XII : Die Spinne
PARIS
6. – 7. JUNI 2009
1
Ich verließ Amsterdam am nächsten Vormittag und reiste weiter nach Paris, versunken in einem Sumpf unbeantworteter Fragen und unterdrückter Angst, zusammen mit meiner neuen Reisebegleitung Monique, die wie eine Sphinx auf dem Beifahrersitz neben mir saß. Sie hatte Strickzeug mitgenommen, das lange Phasen ihre komplette Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Bis jetzt fand ich es noch ganz angenehm, Gesellschaft im Auto zu haben, aber es wäre einfacher gewesen, wenn sie nicht stumm gewesen wäre. Hin und wieder versuchte ich, eine Art Unterhaltung in Gang zu bringen, aber bei hundert Stundenkilometern war es nicht ganz ungefährlich, ihre Antworten zu lesen. Schneller fuhr mein Auto nicht. Auch nicht auf der Autobahn. Oder bergab. Mit Rückenwind. Bolla ist ein Citroën 2CV, eine Blechdose auf vier Rädern, mit Gummimotor und einem Dach, das ich wie eine Sardinenbüchse aufrollen konnte.
Monique hatte einen Haufen Gepäck dabei. Ich meine: unglaublich viel Gepäck. Wie eine feine Dame, die nicht gerne zu Galadiners, Rockkonzerten, Karneval-oder Schlafanzugpartys eingeladen werden wollte, ohne eine gewisse Auswahl zur Verfügung zu haben. Bolla war nicht übermäßig geräumig, verfügte aber glücklicherweise über eine Rückbank. Dort hatte ich Moniques Feldvorräte an Koffern, Reisetaschen, Beuteln und Tüten verstaut. Zuunterst lag mein Koffer mit ein paar Kleidern zum Wechseln und einer Kulturtasche mit Zahnpasta, Zahnbürste, Deo und einer Packung Gummis, deren Verfallsdatum wahrscheinlich längst überschritten war.
An einer Tankstelle vor Antwerpen machten wir Rast und setzten uns mit einem Kaffee und einem Käsebaguette an einen Resopal-Tisch, umringt von lärmenden Familien mit kleinen Kindern und übergewichtigen Lastwagenfahrern. Wir zogen viele Blicke auf uns. Monique sah aus wie die hinreißende Gattin eines soignierten Botschafters, wobei ich bestenfalls als dessen Lakai durchging. Auf der Flucht mit der treulosen Frau seines Dienstherren.
Monique schlug den kleinen Notizblock auf, der ihre Stimmbänder ersetzte. »Waarom een auto?«, schrieb sie, lachte tonlos und strich den Satz durch, um noch einmal zu schreiben: »Warum ein Auto? Warum nicht mit dem Flugzeug?«
»Weil sie die Passagierlisten überwachen!«
Das klang vollständig paranoid, selbst in meinen Ohren. Monique hakte nicht nach, nickte nur verständnisvoll, als würde sie mitspielen oder wäre bereits Teil meines Wahns geworden, dann wischte sie einen Krümel weg, der an ihrer Oberlippe klebte.
2
Wir erreichten Paris am späten Nachmittag und bekamen die letzten Einzelzimmer in einem heruntergekommenen Hotel in Clichy. Ich parkte zwischen einem BMW und einem koksgrauen Mercedes. Bolla ist rosa mit schwarzen Punkten.
Nach einer Dusche und einer kurzen Ruhepause trafen wir uns an der Rezeption. Monique hatte sich geschminkt, Kinn und Stirn gepudert und Augen und Lippen betont, als hätte sie Angst zu vergessen, wie sie aussah. Ihre von einem silberschimmernden Kleid umschmeichelte Figur und das hochgesteckte Haar erinnerten mich an einen Filmstar, an deren Namen ich mich nicht erinnerte.
»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie schon einen Stab Kammerzofen vorweggeschickt haben«, sagte ich.
Sie streckte mir die Zungenspitze raus.
»Sie sehen blendend aus!« Ich umarmte sie. Sie duftete exklusiv. Ihr Lächeln und ihr Blick hatten etwas Verspieltes.
Wir spazierten in das nächste Restaurant und bekamen einen Tisch für zwei Personen an einem Fenster, das auf die Straße hinausging. Als der Kellner kam und sich erkundigte, ob wir uns entschieden hätten, bestellte Monique Cannelloni. Ich nahm Spaghetti alla chitarra mit gebackenem Gemüse. Ich bin Vegetarier. Als Kind habe ich einmal einen Jäger ein rohes Herz verspeisen sehen. Seitdem ziehe ich Gemüse vor. Der Kellner empfahl uns den Rotwein des Hauses. Er kam mit einer Flasche zurück und schenkte ein. Monique und ich stießen an. Ihr Haar schimmerte im Schein der Deckenlampe.
