XV: Monique

AL-HILLA
2. SEPTEMBER 2009

1

Als die Sonne über der Wüste aufging, schien nichts von alledem geschehen zu sein.

Ich wachte wie immer um sechs Uhr morgens von dem Wecksignal im benachbarten Militärlager auf, taumelte die Treppe nach unten und ging an der Latrine vorbei zu dem großen, gemeinsamen Duschraum. CC rasierte sich gerade.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ich kriege die Bilder nicht aus dem Kopf.«

»Ich weiß, wie es Ihnen geht. Wir können nachher ein Gespräch mit dem Arzt des Camps führen. Debriefing. Angeblich hilft das.«

Die Forscher arbeiteten in drei Schichten, von denen die erste um fünf Uhr morgens begann. Jeder Quadratmeter des Zikkurats wurde fotografiert, mit Videokameras gefilmt, aufgezeichnet und beschrieben. Über den Überresten von Oûäh war ein Plastikzelt errichtet worden. Überdies hatte man Teile der Halle abgesperrt, damit die Biologen ungestört ihre Analysen vornehmen konnten. Im Feldlabor wurde alles klassifiziert und katalogisiert, was der Grabkammer entnommen wurde. Hier herrschte rund um die Uhr Aktivität. Nach der Registrierung wurden die Gegenstände in Aluminiumkästen gepackt und mit passend zum Artefakt in Form gegossenem Schaumgummi gesichert. Die Aluminiumkästen kamen in Spezialcontainer, um zur gründlicheren Analyse in die USA geflogen zu werden.

Vor dem Eingang des Lagers war ein regelrechtes Medienzentrum aus dem Boden geschossen. Viele der großen Fernsehanstalten hatten ihre Kriegskorrespondenten und Übertragungswagen aus Bagdad abgezogen. Trotz der fetten Zeitungsschlagzeilen und der langen Fernsehreportagen über den Turm zu Babel war nicht ein Wort über Oûäh an die Öffentlichkeit gelangt. CC hatte große Angst davor, dass der Fund bekannt werden könnte. Eine solche Neuigkeit, meinte er, müsse der Welt mit angemessener Pietät mitgeteilt werden. Es war angedacht, dass der amerikanische Präsident die UN-Vollversammlung in einer weltweit live übertragenen Rede informierte.

Die Journalisten siedelten die Entdeckung des Turms zu Babel irgendwo zwischen einer historischen Kuriosität und einer militärpolitischen Verwicklung an. Keiner von ihnen verstand, was wir eigentlich machten. Aber das war – alles in allem betrachtet – unwichtig.

2

Ich war auf dem Weg aus der Messe zum Feldbüro, als ich sie sah. Sie war am Parkplatz abgesetzt worden und ging, eingehüllt in eine Staubwolke, zu Fuß über den schmalen Weg zu den Baracken.

Monique.

Als sie mich entdeckte, blieb sie stehen. Der Wind griff in ihre Haare. Sie waren nicht mehr blond. Sie waren pechschwarz.

»Monique!«, sagte ich, als sie nah genug war.

Ihre Augen waren geschwollen, rot und glasig. Ich verstand, dass weit entfernt in Amsterdam Dirk van Rijsewijk aufgehört hatte, um jeden Atemzug zu kämpfen.

Ich umarmte sie. »Mein Beileid«, flüsterte ich. Sie drückte meinen Oberarm. »Danke«, formte sie mit den Lippen. Unbeholfen legte ich meinen Arm um ihre Hüfte und versuchte, sie zu trösten. Sie nahm ihren Block heraus. »Ich habe bei ihm gesessen, als er eingeschlafen ist«, schrieb sie. Ihr Blick war mir unangenehm. Es sah aus, als wollte sie noch mehr schreiben. Sie zögerte. Etwas – ein Gedanke, eine Unsicherheit – hielt ihren Stift fest. Dann schrieb sie: »Ich habe Durst.«

3

»Ich muss dir etwas erzählen«, schrieb Monique.

