sie nie so werden würde wie ihre Mutter. Ändern würde sich diese wohl nicht mehr. Ebenso wie ihr Vater hatte sie die 55 bereits überschritten, und ihr verhärmtes Äußeres war in eine schlichte rosafarbene Strickjacke gehüllt, die irgendwie nicht zu dem abgetragenen grauen Rock und der altmodischen Bluse passte, die sie trug. All das machte sie viel älter, als sie sowieso war. Bizarrerweise passte die Jacke zu dem graustichigen Haar, das ihre Mutter zu einem Dutt hochgesteckt trug.
Und doch war heute irgendetwas anders. Statt gemeinsam in die Kirche zu gehen, wie sie es sonntags immer taten, hatte Vater sie und Miriam vorhin nach oben auf ihr Mädchenzimmer verbannt, während unten in der Küche Streit zu hören gewesen war. Anschließend hatten ihre Eltern offenbar Zuflucht im Gebet gesucht, wie sie es immer taten, wenn sie um eine Entscheidung rangen, denn es war eine Weile ruhig im Haus geworden. Worum es bei alledem ging, war den Schwestern verborgen geblieben. Doch es musste sich um etwas Ernstes drehen, denn der Adventsgottesdienst war inzwischen längst vorüber, und den hatten ihre Eltern noch nie ausfallen lassen.
Hoffentlich hatten ihre Eltern nicht den Walkman gefunden, den sie und Miriam in der Gartenlaube versteckt hielten. Oder die anderen Sachen.
Ihr Vater griff nun nach dem Holzkreuz mit dem Heiland über der Esszimmerkommode, hob es andächtig von der Wand und küsste die Jesusfigur. »Wie heißt es in Psalm 137?« Er schloss die Augen und rezitierte: »Herr, vergiss den Söhnen Edoms nicht den Tag von Jerusalem; sie sagten: ›Reißt nieder, bis auf den Grund reißt es nieder! Tochter Babel, du Zerstörerin! Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!‹« Unvermittelt drehte er sich um, sodass ihm die Zwillinge ins Gesicht blicken konnten. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Sagt selbst, soll es so weit kommen? Haben wir nicht stets versucht, das Böse von euch fernzuhalten? Haben wir euch nicht stets ermahnt, tugendhaft zu bleiben und ohne Laster?« Miriam warf Elke einen alarmierten Blick zu, die erst jetzt begriff, dass ihr Vater nun mit ihnen sprach.
»Ja, Vater, hast du!«, antwortete Elke rasch. Himmel, wenn sich ihr Vater so aufführte wie heute, bekam sie regelrecht Angst vor ihm. Mit jedem Jahr, das sie und Miriam älter wurden, wurde der religiöse Wahn, in den sich ihre Eltern hineinsteigerten, schlimmer. Letztes Jahr hatte ihr Vater sogar überlegt, sie beide von der Schule abzumelden, um sie selbst zu unterrichten. Glücklicherweise hatte er diese Idee nicht weiter verfolgt.
»Und habe ich euch nicht immer wieder beschworen, dass ihr euch von den weltlichen Verlockungen fernhalten sollt?« Vaters Faust schloss sich fester um das Kreuz; er streckte es seinen Töchtern mit einem Gesichtsausdruck entgegen, der blanke Wut zum Ausdruck brachte.
»Ja, Vater. Hast du.«
»Dann erkläre mir, Elke«, schrie er plötzlich los, »warum ich das hier in deinem Schulranzen gefunden habe!« Seine Linke klaubte aus der Hosentasche einen Zettel hervor und warf ihn neben den Adventskranz. Die Kerzen flackerten, und Elke starrte wie betäubt auf das Stück Papier mit Andys Schriftzug. Oh Gott! Darum also ging es. Sie war sich sicher gewesen, sie hätte den Zettel gut in ihrem Füllermäppchen versteckt. Sie schluckte.
»Du weißt, was darauf steht?« Ihr Vater trat lauernd an den Tisch. Elke nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie waren echt.
»Dann lass die Familie teilhaben an deiner Verfehlung, die allein schuld ist daran, dass wir heute nicht in die Kirche gehen können. Lies vor. Lies laut vor!«
Elke griff zögernd nach dem Stück Papier, sah kurz zu Miriam auf, die ebenso blass geworden war wie sie selbst, und strich es glatt. Das war so demütigend.
»Liebe Elke …«, hub sie stockend an. »Tut mir leid, dass ich dich gestern geärgert habe …« Verdammt, sie war 15 Jahre alt. Was glaubte ihr Vater denn? Zugleich erfüllten sie Andys Zeilen mit Stolz. »Ich finde Jutta aus der 9c gar nicht so toll. In Wahrheit bist du … das schönste Mädchen, das ich kenne. Möchtest du …« Sie verstummte.
»Lies weiter!«
»Möchtest du mit mir gehen …?« Ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern.
Vater riss ihr den Zettel wütend aus der Hand und hielt ihn für jeden im Raum sichtbar hoch. Unter der Schrift waren drei Kästchen zu sehen, über denen Andy Ja, Nein und Vielleicht geschrieben hatte.
Das Kästchen mit dem Ja war angekreuzt.
»Wie konntest du nur?!«, donnerte ihr Vater los. »Schämst du dich nicht? Wir haben euch beide doch nicht zu Huren erzogen!«
»Aber das ist doch bloß …«, wollte ihr Miriam beistehen, aber Vater schnitt ihr das Wort ab. »Halte den Mund, Miriam! Du bist nicht viel besser als deine Schwester. Ich kenne euch beide. Es gibt nichts, was die eine von euch tut, ohne dass die andere darum wüsste. Du hast damit ebenso viel Schuld auf dich geladen wie deine Schwester. Und jetzt sag mir, Elke: Wer ist dieser Junge?«
Tränen brannten auf Elkes Wangen, doch sie schwieg.