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«, fragte ich.
Sie neigte den Kopf zur Seite und nickte.
»Wie wird man stumm?«
»Een spin!«, schrieb sie und sah auf die Wörter, die sie auf Niederländisch geschrieben hatte. »Entschuldigung. Eine Spinne. Giftig. Die europäische schwarze Witwe. Eigentlich relativ harmlos. Aber ich war erst vier Jahre alt. Ein Biss. Allergische Reaktion. Koma. Bin stumm erwacht. Ohne Stimme.«
»O je!«
Ich rede ungern darüber, aber ich hatte schon immer Angst vor Spinnen. Ich weiß, wie lächerlich das ist. Für meine Höhenangst und meine klaustrophobischen Anfälle gibt es wenigstens eine logische Erklärung. Aber für meine Angst vor Spinnen? Mal ehrlich. Wenn ich etwas aus dem Keller holen muss und eine fette Spinne blinzelt mich träge aus der weichen Umarmung ihres Netzes an oder so ein haariges Biest flitzt über den Wohnzimmerboden und verschwindet unter dem Sofa, ist meine hart erkämpfte Selbstbeherrschung augenblicklich zum Teufel.
Sie schrieb: »An was denken Sie?«
»Spinnen.«
»Sie sind dran. Wie wird man Albino?«
»Ganz einfach. Man wird so geboren.«
Sie lachte lautlos. Dann schrieb sie: »Waarom? Woran liegt das?«
»Ein genetischer Defekt. Der Körper produziert kein Pigment. Jedenfalls nicht genug.«
Sie legte ihre bronzefarbene neben meine blasse Hand. Ich weiß nicht, wieso. Dann ging es mir auf. Zum Vergleich. Ihre Finger waren lang und schmal. Die Finger einer Musikerin, Pianistin oder Cellistin. An mehreren Fingern steckten exklusive Ringe. Die spitzen Nägel waren rot lackiert. Ich überlegte, wie es sich wohl anfühlte, von ihnen den Rücken zerkratzt zu bekommen.
»Habe ich von meiner Mutter geerbt«, schrieb sie auf ihren Block. Ich dachte, sie meinte die Nägel. Als sie meinen fragenden Blick sah, fügte sie hinzu: »Die Ringe!«
»Die sind wunderschön.«
»Und wieso starren Sie meine Nägel an?«
Diese kribbelige Andeutung eines Lächelns …
»Die Nägel sind auch wunderschön.« Bjørn, der Charmeur. Sie schien meine Gedanken zu lesen und für einen kurzen Augenblick das gleiche Bild wie ich vor Augen zu haben: spitze Nägel, die rote Streifen in meine kreideweiße Rückenhaut kratzen. Sie lächelte, und ich schaute errötend nach draußen auf den vorbeifahrenden Verkehr. Im Fenster sah ich, dass Monique mich betrachtete. Als ich den Blick ihres Spiegelbildes einfing, wandte sie sich ab.
Ich fühle mich häufig von Frauen angezogen, die so alt sind wie ich oder sogar älter. Fragen Sie mich nicht, wieso. Keine Frauen, die sich mit ihrem Alter und dem Verfall abgefunden haben, sondern solche, die sich noch an das Gefühl erinnern, ein junges Mädchen zu sein. Monique war so eine Frau, wenngleich ich fand, dass sie weitaus jünger aussah als ich. Dennoch: eine sinnliche Mischung aus etwas Reifem und Jungem, aus erfahrener Frau und unverdorbenem Mädchen. Das sieht man am Blick. An dem rebellischen und verspielten Aufblitzen der Augen.
»Sie sehen aus wie dreißig«, sagte ich.
Sie drückte meine Hand.
»Das ist mein Ernst!«
»Flirten Sie etwa mit mir?«, schrieb sie. Und dann malte sie, kokett, ein kleines Herz.
Verlegen hob ich das Glas. Wir stießen an. Mich streifte der Gedanke, dass sie mit einem kranken Mann verheiratet war, aber ich schob ihn schnell wieder beiseite.