Wir hatten uns mit zwei Gläsern amerikanischer Limonade mit Eiswürfeln auf die Plattform gesetzt. Ich hatte zwei Ventilatoren geholt, einen für Monique und den anderen für mich. Der Luftstrom ließ die Blätter ihres Blocks flattern.

Irgendwo tief in mir drin hoffte ich, sie würde schreiben, dass sie mich liebte. Dass sie gemeinsam mit mir alt werden wollte, dass sie jetzt frei war und ihren Gefühlen folgen konnte. Ihren Gefühlen zu mir. Irgendetwas in dieser Richtung. Bjørn, der Romantiker.

»Ich weiß, dass du enttäuscht warst«, schrieb sie. »Tu nicht so, als würdest du mich nicht verstehen. Du fühlst dich von mir betrogen.«

Konnte ich das leugnen? Sie hatte mich betrogen. War die ganze Zeit auf CCs Seite gewesen.

»Ich konnte nichts sagen. Nicht zu dem Zeitpunkt«, schrieb sie. »Aber jetzt ist Dirk nicht mehr da … er hat darauf bestanden. Die ganze Zeit. Er war richtiggehend monoman, was unsere Anonymität anging.« Sie sah mich fragend an. »Weißt du es wirklich nicht?«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete.

Zehn, fünfzehn Sekunden lang kritzelte sie planlos auf ihrem Block herum. Dann schrieb sie: »Wer war Dirk?«

»Dirk war dein Mann.«

Sie zuckte zusammen.

»Mein Mann? Wie kommst du denn darauf?«

Ihr Gesichtsausdruck zeigte offene, unverfälschte Verblüffung. Sie spielte mir nichts vor.

»Das … davon bin ich immer ausgegangen. Vermutlich hat mir das mal jemand gesagt. Wart ihr denn nicht verheiratet?«

»Verheiratet? Nie! Das ist doch absurd!«

Sie schüttelte lange den Kopf.

»Ich habe dir nie Grund zu einer solchen Annahme gegeben.«

»Tut mir leid. Ich habe das so aufgefasst. Ich muss da etwas missverstanden haben.«

Wieder zögerte sie, bevor sie schrieb: »Frag dich doch mal, warum Dirk und ich im Verborgenen gelebt haben.«

»Weil ihr ein diskretes, zurückgezogenes Leben führen wolltet?«

»Lieber, guter, dummer Bjørn.«

Der Luftstrom des Ventilators lief mir wie ein Schauer über den Rücken.

»Dirk van Rijsewijk war kein Niederländer«, schrieb sie. »Er war Italiener. Sein wirklicher Name war Giovanni Nobile.«

4

Giovanni Nobile …

Der Dämonologe. Der italienische Theologe.

»Ich dachte, Giovanni Nobile wäre ermordet worden?«

»Ja, das sollten alle glauben.«

Ich sah sie an.

Und dann verstand ich. Schließlich doch.

Endlich. Dummer, dummer Bjørn.

Ich betrachtete ihr hübsches Gesicht, den goldenen Glanz ihrer Haut, die braunen Augen.

»Du bist seine Tochter.«

Sie nickte.

»Du warst nie seine Frau. Du bist Giovanni Nobiles Tochter.«

Nicken.

»Du bist Silvana.«

Sie nickte weiter.

»Ja«, schrieb sie, »ich bin Silvana Nobile.«

5

Und dann begann sie zu erzählen.

Sie schrieb, lange, und ich las ihre Geschichte mit glänzenden Augen.

Ich las über den Tag, an dem sie vor der Schule gekidnappt und in den Sarg gelegt wurde. Ich las über die endlosen Stunden, die sie eingesperrt gewesen war.

»In diesem Sarg habe ich meine Sprache verloren«, schrieb sie. »Die Ärzte können sich das nicht erklären. Papa hat mich zu diversen Spezialisten gebracht, aber meine Stimme ist in diesem Sarg geblieben. Auch wenn das keinen Sinn macht. Du musst das nicht verstehen. Die Worte kommen einfach nicht mehr aus mir heraus. Die Spinne war eine Notlüge. Der Sarg hat mich stumm gemacht. Der Sarg!«

Wir sahen einander an. Ich spürte den Luftstrom und roch den schwachen Duft von Chanel No. 5.