»Sag es mir!« Vater brüllte nun derart, dass ihm Speichel aus dem Mund flog. Elke zuckte zusammen, denn für einen Moment sah es so aus, als wolle er sie mit dem Kreuz schlagen.
»Nein, Joseph … Tu das nicht!« Ihre Mutter erhob sich, eilte hastig um den Tisch herum und fiel ihrem Mann in den Arm. »Sie sind doch unsere Engelchen. Gott hat sie uns anvertraut.
Das darfst du nicht vergessen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu schützen.«
Elke sah, dass Miriam ebenso erschrocken dreinblickte wie sie selbst. Ihre Mutter sagte nicht oft etwas und fügte sich normalerweise ganz dem gestrengen Vater. Dass sie dennoch eingriff, bewies, wie ernst es heute stand. Vater ließ das Kreuz langsam sinken und trat schwer atmend zurück. »Ja, ich weiß … Wir müssen sie schützen. Vor sich selbst …« Ein fanatischer Glanz stahl sich in seine Augen. »Fast hättest du mich dazu gebracht, mich an euch zu versündigen, Elke. Fast. So weit ist es schon gekommen.«
»Es tut mir leid«, wisperte sie. In Wahrheit hätte Elke am liebsten geschrien.
»Der Name.«
Elke schwieg noch immer.
»Du denkst wohl, ich werde ihn nicht herausfinden? Du denkst falsch!« Die Hand ihres Vaters zuckte vor und hielt den Zettel in eine der Kerzenflammen. »Ich werde diesem Teufel schon beibringen, dass sich niemand an unseren Engeln vergreift. Niemand!« Voller Abscheu warf er Andys brennendes Liebesgeständnis auf den Boden. Bevor Elke wusste, was sie tat, sprang sie dem Zettel hinterher und trat die Flammen mit den Schuhen aus. »Du bist so gemein!«
Vater packte sie grob im Genick. »So steht es also um dich! Du und deine Schwester, ihr beide werdet vor dem Herrn selbst Abbitte schwören. Und ich werde dafür sorgen, dass es nicht bei einem schnöden Lippenbekenntnis bleibt.« Er zog nun auch Miriam vom Stuhl und stieß beide Mädchen auf den Parkettboden. »Hinknien!«
»Papa, was soll das?«, stöhnte Elke auf. »Miriam hat doch nichts …«
»Hinknien, sagte ich!«, herrschte er sie nochmals an. Ängstlich kamen die beiden Mädchen der Anweisung nach und knieten in bußfertiger Pose auf dem harten Boden nieder, während ihr Vater zwei Perlschnüre mit Kreuzen aus der Kommode hervorkramte. Anschließend schickte er seine Frau nach drüben in die Küche. »Hol die Erbsen!« Mutter weinte still. Doch sie nickte nur und eilte nach draußen, während er selbst seinen Töchtern die Rosenkränze in die Hände drückte. »Einhundertfünfzig Ave Maria! Für jeden Psalm eins!«
Elke stöhnte und nahm das kleine Kreuz an der Kette widerwillig in die Hand. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass ihre Schwester es ihr gleichtat. Miriam war zwar die Schwächere von ihnen beiden, aber so schnell würde auch sie sich nicht kleinkriegen lassen. »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen …«, legte sie trotzig mit dem Glaubensbekenntnis los, doch ihr Vater hielt sie auf.
»Nein, nicht so.« Er wartete, bis seine Frau mit den Erbsen zurückgekehrt war, fischte vier der harten Hülsenfrüchte aus dem Glas und drückte seinen Töchtern jeweils zwei davon in die Hand. »Legt sie euch unter die Knie, während ihr Abbitte leistet.« Entgeistert starrte Elke ihren Vater an. War er verrückt geworden? »Das ist nicht dein Ernst?«
»Sehe ich aus, als würde ich scherzen!?«, brüllte ihr Vater und beugte sich nun so dicht zu ihr herab, dass sein Bart ihr Gesicht berührte. »Dabei solltest du wissen, dass mir das mehr wehtut als euch.« In seinen Augen brannte ein Feuer, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. »Aber du zwingst mich ja dazu. Wie schrieb Paulus an die Korinther? ›Ein gottgewollter Schmerz führt zu einer veränderten Einstellung, die man nie bereuen muss, und so zur ewigen Rettung.‹ Gib den Namen des Jungen preis, und ihr dürft auf die Erbsen verzichten. Andernfalls werdet ihr beide erfahren, welche Bedeutung die Worte des Apostels wirklich haben!«
Miriam neben ihr begann zu weinen. Auch ihre Mutter in der Zimmertür schlug die Hände vor den Mund und schluchzte. Doch Elke schluckte ihre eigenen Tränen tapfer herunter, schob sich die Erbsen unter die Knie und starrte ihren Vater kämpferisch an. Dann begann sie von vorn damit, das Glaubensbekenntnis aufzusagen. Die kleinen, harrten Kugeln unter den Knien drückten erbarmungslos gegen Knochen und Gelenk. Elke ächzte, und obwohl sie sich standhaft um Fassung bemühte, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht. »Gegrüßet seist du, Maria … voll der Gnade, der Herr ist mit dir …« Sie kam ins Stocken und ahnte, während sie die Perlen zwischen ihren Fingern dahingleiten ließ, dass sie drei Tage lang nicht mehr würde laufen können, wenn sie das hier überstand. »Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes …« Elke schickte sich soeben an, das erste Gesätz zu Ende zu bringen, als es an der Haustür klingelte. Ihre Eltern schreckten hoch und sahen sich überrascht an.