Ich erzählte ihr das Wenige, was ich über den Mann wusste, mit dem wir am nächsten Tag verabredet waren – Marie-Élise Monniers Vater –, und wie es mir gelungen war, ihn aufzuspüren. Der Mord an Marie-Élise ging Monique sehr nah, also lenkte ich das Gespräch auf die Theorien, die sich um Luzifers Evangelium rankten. Wie sich zeigte, wusste Monique eine ganze Menge darüber – nicht nur über den akkadischen Ursprung der Schrift und die Parallelen zu anderen mesopotamischen Werken, sondern auch über die wahrscheinliche Datierung und die verschlungene Reise der Handschrift durch die Geschichte.
»Beeindruckend«, platzte ich heraus.
»Dirk sei Dank«, schrieb sie. »Er ist der Experte!«
»Er muss extrem belesen sein?«
»Gebildet. Klug.«
Aber ein uralter Ehemann und ein verwelkter Liebhaber, dachte ich.
»Was fehlt ihm?«
»Lungenkrebs.«
Nicht nur alt, auch noch todkrank …
Sie blätterte ihren Notizblock um. »Genug von mir! Erzählen Sie! Von sich!«
Ich erzählte von meiner Kindheit in dem Märchenschloss in Grefsen in Oslo, über meine Jugend als Albino in einer Nachbarschaft schöner und angepasster Menschen, die mir, sicher unbeabsichtigt, ständig das Gefühl gaben, nicht dazuzugehören. Ich war die Missgeburt der Nachbarschaft, über die die Kinder herfallen konnten, sobald die Erwachsenen wegschauten. Das seltsame Wesen, das, wie die Nachbarfrauen ihren Gästen sanftmütig lächelnd versichern konnten, voll zurechnungsfähig und nicht im Mindesten zurückgeblieben war. Ich erzählte ihr von meinem Vater, der von einer Felswand in den Tod gestürzt war, und von meiner Mutter, die danach den besten Freund meines Vaters geheiratet hatte. Monique erfuhr alles. Selbst die Aufenthalte in der Nervenklinik vertraute ich ihr an. Ich berichtete ihr von den Ereignissen um den Fund des alten Goldschreins Shrine of Sacred Secrets und von dem Spektakel um den Wikingerkönig Olav den Heiligen und die Mumie des ägyptischen Kronprinzen Djehutymos, dem die Nachwelt den Namen Moses gab. Ich stolperte immer wieder über die wunderlichsten Dinge. Während ich fast fünfzehn Minuten ununterbrochen redete, stützte Monique die Ellenbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die verschränkten Finger. Ich genoss ihr unverhohlenes Interesse und die bewundernde Aufmerksamkeit. Leider kam irgendwann der Kellner mit unseren Tellern und unterbrach die Vorstellung. Nach dem Essen blieben wir noch sitzen und unterhielten uns, zufrieden und satt, bis die Weinflasche leer war. Dann schlenderten wir zurück zum Hotel. Zwar nicht Hand in Hand, aber immerhin Schulter an Schulter. Der Wein hatte mich in Hochstimmung versetzt und ein klein wenig scharf auf Monique gemacht. Ich hätte schrecklich gern meinen Arm um ihre Schulter gelegt und war fast sicher, dass sie mich nicht zurückgewiesen hätte. Aber ich tat es nicht. Bjørn, der schüchterne Feigling. Ihr todkranker Mann lief die ganze Zeit als unsichtbarer Anstandswauwau neben uns her. Ich hätte ihn mit dem Kopfkissen ersticken sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte! Ich stellte mir vor, wie sich ihre Hand anfühlte, wenn sie über mein Rückgrat strich und über der Hüfte liegen blieb. Ihre warme Hand mit den spitzen roten Nägeln … Wir gingen langsam, als wollten wir diesen Augenblick beide so lange wie möglich auskosten. Aber vielleicht lag es auch an ihren hochhackigen Schuhen. In der schwülen, blauen Dunkelheit zogen Autos und Spaziergänger wie Schatten aus einer anderen Dimension an uns vorbei, während in meiner Welt nur Monique und ich existierten. Und meine Sehnsucht, sie an mich zu pressen und mir von ihr Hieroglyphen der Wollust in den Rücken ritzen zu lassen. Als wir vor unseren Zimmern stehen blieben, hoffte ich, sie würde mit zu mir kommen; ohne Worte, wie die selbstverständlichste Sache der Welt. Aber natürlich kam sie nicht mit. »Goede nacht!«, schrieb sie auf Niederländisch und gab mir einen hastigen Kuss auf die Wange. Und einen kurzen, kaum messbaren Augenblick verhakten sich unsere Blicke in einer stillen Klimax unerfüllter Sinnlichkeit, ehe wir uns der Einsamkeit unserer kalten Betten hingaben.