IV: Die Mönchszellen

1

Die zehn Mönche waren in zehn Einzelzellen in einem stillgelegten Gefängnistrakt untergebracht, den die italienischen Behörden CC zur Verfügung gestellt hatten.

Die Straße vor dem Gefängnis war abgesperrt worden und wurde von bewaffneten Carabinieri, der Gefängnispolizei und von städtischen Polizeibeamten bewacht. Über dem Viertel kreiste ein Militärhubschrauber. Der Chauffeur, CC und ich mussten unsere Ausweise und einen abgestempelten Passierschein vorzeigen, bevor die Wachen den Wagen durchwinkten.

Im Hinterhof wartete ein weiteres Kontingent bewaffneter Sicherheitskräfte.

»Die Bereitschaftstruppe«, sagte CC, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. »Falls jemand eine Befreiungsaktion wagen sollte.«

Die Zellen lagen in einer Reihe hintereinander an einem langen Korridor, in dem der Putz von den Wänden blätterte. Durch schmale Fensterschlitze fiel Sonnenlicht herein. Es roch schwach nach altem Urin, Schimmel und Putzmittel.

Ein Wachmann schloss die erste Tür auf, das grau gestrichene Metall markiert mit einer großen 1. Ich erkannte den jungen Mönch mit der großen Nase wieder. Er saß auf seiner Pritsche und war an die Wand gekettet. Sie hatten ihm die dunkle Kutte abgenommen und gegen einen steifen, grauen Gefängnisanzug eingetauscht.

Als wir die Zelle betraten, schaute er auf, wandte den Blick aber sofort wieder ab, als er sah, wer wir waren. Ich versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber er sah mich nicht einmal an. Am Ende gab ich es auf. Wir begaben uns zur nächsten Zelle.

Wo sich die Prozedur wiederholte.

Ein kurzer Blick. Kein Wort.

Ausdruckslos sperrten die Wachmänner eine Tür nach der anderen auf. Zwei große Schlüssel mussten in jedem Schloss herumgedreht werden, bevor die Tür geöffnet werden konnte.

Keiner wollte etwas sagen. Keiner hatte dem Mann, den sie zu töten versucht hatten, etwas mitzuteilen.

2

In der letzten Zelle, der Nummer zehn, saß der distinguierte Herr, der sich Primus Pilus nannte. Er nickte vor sich hin, als CC und ich in die Zelle traten. Als hätte er uns erwartet.

»Sie unterliegen der Schweigepflicht.« Sein Akzent war deutlicher, als ich es in Erinnerung hatte. »Nicht einmal unter Folter würden sie etwas sagen.«

»Wie wäre es mit Blutabzapfen?«, fragte ich keck. Immerhin war er an die Wand gekettet.

»Ich habe ein paar Informationen zum weiteren Prozedere«, sagte CC. Er klang formell und emotionslos, als würde er bei einer Hauseigentümerversammlung die Liste mit den Anträgen vorlesen. »Sie werden in eines der Länder ausgeliefert werden, in denen die Morde stattgefunden haben. Eine harte juristische Nuss. Drei Morde in drei verschiedenen Ländern. Wenn alle Länder auf Ihrer Auslieferung bestehen, wird das EU-Organ Eurojust bei der Entscheidung behilflich sein müssen, welches Land für die Strafverfolgung zuständig ist. Aller Voraussicht nach werden Sie kollektiv der Mittäterschaft des vorsätzlichen Mordes angeklagt werden. Ohne konkrete Beweise wird nur schwer nachzuweisen sein, wer von Ihnen die Morde ausgeführt hat. Aber das alles kommt erst dann zum Tragen, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Sie haben eine Menge zu verantworten. Aber keine Sorge. Wir haben etwas humanere Verhörmethoden als Sie und werden keinen Tropfen Blut vergießen. Wir bringen die Leute auf andere Weise zum Sprechen. Mithilfe von ein bisschen Chemie.«

Als hätte er gar nicht zugehört, strich sich der Mann mit den Fingern über den silbergrauen Bart. Seine Handgelenke waren mit Klebeband umwickelt, die langen, spitzen Fingernägel gekürzt und abgefeilt. Vielleicht befürchteten die Wachleute, er könnte sie sonst als Waffe einsetzen. Was der Wahrheit recht nahe kam.

»Was wollen Sie hier?«, fragte er an mich gewandt. Sein Anzug raschelte, als er sich bewegte.