»Wer ist das?«, bellte ihr Vater, doch ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Dann sieh nach! Und ihr beide«, er wandte sich wieder seinen Töchtern zu, die qualerfüllt zu ihm aufblickten, »macht hübsch weiter!«
Elke versuchte den Schmerz in einen stillen Winkel ihres Bewusstseins zu verdrängen, als drüben an der Haustür der erstaunte Ruf ihrer Mutter laut wurde. »Sie, Herr Pfarrer? Grüß Gott! … . Aber natürlich. Kommen Sie herein.« Hoffnung keimte in Elkes Herzen auf, auch wenn sie Pfarrer Strobel nicht sonderlich mochte. Doch in diesem Augenblick hätte sie wie eine Ertrinkende nach dem berüchtigten rettenden Strohhalm gegriffen. Auch ihr Vater spähte überrumpelt zur Zimmertür. Dann stürmte er los und lief dem Gottesmann fast in die Arme. Ihre Mutter hatte den Seelsorger direkt ins Esszimmer geführt.
Hatte sie das absichtlich getan?
Pfarrer Strobel war ein hochgewachsener Mann mit stechendem Blick und krummer Habichtsnase, der sogar einen Kopf größer als Andy war. Sein schütteres Haar war unter einer schwarzen Wollmütze verborgen, und unter dem halboffenen, mit Schnee bestäubten Cordmantel lugte der weiße gespaltene Hemdkragen über einer knopflosen schwarzen Weste hervor. »Herr Bierbichler!«, begrüßte ihn Strobel mit maliziösem Lächeln.
»Hochwürden!?«, schnaufte Elkes Vater verlegen und schlug überrumpelt in die Hand ein, die ihm der Pfarrer hinhielt. »Gott zum Gruße. Wir … wir haben heute gar nicht mit Ihnen gerechnet.«
»Ich hatte schon befürchtet, Sie seien krank. Es ist schließlich noch nie vorgekommen, dass Sie die Sonntagsmesse …« Er hielt inne, da er nun Elke und Miriam erblickte, die noch immer die Rosenkreuze in den Händen hielten. »Komme ich ungelegen?«
»Nein, ich, äh …« Elkes Vater geriet ins Stottern, und sein Gesicht lief feuerrot an. »Ich meine, kommen Sie doch erst einmal herein.« Hastig bedeutete er Elke und Miriam, sich zu erheben, die dem Wunsch liebend gern nachkamen. Miriam liefen noch immer die Tränen über die Wangen, während sich Elke demonstrativ die Knie rieb. Pfarrer Strobel musterte die Mädchen auf eine Weise, die Elke unangenehm war, dann fixierte er die am Boden liegenden Erbsen. Doch statt Empörung glaubte Elke einen Augenblick lang so etwas wie Triumph in seinem Blick aufflackern zu sehen. Nein, sie musste sich getäuscht haben, denn der Pfarrer wandte sich sogleich ungehalten an ihren Vater. »Herr Bierbichler, Sie sollten wissen, dass ich so etwas nicht billige.«
»Ja, äh, aber … sie … Die beiden haben sich mit Jungs eingelassen. Hochwürden sagten uns doch selbst vor einigen Jahren, dass Gott von uns erwarte, dass wir auf die Reinheit ihrer Seelen achten sollen. Gerade jetzt, da sie sich in der …« Mit einer unwirschen Handbewegung schnitt ihm Strobel das Wort ab. »Ich glaube, wir haben uns da missverstanden, Herr Bierbichler.«
»Aber die göttliche Bestimmung der beiden. Sie sagten doch selbst, dass …«
»Ich weiß selbst, was ich damals gesagt habe«, zischte der Pfarrer verärgert und mäßigte sich sogleich. »Aber wie Sie sich vielleicht ebenfalls erinnern werden, schlug ich vor, dass Sie mich aufsuchen sollen, sollte es in dieser Hinsicht je zu Problemen kommen.« Er wandte sich den Zwillingen zu und schenkte ihnen ein öliges Lächeln. »Verzeiht eurem törichten Vater, meine Engel. Manchmal tut man aus Liebe Dinge, die man später bereut.«
Betreten schauten sich Elke und Miriam an.
»Was … was können wir denn für Sie tun, Herr Pfarrer?«, durchbrach Elkes Mutter das einsetzende Schweigen.
»Oh!« Strobel nahm sich die Mütze vom Haupt und klopfte den Schnee ab, als wäre nichts geschehen. »Ich bin eigentlich nicht direkt wegen ihnen beiden hier, Herr und Frau Bierbichler. Ich war besorgt darüber, dass Ihre Töchter nicht wie vereinbart gleich nach der Predigt zur Probe des Weihnachtschors kamen. Da einige andere Mädchen und Buben erkrankt sind, dachte ich mir, ich schaue mal nach dem Rechten.« Er lächelte unergründlich. »Wie sich herausgestellt hat, war das offenbar eine gute Idee.« Schon wandte er sich wieder den Schwestern zu. »Also, ihr beiden. Wie steht es? Ich hoffe, der Weihnachtschor muss ich auf Eure glockenhellen Stimmen nicht verzichten?« Elke sah fragend zu ihren Eltern auf. Erst als ihr Vater den beiden einen Wink gab, liefen Elke und Miriam an den Erwachsenen vorbei nach oben zu ihrem Dachzimmer, das mit einer Blumentapete beklebt und vornehmlich mit Porzellanpuppen, Büchern und religiösen Bildern eingerichtet war. Noch immer schmerzten Elke die Knie.