»Papa und ich sind geflohen. Erst weg aus Rom. Vor der Polizei. Vor den Mönchen. Alle waren sie hinter ihm her. Die Polizei, die Sekte, die Universität, der Antiquar Luigi. Ein paar Wochen lang waren wir in Grado. Dann in Triest. Papa hatte Kontakte. Menschen, denen er vertraute. Sie haben uns geholfen und uns neue Identitäten verschafft. Falsche Pässe und Papiere. Irgendwann haben wir dann die Identität von Leuten angenommen, die gerade gestorben waren. Niederländer. In Amsterdam hat sich Papa mithilfe eines Kollegens neu etabliert.«

»Und deine Mutter?«

Ein schmerzhafter Zug umspielte ihren Mund.

»Sie kam nach Ortobello. Heimlich. Aber es war zu viel für sie. Ich kann das nicht erklären. Sie ertrug die Vorstellung nicht, ein Leben auf der Flucht zu führen. Vielleicht stimmte auch nicht alles zwischen Papa und ihr. Ich weiß es nicht.«

»Aber sie ließ dich mit deinem Vater ziehen?«

»Sie wollte, dass ich zurück mit ihr nach Rom ging, aber Papa sagte Nein. Er meinte, es sei dort nicht sicher genug für mich.«

»Verständlich.«

»Mama sagte, sie würde nachkommen. Wenn sich alles beruhigt hätte. Aber dazu ist es nie gekommen.«

»Was ist passiert?«

Sie starrte vor sich in die Luft. Lange. Als müsste sie tief in sich gehen, um die Antwort formulieren zu können.

»Papa wurde von den italienischen Behörden für tot erklärt. Viele Jahre später. Mama hat wieder geheiratet. Ihren Chef. Enrico. Sie hat zwei Söhne mit ihm, aber ich habe meine Halbbrüder nie kennengelernt. Sie glauben, dass ich gemeinsam mit Papa gestorben bin.«

Ich dachte an meine Mutter und an meinen Halbbruder. Moniques Schicksal und meins waren durch ein dünnes Band miteinander verknüpft.

»Ich habe Mama vor ihrem Tod noch fünfmal getroffen«, schrieb sie.

»Wie hat das Luzifer-Projekt euch in Amsterdam aufgespürt?«

»Es war umgekehrt. Papa hat sie gefunden. Er hat nie damit aufgehört, das Luzifer-Evangelium zu erforschen, und er hat alles verfolgt. Alle fachlichen Diskussionen. Hat Zeitschriften gelesen und schließlich nach einigen Jahren erkannt, dass sowohl die Drăculsângeer als auch eine internationale Forschergruppe auf der Jagd nach dem Manuskript waren. Er hat falsche Spuren gelegt und CC zu sich gelockt.« Sie blätterte um. »Als er sicher war, dass er ihm vertrauen konnte, hat Papa ihn in unsere Situation eingeweiht und ihm das Manuskript gegeben, das er seit 1970 bewacht hatte. Er wurde Mitarbeiter der Forschungsgruppe. Genau wie du. Er war eine entscheidende Ressource, auch das genau wie du.«

Sie öffnete ihre Tasche und nahm einen Umschlag heraus, den sie mir reichte.

»Von Papa. Ich musste seine alte Schreibmaschine vom Dachboden holen. Ich wollte ihm meinen Laptop leihen, aber nein, nur die Remington war ihm gut genug. Die hat Mama mir geschickt, gemeinsam mit seiner Plattensammlung und meinen Spielsachen, als sie aus unserer Wohnung in Rom ausgezogen ist.«

Ihr Stift stockte.

»Einen Tag nachdem er diesen Brief geschrieben hat, ist Papa gestorben.«

Das Luzifer Evangelium
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