»Sie wollten mich umbringen. Ich finde, ich habe ein gewisses Anrecht darauf, die Gründe dafür zu erfahren.«

»Ich dachte, die wären Ihnen klar?«

»Ich habe verstanden, dass Sie die Handschrift haben wollen. Aber ich verstehe nicht, wieso ein Menschenleben so wenig bedeutet.«

»Wir Menschen leben allein dank der Gnade der Götter.«

»Sie sind Mönche, keine Götter. Sie können doch nicht darüber bestimmen, wer leben darf und wer nicht.«

»Wir sind das Instrument der Götter.«

»Mit uneingeschränkten Vollmachten?«

»Sie verurteilen uns, weil Sie nichts wissen. Wenn wir sterben, gehen wir ins costhul ein – die universelle Gemeinschaft, die immer da war und ewig bestehen wird. Das Leben auf dieser Erde ist nur ein unbedeutender Augenblick in dieser Unendlichkeit.«

»Und dieses Wissen gibt Ihnen das Recht zu töten?«

»Was bedeutet ein Menschenleben? Ein Menschenleben ist kurz. Costhul währt ewig.«

»Sagt wer? Gott?«

»Niemand kennt Gott. Die Juden nicht. Die Christen nicht. Die Muslime nicht. Wir nicht. Gott ist zu groß, um verstanden zu werden. Wir Menschen sind nicht in der Lage, das Göttliche zu verstehen. Das können nicht einmal die Propheten und Priester. Aber wenn wir eins werden mit costhul und den Göttern, kann jeder Einzelne von uns über alle Welten des Himmels herrschen. Hârga-më-gïddô-dôm wird uns von den Ketten des irdischen Lebens befreien. Erst wenn am Tage des Jüngsten Gerichts die Schöpfung zerschlagen wird, werden wir alle eins. Mit der Finsternis. Mit dem Licht. Mit costhul

»Sie sind doch nicht ganz bei Trost.«

»Lesen Sie unsere heilige Botschaft!«

»Was für eine Botschaft?«

Er schwieg. Demonstrativ.

Ich stellte ihm noch ein paar Fragen, aber es schien, als hätte jemand – vielleicht Luzifer oder sein Verstand – ihn abgeschaltet. Auch gut. Sein Blick verlor sich in einer Dimension, zu der weder CC noch ich Zugang hatten. Glücklicherweise.

Nach einigen Minuten verließen wir die Zelle. Bevor die Tür zufiel, zog er meinen Blick auf sich und sagte: »In nomine Magna Dei Nostri Satanas …«

Die zufallende Tür schnitt den Rest ab.

3

Wir gingen nach draußen auf den Innenhof und setzten uns in den Wagen. CC war nachdenklich.

»Merkwürdig. Der Mönch hat ein paar Worte gesagt, die mir vor Kurzem untergekommen sind. Hârga-më-gïddô-dôm

»Klingt ein bisschen wie Armageddon. Ist damit ein Ort gemeint? Der Ort, an dem die entscheidende Schlacht zwischen Gott und Satan stattfinden wird?«

»Auf dem Megiddo-Berg in der Jesreel-Ebene in Israel. Dort, prophezeit die Bibel, wird die Endschlacht zwischen dem auferstandenen Jesus und dem Antichrist entschieden.«

»Wo ist Ihnen dieses Wort untergekommen?«

»Wir haben eine vielversprechende Spur verfolgt, die Aldo Lombardi in einem der Texte von Papst Gregorius Dialogus entdeckt hat. Er verwies auf eine heidnische Wandinschrift in den Katakomben von Rom.«

Das mit den Religionen habe ich nie wirklich kapiert.

Ich kann verstehen, dass man glaubt. Das ist der Ausdruck einer Sehnsucht nach etwas Größerem, etwas Unverständlichem, nach einer Richtung. Einem Sinn. Mir liegt Karma näher. Alles, was man tut oder unterlässt, ist vom persönlichen Schicksal vorherbestimmt. Die Summe aller Handlungen bestimmt das nächste Leben. Man erntet, was man sät. Ganz simpel und völlig okay. Aus dem Kreislauf der Wiedergeburt auszubrechen, ist Nirwana.

Das mit dem Nirwana hab ich auch nie wirklich verstanden.

Buddha hat das Nirwana als den perfekten Sinneszustand von höchstem Glück, innerer Ruhe und Harmonie beschrieben. Weit entfernt von dem, wie sich mein Leben im Moment gestaltete.

Das Luzifer Evangelium
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