»Wieso warst du so bescheuert und hast den blöden Zettel behalten?«, schimpfte Miriam los, kaum, dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatten. »Du weißt doch, dass sie unsere Sachen kontrollieren.«
»Ich hab halt nicht dran gedacht.« Elke warf beleidigt einen ihrer blonden Zöpfe zurück. »Dass Vater so ausrasten würde, konnte ich doch nicht ahnen.«
Noch immer steckte ihr der Schock über das Verhalten ihres Vaters in den Gliedern, aber Elke beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Schwester setzte sich unglücklich auf ihr Bett und rieb sich die Beine, während Elke wütend das Sonntagskleid auszog und im Kleiderschrank nach vernünftigen Sachen suchte. Die coolen Kleider, die sie und Miriam in der Schule anzogen, hatten sie ebenso wie den Walkman draußen unter den Dielenbrettern der Laube versteckt. Da kam sie jetzt natürlich nicht heran. Aber sie würde sich beim Chor garantiert nicht in diesem besseren Leibchen zum Gespött machen. Auch Miriam warf sie Schuhe, dicke Strümpfe und ein neues Kleid hin.
»Du ziehst dich um?«, fragte diese ungläubig.
»Ja, Schwesterherz!«, antwortete Elke bestimmt. »Und du gefälligst auch. Wirf mal einen Blick aus dem Fenster. Draußen ist es kalt. Das dürfte doch Grund genug sein? Außerdem werden wir beide doch wohl nicht so blöd sein, vor dem Abendbrot nach Hause zurückzukehren, oder?«
Miriam griff zögernd nach den Sachen und zog sich nun ebenfalls um. »Wenn je herauskommt, dass der Zettel von Andy stammt, dann können wir uns beerdigen lassen.«
Elke zuckte mit den Achseln und schnaubte abfällig. »Wenn du es Vater nicht sagst«, antwortete sie patzig, »wie sollte er das je herausfinden?«
Miriam legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Und wenn wir uns doch mit alledem versündigen? In der Bibel steht schließlich …«
»Oh Mann, Miriam!« Elke funkelte ihre Schwester wütend an. »Wenn du jetzt auch noch damit anfängst, dann drehe ich durch. Ich kann diesen Quatsch nicht mehr hören.«
Diesmal war es Miriam, die schmollte. Doch kurz darauf grinste sie. »Andererseits, nett ist er ja, dein Andy.«
»He!« Elke warf einen Socken nach ihrer Schwester. »Wehe, du machst ihm schöne Augen.« Beide kicherten leise und beeilten sich mit dem Umziehen. Anschließend kehrten sie in betont reumütiger Pose ins Esszimmer zurück. Elke musste unwillkürlich daran denken, dass diese Masche auch bei den Jungs zog, abgesehen vielleicht von Robert, der sich immer total cool gab. Doch wenn sie Andy aus großen Kulleraugen ansah, dann überschlug er sich förmlich darin, ihr jeden Wunsch von den Lippen zu lesen. Und Niklas machte sogar ihre Schularbeiten, wenn sie nur leidend genug tat. Das war echt witzig. Ganz im Gegensatz zu dem, was sie heute erlebt hatten.
Ihre Eltern saßen inzwischen am Tisch und blickten betreten drein. Ihre Mutter weinte gar schon wieder. Offenbar hatte Pfarrer Strobel ein ernstes Wort mit ihnen gesprochen. Der wandte sich nun wieder ihnen zu und lächelte. Abermals beschlich Elke ein unangenehmes Gefühl, nur dass sie diesmal begriff, warum sie den Pfarrer nicht mochte. Denn wenn er lächelte, erreichte dieses Lächeln seine Augen nicht.
»Ah, ich sehe, ihr beiden seid fertig.« Strobel drehte sich zu ihren Eltern um und schlug einen Ton an, der keinen Widerspruch duldete. »Von nun an werde ich Ihre Töchter ein wenig unter meine Fittiche nehmen. Ich bin mir sicher, dass trifft Ihr Einverständnis.«
Elkes Vater starrte unbewegt seine Frau an, die auf eine Weise schluchzte, dass Elke mulmig zumute wurde. »Natürlich, Hochwürden.«
Irgendetwas war heute wirklich anders als sonst. Und das gefiel Elke gar nicht. Da entdeckte sie Andys geschwärzten Zettel am Boden. Sie tat so, als müsse sie ihre Schuhe schnüren, und nahm ihn an sich, bevor die Erwachsenen etwas davon mitbekamen.
»Kommt meine Lieben.« Pfarrer Strobel legte die Hände auf die Schultern der beiden Mädchen und führte sie zur Haustür.
Die Zwillinge griffen nach ihren blauen Jacken, Mützen, Schals und Handschuhen und begleiteten den Pfarrer in die von Schnee bedeckte Gasse vor dem elterlichen Haus. Sie war eng und verwinkelt; einstige Bauernkaten wechselten sich hier mit schiefen Häusern im Fachwerkstil ab. Allerorten hingen lange Eiszapfen von den Dächern und in manchen Fenstern waren weihnachtliche Rauscheengel und grüne Tannengestecke zu sehen. Die enge Brennergasse›in der die Bierbichlers lebten, war nicht einmal geteert, sondern noch immer mit Kopfsteinen gepflastert, nur dass diese unter der weißen Decke nicht sichtbar waren. Der Name des Straßenzugs verwies zugleich auf das hohe Alter der Ortschaft und nicht zuletzt auf die alten Familientraditionen, die in Perchtal gepflegt wurden. So lebte Elkes Familie von der Schnapsbrennerei. Ihr Vater verkaufte Perchtaler Spezialitäten wie Pfirsich-, Haselnuss- und Eierlikör, hinzu kamen Magenbitter, diverse Obstler und natürlich der berühmte Enzian. Erst vor wenigen Monaten waren die Wurzelgraber in die umliegende Bergwelt gezogen, denn ihr Vater besaß eine Sondergenehmigung zum Graben der Enzian wurzeln. Ein Nachbar kam ihnen entgegen, der vor Strobel den Hut zog.
