Prolog
Der Engel floh vor dem Licht. Das blonde Haar hing ihm in verschwitzten Strähnen in die Stirn, das himmlische Gewand war eingerissen, und der rechte Flügel hing gebrochen herab. Zitternd vor Angst und Kälte stolperte er im Schneetreiben den Forstweg entlang, während mit blubbernden Geräuschen das Ungetüm nahte, das ihn schon seit einer halben Stunde quer durch die Nacht jagte. Der Engel schluchzte, packte die hinderliche Schwinge im Laufen und riss sie mit einem hässlichen Knacken ab. Es war eine Kraftanstrengung, die ihn vor Erschöpfung stolpern und auf die Schneedecke stürzen ließ. Ein Strom Tränen benetzte seine Wangen, während er sich wieder hoch mühte und nach Atem rang. Die kalte Waldluft schmerzte in seinen Lungen, und die Beine waren ihm inzwischen so schwer wie Wackersteine. Längst hatte der Engel aufgehört zu schreien, denn der dichte Schneefall erstickte seine Rufe. Niemand konnte ihn hören. Dabei wusste er, dass nicht weit entfernt ein Forsthaus stand. Dort würde man ihm helfen. Doch die vielen Bäume schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. Granitsäulen gleich standen sie dicht an dicht am Wegesrand, so als wollten sie es verhindern, dass er seinem Verfolger entkam. Im Schein der Lichtfinger, die sich hinter ihm an den Stämmen vorbeizwängten, ähnelten selbst die filigranen Äste des Buschwerks trügerischen, mit Zuckerguss bedeckten Spinnweben, die nur darauflauerten, dass sich der Himmelsbote in ihnen verfing. In diesem Moment wünschte sich der Engel, wirklich über himmlische Kräfte zu gebieten. Denn dann würde er fliegen. Doch er konnte nicht fliegen. Er schaffte es ja nicht einmal zu schreien … Das Ungetüm röhrte triumphierend auf und walzte knirschend auf sein Opfer zu. Im Schneetreiben gemahnte es den Engel an einen gewaltigen schwarzen Schlitten mit runden, grell leuchtenden Laternen über den Kufen, deren Schein ihn erfasste und erbarmungslos aus der Finsternis riss. Geblendet hielt sich der Engel die Hände vor die Augen. Er musste weiter, fort von hier. Starr vor Entsetzen bemerkte er, wie die Silhouette des unheimlichen Gefährts immer größer wurde, bis es unvermittelt zwischen zwei hohen Bäumen zum Stehen kam. Der Rückweg war versperrt.
Unvermittelt erstarb das blubbernde Geräusch, und eine Stille umfing den Engel, die etwas Lauerndes an sich hatte. Einzig der Wind war noch zu hören, der im Geäst der Bäume säuselte. Der Wind und ein schauderhaftes Geräusch, das wie das Knacken von Klauen klang. Schon drängte eine korpulente und von wirbelnden Schneeflocken umwehte Gestalt in den Lichtschein. Sie war in einen Kapuzenumhang aus blutrotem Stoff gehüllt, der sich fest um den ausladenden Bauch spannte. Weißes Fell umschloss den Saum des Gewandes wie auch die Ränder der Kapuze und die Aufschläge der Ärmel. Der Nikolaus!
Doch die Gestalt mit dem langen, bis auf die Brust reichenden Bart hatte nichts Tröstliches an sich. Der Engel kniff verängstigt die Augen zusammen und sah, wie sich ein gemeines Grinsen auf dem feisten Gesicht abzeichnete. Ohne zu zögern, marschierte der Gabenbringer auf den Engel zu. Und mit jedem Schritt, den er tat, wuchs auch sein Schatten in die Länge – bis dieser den Himmelsboten erreichte.
Der Engel schreckte aus seiner Starre, sah sich gehetzt um und entdeckte zwischen den vielen Bäumen endlich das Forsthaus. Gleich einem verwunschenen Hexenhäuschen erhob es sich auf einer von Schlagholz gesäumten Lichtung, die keine drei Steinwürfe von ihm entfernt lag. Die Fenster waren von innen mit Tannengrün und Sternen geschmückt, die in der Ferne um die Wette blinkten. Der Engel warf sich herum und stürzte in das Unterholz. Äste knackten unter seinem Gewicht, Zweige krallten sich in sein Gewand, und dicke Lagen von Schnee stürzten auf ihn herab. Wimmernd riss er sich los, stolperte weiter, schlug mit dem Kopf gegen einen überhängenden Ast und stürzte der Länge nach auf den gefrorenen Waldboden. Bunte Schleier wallten vor seinen Augen. Verzweifelt mühte er sich wieder hoch, taumelte gegen einen Baumstamm, dessen Rinde sich kalt und rissig unter seinen Händen anfühlte, und entdeckte das viele Blut, das ihm von Nase und Lippe troff. Es schmolz rote Löcher in den Schnee.