»Herr Pfarrer, darf ich Sie etwas fragen?« Elke sah mit scheelem Blick zu dem Gottesmann auf, während sie an der Seite ihrer Schwester durch den Schnee stapfte.
»Aber natürlich, mein Engel.«
»Wie kommt es, dass Sie uns zur Chorprobe abholen wollen? Eigentlich müsste die doch längst stattfinden? Was machen die anderen denn jetzt ohne Sie?«
»Nun, mein Engel, in Wahrheit fällt der Chor heute aus.« Strobel blieb stehen und spähte den Weg zurück. Dabei zog er beiläufig ein paar Lederhandschuhe aus der Jackentasche. »Tatsächlich war es eher so ein Gefühl, das mich heute zu euch geführt hat. Ich habe den Chor daher ausfallen lassen.« Bevor Elke oder Miriam etwas sagen konnten, hob Strobel die Rechte.
»Nein, nein, ihr müsst mir dafür nicht dankbar sein. Ich weiß schließlich, wie nahe Eure Eltern dem Herrn stehen. Speziell euer Vater. Ich schlage vor, ihr besinnt euch auf das Vaterunser. Darin heißt es nicht umsonst: ›Wie auch wir vergeben unseren Schuldigem^ Friede kann schließlich nur da sein, wo auch Vergebung ist.«
»Was machen wir denn dann hier?«, fragte Elke argwöhnisch.
»Nun, ich dachte mir, ich komme euch etwas entgegen. Mädchen in eurem Alter brauchen schließlich auch einmal Zeit für sich, habe ich nicht recht?« Strobel zwinkerte ihnen verschwörerisch zu und zog sich den rechten Handschuh an. Elke und Miriam warfen sich verdutzte Blicke zu. »Dass sich Jungs und Mädchen ab einem bestimmten Alter kennenlernen möchten, ist doch nichts Verwerfliches. Das muss so sein«, fuhr Strobel mit sanfter Stimme fort. »Das hat der Herrgott für uns Menschen nun einmal so vorgesehen. Auch ich befand mich einst in der Pubertät und habe mich damals mit Mädchen getroffen. Ich hatte sogar eine Freundin. Kaum zu glauben, was? Das war natürlich, bevor ich mich dazu entschloss, Pfarrer zu werden.«
»Echt?«, fragte Miriam in gespielter Unschuld.
»Aber sicher.« Strobel musterte Elkes Schwester aufmerksam. »Im Übrigen bin ich der Pfarrer dieses Ortes. Mir entgeht nichts. Ich weiß schon lange, dass ihr euren Eltern gegenüber Heimlichkeiten habt. Wie zum Beispiel, dass ihr zu Hause behauptet, fast jeden Tag Nachmittagsunterricht zu haben – auch wenn dies in Wahrheit eine Lüge ist.« Elke und Miriam sahen sich alarmiert an. »Und ich weiß natürlich auch von dem Umgang, den ihr mit Andreas, Robert und Niklas pflegt. Man könnte fast behaupten, dass ihr fünf unzertrennlich seid, richtig?«
Elke schluckte. »Sie wissen das und haben unseren Eltern nie etwas gesagt?«
»Es reicht doch, dass ich es weiß, oder?« Strobel lächelte. »Oh, da wir gerade von den dreien sprechen. Ich habe fast das Gefühl, als gingen mir die Jungs aus dem Weg. Insbesondere Andreas und Robert. Dabei wäre es schön, wenn sie ebenfalls dem Chor beitreten würden. Ich hab mir daher gedacht, dass ihr die drei vielleicht dazu überreden könntet. Ich habe mir auch etwas Aufregendes einfallen lassen. Sozusagen, um das Eis zwischen uns zu brechen.« Strobel bleckte die Zähne. »Eine Nachtwanderung. Übermorgen, am Nikolaustag. Im Wald gibt es ein schönes, naturbelassenes Plätzchen, wo wir gemeinsam unsere Sangesstimmen erproben können. Die frische Luft wird unsere Lungen frei machen. Na, was haltet ihr davon?«
»Und wenn die drei keine Lust dazu haben?«, wandte Elke verunsichert ein.
»Oh, das wäre natürlich mehr als schade. Denn wie heißt es bei Matthäus 20,16? ›Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt.‹« Strobel sah hinüber zum Kirchturm, der sich über den verschneiten Hausdächern abzeichnete. Dann wandte er sich wieder den Mädchen zu, und diesmal klang seine Fistelstimme fast wie eine Drohung. »In diesem Fall müssten wir drei die Nachtwanderung nämlich allein antreten. Die Einwilligung eurer Eltern habe ich bereits. Ihr beide werdet also in jedem Fall mitkommen.«
Miriam schluckte. »Wir … wir können ja mal mit den Jungs reden.«
»Seht ihr, geht doch.« Die Lippen des Pfarrers kräuselten sich spöttisch. Er streifte sich den anderen Handschuh über. »Ich bin mir sicher, ihr beiden Hübschen werdet genügend Überzeugungskraft aufbringen. Also dann, genießt den Nachmittag.« Strobel tippte gegen die Mütze und ließ die Mädchen allein. Die starrten ihm konsterniert nach.
»Checkst du das?«, wollte Miriam wissen. Elke schüttelte unbehaglich den Kopf. »Nee. Wenn du mich fragst, stimmt mit dem was nicht. Auf gar keinen Fall geh ich allein mit ihm in den Wald.«
»Dann fragen wir die Jungs, ob sie mitkommen?«
Elke nagte an ihrer Unterlippe. »Wir sollten sie fragen, ob sie raffen, was Strobel von uns will.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Na, wir holen uns heimlich unsere Schlittschuhe aus der Laube und gehen zum See. Du weißt doch, dass die Jungs heute dort hin wollten.«
»Du meinst wohl speziell Andy?« Miriam grinste nun wieder, und Elke streckte ihrer Schwester die Zunge raus. Endlich kam sie dazu, den Handschuh auszuziehen, unter dem sie den bröseligen Zettel versteckt hielt, den sie vorhin vom Boden aufgeklaubt hatte. Schade, der erste Liebesbrief ihres Lebens war so gut wie zerstört. Sie faltete die verkohlten Überreste vorsichtig auseinander und starrte den Zettel überrascht an. Fast der komplette Schriftzug war unleserlich – bis auf einige wenige Worte, die sich hell vor dem dunklen Untergrund abzeichneten: Elke … Finde … die … Wahrheit … raus …
Niklas saß konzentriert an seinem Arbeitstisch, rückte mit dem Handrücken die Brille zurecht und übertrug die Mathe-Hausaufgaben in seinem Schulheft sauber auf einen karierten Block. Er liebte karierte Zettel. Die sich kreuzenden Linien suggerierten Ordnung. Und er liebte Zahlen. Weil in Zahlen eine Harmonie steckte, die die wirkliche Welt nur in Ausnahmefällen bot. Aus diesen Gründen bemühte er sich auch, die Ziffern sauber zu übertragen. Elke sollte sie schließlich gut lesen können, wenn sie und Miriam die Hausaufgaben abschrieben. Mit Mathe hatten es die Zwillinge nämlich nicht so. Aber Niklas half ihnen gerne. Auch wenn er natürlich wusste, dass Elke die wahre Botschaft, die in seiner sorgfältigen Abschrift steckte, vermutlich nie verstehen würde.
Manchmal nannten die Mädchen ihn The Brain, das Gehirn, und diese Anerkennung machte ihn ehrlich gesagt ziemlich stolz. Sie waren ganz anders als die meisten Jugendlichen in Perchtal, die ihn Fettsack oder Qualle nannten. Zumindest wenn Andy und Robert nicht in der Nähe waren.
Niklas hielt unwillkürlich inne, als er an die Schmähungen dachte. Sie taten weh. Sehr weh sogar. Und sie regten ihn auf. Schon griff er nach dem großen Stück Mohnkuchen auf dem Teller neben sich. Sein Vater, der die Bäckerei im Ort betrieb, hatte den Kuchen gestern erst gebacken. Doch obwohl der Abverkauf am Wochenende üblicherweise besser lief als unter der Woche, war noch ein halbes Blech übrig geblieben. Bis eben.
Niklas biss in den weichen Teig, und schon fielen dicke Krümel auf seinen Bauch, der ausladend über den Gürtel hing. Er sah es und ekelte sich vor sich selbst. Wie gern wäre er ein wenig mehr wie Andy, sportlich und gutaussehend. Doch Niklas musste immer Süßes essen, wenn er sich über etwas aufregte. Das war wie ein Zwang, den er einfach nicht unter Kontrolle bekam. Der Arzt hatte damals gemeint, dass das wohlmöglich mit seinem Stress in Zusammenhang stehe. Diabetes hatte er bei ihm nicht diagnostizieren können. Die Wahrheit hatte Niklas dem Arzt natürlich nicht anvertraut. Sein Vater wollte nicht, dass irgendwas davon nach außen drang. Immerhin, er schaffte es, das Stück Kuchen zurückzulegen. Vielleicht … vielleicht würde er seine Fresssucht eines Tages ja doch in den Griff bekommen?
»Na, Spatz? Arbeitest du schön?« Niklas schreckte herum, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Sie stand unmittelbar hinter ihm, hielt ein Tablett in der Hand und war wie so oft in ihren praktischen mausgrauen Hosenanzug gekleidet, der fast die gleiche Farbe wie ihre Dauerwelle hatte. Sie hatte die gleiche rundliche Statur wie ihr Sohn, doch im Gegensatz zu ihm war sie weit davon entfernt, fett zu sein. Liebevoll zwinkerte sie ihm zu, und ihre Zähne strahlten bei seinem Anblick um die Wette.
»Ich hab dich gar nicht kommen hören«, sagte Niklas mit gepresster Stimme. Er begann zu schwitzen, sodass seine Brille an den Rändern beschlug. Hastig polierte er die Gläser; dabei hätte er seine Mutter am liebsten angeschrien, warum sie sich immer so anschleichen musste.
»Ich wollte dich doch nicht stören, mein Liebling.« Sie setzte das Tablett auf dem Hocker vor dem großen Bücherregal ab und hob beiläufig einen Wälzer auf, der aufgeklappt auf dem Teppich lag. »Ah, nehmt ihr in der Schule die Nibelungensage durch?«
Verwundert blickte Niklas auf den Schmöker in den Händen seiner Mutter und entdeckte auf den Seiten eine altertümliche Abbildung Hagen von Trojes, jenem Verräter, dem Siegfried einst zum Opfer gefallen war. Er hatte das Buch bis eben gar nicht bemerkt. »Nee, kannst du wieder zurückstellen. Das muss irgendwie heruntergefallen sein.« Seine Mutter stellte den Band zurück ins Regal neben all die vielen anderen Bücher und spähte hinüber zum Schreibtisch. »Mathe?«
»Ja. Die Latein-Hausaufgaben habe ich gestern schon gemacht.« Niklas beäugte das viel zu große Stück Himbeerkuchen, das sie ihm mitgebracht hatte. Es roch köstlich und erinnerte ihn an den Sommer. Natürlich wusste seine Mutter, dass er Himbeerkuchen nicht widerstehen konnte. Ebenso wenig wie dem großen Schlag frischer Sahne in dem Schüsselchen daneben. Er konnte riechen, dass seine Mutter die Sahne mit einer doppelten Portion Vanillinzucker geschlagen hatte. So, wie er es am liebsten mochte.