»O lieber Herre Christ«, höhnte es vom Hohlweg her, »meine Reise fast zu Ende ist. Ich soll nur noch in diese Stadt, wo’s eitel gute Kinder hat …«
Der Engel sah erschrocken von dem blutigen Schnee zu seinen Füßen auf. Er war nicht weit gekommen, vielleicht drei oder vier Schritt. Der Nikolaus stand nun dort, wo er den Pfad verlassen hatte. Zitternd wich der Engel weiter zurück, glitt diesmal auf einer überfrorenen Wurzel aus und stürzte abermals in die kalte Pracht. Der Unheimliche grunzte. Schon trat er aus dem Lichtschein des Wagens und bahnte sich einen Weg durch das Unterholz. »Hast denn das Säcklein auch bei dir?«
Verzweifelt griff der Engel nach einem Zweig, versuchte sich erfolglos daran hochzuziehen und krabbelte schließlich rücklings von seinem Peiniger fort. Der Nikolaus hob die Linke, und der Engel sah, dass die Finger einen großen Jutesack umklammert hielten.
»Ich sprach: Das Säcklein, das ist hier. Denn Äpfel, Nuss und Mandelkern, fressen fromme Kinder gern.«
Der Engel stieß mit dem Kopf gegen einen Stamm und blieb nun endgültig wie ein auf dem Rücken liegender Käfer liegen, die Augen starr vor Entsetzen auf das bärtige Antlitz seines Verfolgers gerichtet. Der Bart war nicht echt, das erkannte er jetzt.
. »Bitte, tun Sie mir nichts!«, schluchzte er. Längst hatte sich die korpulente Gestalt vor ihm aufgebaut und starrte kalt und unerbittlich auf ihn herab. Abermals schlugen dem Engel die Zeilen dieses unheimlichen Gedichts entgegen.
»Hast denn die Rute auch bei dir?« Die Lippen des Finsteren kräuselten sich spöttisch, als er einen Gegenstand mit langer Nadel zückte, aus der eine Flüssigkeit spritzte. »Ich sprach: Die Rute, die ist hier!« Der Engel schrie verzweifelt auf, aber ein schwerer Schlag ins Gesicht setzte dem Laut ein jähes Ende. »Doch für die Kinder nur, die schlechten; die trifft sie auf den Teil, den rechten.«
Die Gestalt packte den Engel schnaufend und warf ihn auf den Bauch. Ein scharfer Schmerz entflammte sein Gesäß, als die spitze Nadel tief in sein Fleisch stach. Verzweifelt schlug der Engel um sich und strampelte mit den Beinen, doch der Nikolaus hielt ihn im Nacken gepackt und drückte das blutende Gesicht des Engels mit aller Kraft in den weißen Untergrund.
»Christkindlein sprach, so ist es recht«, ächzte sein Peiniger angestrengt. Es dauerte eine Weile, bis er dem Engel das Metall wieder aus dem Leib zog. »So geh denn mit Gott, mein treuer Knecht!«
Endlich ließ er den Engel los. Der hustete, spuckte Schnee und kaute auf geronnenem Blut. Sein Gesäß brannte wie Feuer, während sich eine kalte Flüssigkeit in seinem Körper ausbreitete. Die Luft schmeckte jetzt nach Eisen, und eine schreckliche Müdigkeit bemächtigte sich seiner.
»Wer … sind Sie?«, lallte der Engel. Seine Glieder fühlten sich nun so taub an, als wären sie in der Kälte erfroren.
»Teufel, bringen sie euch in der Schule nichts mehr bei?« Abfällig spuckte der Maskierte in den Schnee und beugte sich dicht über das Gesicht des Engels, sodass dieser den säuerlichen Atem des Fremden riechen konnte. »Von drauß’ vom Walde komm ich her. Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr. Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find! Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? – Na, klingelt’s jetzt? Das ist von Theodor Storm. Und ich – ich bin der Knecht Ruprecht.« Er betrachtete den Engel, der bleich, betäubt und mit gebrochenen Flügeln vor ihm auf dem Schnee lag.
»Vielleicht kennst du mich ja auch unter dem Namen Krampus? Du weißt schon, der mit den Ketten.« Die Gestalt lachte, als habe sie einen Scherz gemacht. Ohne Eile stülpte sie dem Engel den Sack über den Kopf. Finsternis hüllte den himmlischen Boten ein. »Na gut«, tönte es von außerhalb, »vielleicht bin ich nicht der echte Knecht Ruprecht. Aber den wirst du schon bald kennenlernen. Weißt du, wie man ihn auch nennt?« Der Fremde wuchtete den Sack mühsam über die Schulter und trug den Engel durch das knackende Unterholz zurück zum Hohlweg. »Man nennt ihn den Kinderfresser. Und du wirst schon bald erfahren, warum …«