»Ich dachte mir, ich bring dir noch was zu Essen rüber«, plapperte sie munter weiter, während sie ein großes, scharfes Messer zur Hand nahm und den Kuchen zerteilte. Niklas versteifte sich unwillkürlich und spürte, wie sein Herz zu rasen begann. »Schließlich musst du ja für deinen Lerneifer belohnt werden, nicht wahr, mein Spatz?«
Am liebsten hätte Niklas geheult. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? In Wahrheit wollte er gar nichts essen. »Danke«, presste er stattdessen hervor und beobachtete seine Mutter argwöhnisch, wie sie ihm einen neuen Kuchenteller reichte und dann die Gardinen beiseite schob, um einen Blick auf die Straße mit der Bäckerei gegenüber zu werfen. »Hattest du nicht gesagt, dass ihr euch erst um zwei Uhr zum Spielen verabredet habt?« Deutlich konnte er sehen, dass ihr rechtes Auge erregt zuckte. Ganz unmerklich, aber ihm entging das nicht. Immerhin, heute hatte sie ihre Pillen nicht vergessen, die sie seit dieser Sache vor sechs Jahren nehmen musste. Niklas wusste das ganz genau, denn er hatte wie jeden morgen im Alibertschrank nachgeschaut und die Tabletten nachgezählt. Gestern Mittag waren es siebzehn gewesen, heute waren es fünfzehn. Seine Mutter musste morgens eine nehmen und abends ebenfalls. »Ja, wieso?«
»Weil da hinten deine Freunde kommen.« Ihr Auge zuckte schon wieder. Niklas erhob sich ächzend und sah, dass draußen Andy und Stefan mit Hockeyschlägern nahten. »Ja, die sind ein bisschen früh dran.«
»Na gut, dann werde ich dir mal die Schlittschuhe aus dem Keller holen. Aber nicht, dass du dir nachher wehtust, mein Schatz. Du weißt doch, wie kräftig gebaut du bist.«
»Ich werde schon aufpassen.«
Seine Mutter küsste ihn auf die Stirn, nahm das Tablett auf und verließ sein Zimmer. Niklas spürte, wie sehr ihn ihre Anwesenheit angestrengt hatte. Er zitterte. Schnell schaufelte er sich etwas Sahne auf den Himbeerkuchen und stopfte sich die Leckerei in den Mund. An der Haustür klingelte es, und er konnte Andys Stimme hören.
»Guten Tag Frau Eichelhuber. Ist Niklas da?«
»Aber ja. Er sitzt drüben und macht Hausaufgaben.«
Kurz darauf betraten Andy und Robert sein Zimmer. Letzterer hatte heute sogar auf seinen Iro verzichtet. Die beiden trugen warme Jacken und lehnten ihre Schläger neben das große Teleskop vor dem Wandposter mit der Sternenkarte. Astronomie war nicht das einzige Hobby, das Niklas pflegte. Auf einer Kommode, gleich neben seinem Schachspiel, stand ein Mikroskop, das er vor zwei Jahren zusammen mit einem Biologiekasten geschenkt bekommen hatte, während sich auf dem Schlafzimmerschrank Kisten mit Fischertechnik stapelten.
»Na, alles klar, Alter?« Robert warf sich auf Niklas’ Bett, während Andy skeptisch die Überraschungseier-Sammlung betrachtete. Die bunten Figuren, Modelle und Spielzeuge waren sein ganzer Stolz und nahmen gleich drei Regalreihen ein. Er hatte sie aus Platzgründen sogar vor manchen seiner vielen Bücher aufgereiht.
»Ja, ich hab bloß noch nicht mit euch gerechnet«, meinte Niklas. »Ich zieh mich gleich an, dann können wir los.« Robert betrachtete sehnsüchtig die Kuchenreste, und Niklas sah ihm an, dass er zu Hause mal wieder nichts zu essen bekommen hatte. »Nimm ruhig«, meinte er, während er sich schnaufend in die Schuhe quälte. Es war fast so weit. Bald war er so dick, dass er sich nicht einmal mehr vernünftig bücken konnte. »Wir können auch noch was anderes zu essen mitnehmen, wenn ihr wollt.«
»Ja, wäre nicht schlecht.« Robert stürzte sich bereits mit Heißhunger auf die Kuchenreste. Andy hingegen senkte verschwörerisch die Stimme. »Bevor wir zum See gehen, haben wir aber noch was vor. Und dafür brauchen wir dich.«
»Was denn?« Niklas erhob sich ächzend und rückte seine Brille zurecht, als Andy ein Papiertütchen aus der Jacke fischte. Es handelte sich um Juckpulver.
»Wir wollen vorher noch ins Vereinshaus. Du weißt doch, Roberts Mutter putzt da. Wir haben also den Nachschlüssel. Wir wollen die Krampuskostüme von Konrad, Wastl und Lugge präparieren.« Andy lachte schadenfroh, und auch Niklas musste grinsen. Konrad hatte das verdient. Der Mistkerl zog ihn immer am meisten auf. »Klar, bin dabei. Was soll ich denn tun?«
»Schmiere stehen«, meinte Robert mit vollen Backen und stellte den leeren Teller zurück auf Niklas’ Schreibtisch. »Kriegen wir die Matheaufgaben auch, oder sind die wieder nur für die Mädchen?«
Niklas wurde rot. »Nee, könnt ihr natürlich haben. Aber ich dachte, ihr wisst, wie die gehen? Ich hab’s euch doch letzte Woche erklärt. Würde ich bei Elke und Miriam auch tun, aber ihr wisst ja, dass ihre Eltern das nicht so gern sehen.« Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber das mussten die beiden schließlich nicht wissen.
»Och, ich hab nichts gegen Abschreiben.« Andy grinste frech, doch Robert legte den Block wieder zurück. »Nee, Niklas hat schon recht. Wenn wir immer nur abschreiben, dann bleiben wir tatsächlich irgendwann sitzen.«
»Mann, was seid ihr denn für Spaßbremsen.« Andy gab Niklas einen Wink, dass er sich mit dem Anziehen beeilen solle, und griff beiläufig nach einem aufgeschlagenen Buch, das vor dem Bett lag. Er nahm es an sich und runzelte die Stirn. »Haben wir in Geschichte noch mehr Hausaufgaben auf, oder liest du das zu deinem Vergnügen?« Erstaunt warf Niklas einen Blick auf den Einband, der mit ›Römische Geschichte‹ betitelt war. »Nee, keine Ahnung, wie das Buch dahin kommt.«
Andy schmunzelte, während er die Seiten überflog. »Klingt eigentlich ganz spannend. Wusstet ihr, dass Cäsar von den Politikern Brutus und Cassius verraten wurde?«
»Ja, natürlich«, entfuhr es Niklas, der den Band nun selbst in die Hand nahm und die Seiten erstaunt betrachtete. »Die beiden haben die Verschwörung gegen Cäsar angezettelt, bei der er ermordet wurde. Ist ihnen aber nicht gut bekommen. Cäsars Adoptivsohn Octavian hat die Verräter später allesamt zur Strecke gebracht.«
»Too much details«, meinte Andy nur und schnappte sich seine Hockeyschläger. »Lasst uns lieber los.« Auch Robert nickte. Rasch stellte Niklas das Buch zurück ins Regal, glättete die Bettdecke und marschierte gemeinsam mit Andy und Robert rüber in den Hausflur, wo er sich in seinen dicken Wintermantel zwängte. Seine Mutter kam in diesem Moment mit den Schlittschuhen die Kellertreppe hoch und drücke sie Niklas in die Hand.
»Wartet, ich habe noch etwas für euch vorbereitet.« Zügig eilte sie in die Küche und kam mit einer prall gefüllten Bäckertüte zurück, aus der es herrlich nach belegten Brötchen duftete. »Ihr passt aber ein bisschen auf Niklas auf, ja? Nicht, dass er sich da draußen auf dem Eis verletzt?«
»Klar, machen wir«, antwortete Andy grinsend, was Niklas’ Mutter aber nicht bemerkte, da sie bereits damit beschäftigt war, ihrem Sohn die selbstgestrickte Bommelmütze aufzusetzen. Das Ganze war so peinlich, dass Niklas vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.
»Geht schon, Mama.«
»Ich will doch nicht, dass du dich verkühlst, mein Schatz.« Heimlich steckte sie ihm noch ein paar Schokoriegel zu. »Wo sind denn deine Handschuhe?«
»Ich glaube noch drüben im Zimmer.« Niklas rollte für jeden sichtbar mit den Augen und löste sich von seiner Mutter, während seine Freunde bereits nach draußen eilten.
Im Zimmer roch es noch immer nach Himbeeren, nur dass der Geruch jetzt einen unangenehmen Stich besaß. Wie Fäulnis. Seltsam.
Wo hatte er die blöden Handschuhe bloß hingelegt? Niklas entdeckte sie auf der Heizung unter dem Fenster. Er ergriff sie und wollte schon wieder zurück, als er sah, dass sich unter seiner Bettdecke, auf Höhe des Kopfkissens, ein kantiger Gegenstand abzeichnete. Ein weiteres Buch? Hatte Andy es dort zurückgelassen? Langsam wurde die Sache unheimlich. Niklas zögerte, dann schlug er die Bettdecke zurück und entdeckte auf dem Kopfkissen die aufgeklappte Hausbibel. Wie kam die denn hierher? Die stand doch normalerweise drüben im Wohnzimmer. Niklas hob das Buch misstrauisch an und sah, dass die Seiten mit dem Lukasevangelium aufgeschlagen waren. Sie waren am Rand mit Schokolade beschmiert, fast so, als solle damit eine bestimmte Textstelle kennzeichnet werden: Der Satan aber ergriff Besitz von Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte. Judas ging zu den Hohepriestern und den Hauptleuten und beriet mit ihnen, wie er Jesus an sie ausliefern könnte … .
Niklas runzelte pikiert die Stirn und wollte den Band gerade zuklappen, als ihm das mit Blumen bestickte Kissen auffiel, auf dem die Bibel gelegen hatte. Sofort bekam er Atemnot. Die Bibel fiel ihm aus der Hand, und er wankte entsetzt zurück. Keuchend und mit weit aufgerissenen Augen nestelte er an dem Kragen seiner Jacke, ohne die Augen von dem gespenstischen Objekt abwenden zu können. Das war nicht sein Kissen.
Das war das Kissen seiner Mutter.
Dieses Kissen durfte es überhaupt nicht mehr geben. Er hatte es doch damals eigenhändig im Wald vergraben. Niklas schluchzte, aber es gab keinen Zweifel. Das war das Kissen, mit dem seine Mutter versucht hatte ihn zu ersticken.