VI : Orion

»Sie halten doch etwas zurück, CC. Was wollen Sie mir nicht sagen?«

Mitternacht. Wir saßen auf der schmalen Terrasse vor dem Wohnzimmer. Unten auf der Straße war es still. Ab und zu fuhr ein Auto oder ein Motorroller vorbei. CC hatte eine Flasche Piemont-Wein und zwei Gläser geholt. Ich hatte ihm von meiner Kindheit erzählt und von meinen Abenteuern überall in der Welt.

»Erlauben Sie mir, Ihre Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten: Warum vertrauen Sie mir nicht?«

Wir lächelten. Über einander. Über uns. Jeder für sich.

»Sie geben die Wahrheit nur in winzigen, erzwungenen Portiönchen preis«, sagte ich. »Tun alles, was in Ihrer Macht steht, um sich nicht in die Karten blicken zu lassen. Sie geben vor, mich einzubeziehen, speisen mich aber nur mir Unwesentlichem ab. Was verbergen Sie vor mir? Was für ein Geheimnis wollen Sie nicht mit mir teilen?«

»Ein Geheimnis ist kein Geheimnis mehr, wenn man es verrät.«

»Vielleicht würden Sie ja feststellen, dass ich kooperationswilliger bin, wenn Sie mich wirklich mit einbeziehen. Ich bin Archäologe, CC. Es ist mein Job, neugierig zu sein. Ich will immer alles wissen. Sie müssen offen zu mir sein.«

»Ich höre, was Sie sagen.«

»Sie wissen alles über mich, aber ich weiß nichts über Sie. Sie haben einen Doktorgrad in Astrophysik von der Universität Stanford. Und Sie sind der administrierende Direktor des Luzifer-Projekts. Viel mehr weiß ich nicht über Sie.«

»In vielerlei Hinsicht bin ich wie Sie, Bjørn. Ich bin jemand, der Dinge bewegt.«

Der Weißwein schimmerte silbern. Ein Käfer schwirrte um die Terrassenlampe über uns, bevor er gegen das Glas stieß und mit einem trockenen Knacken zu Boden stürzte.

»Sind Sie verheiratet?«, fragte ich.

Die Frage überraschte ihn. Genau das hatte ich beabsichtigt. Eine Weile starrte er stumm vor sich hin, ehe er antwortete: »Ich war es mal. Ich habe meine Jugendliebe geheiratet, Sue, wir waren damals beide neunzehn Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon fünf Jahre zusammen. Rührend, oder? Sie blieb in Kansas, als ich nach Kalifornien gegangen bin, um zu studieren. Es kam, wie es kommen musste. Als ich schließlich meinen Doktor hatte, waren wir geschieden. Sue hat wieder geheiratet und zwei Kinder mit einem Kerl bekommen, der noch heute ein Eisenwarengeschäft in Fort Scott betreibt. Er ist Vorsitzender der Kirchengemeinde, Freimaurer und Präsident der städtischen Handelskammer. Charlie. Charlie Mancroft. Ein kerniger Mann.« Er hob das Glas und sah mich durch den Wein hindurch an. Sein Auge wirkte vergrößert und verzerrt. »Das Verrückte ist, Bjørn – und das ist geradezu pathetisch banal –, dass ich nie über diese Frau hinweggekommen bin. Ist das nicht erbärmlich? Sie ist mittlerweile Großmutter. Ich habe sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Natürlich gab es andere Frauen. Aber … ach, Sie wissen schon, wie das ist.«

Ich wusste nur zu gut, wie das war.

»Dann sind Sie aus Kansas?«

»Mein Bruder bewirtschaftet noch heute den Hof, den mein Ururgroßvater 1856 gegründet hat.« Er senkte die Lider. »Kansas … Ein typischeres Bauernland gibt es in den USA nicht. Abends ging ich immer gerne raus ins Dunkle. Vermutlich wurde damals mein Interesse für die Astronomie geweckt. Ich konnte stundenlang draußen im Weizenfeld sitzen und in den klaren Himmel starren. Was für ein Anblick das war! Für die meisten ist der Blick in den Himmel durch viel zu viel Streulicht unmöglich geworden. Die Lichter der Stadt, der Höfe, der Autos – die Welt ist verunreinigt mit Licht. Aber in den Fünfzigern in Kansas – ich sage Ihnen, da gab es noch Dunkelheit, Mann! Manchmal hatte ich das Gefühl, die Sterne wären zum Greifen nah.«

»Sind Sie oft zu Hause in Kansas?«

»Ich war seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr dort. Seit Vaters Tod.« Er sah zu mir herüber. »Warum wollen Sie das alles wissen?«

»Um Sie besser kennenzulernen.«

»Warum glauben Sie nur die ganze Zeit, dass ich Sie täuschen will?«

»Weil das Ihr Job ist.«

»Warum sollte ich Ihnen vertrauen, Bjørn?«

»Ich habe nicht darum gebeten, mir zu vertrauen.«

Stille.

»Sie sagen mir nichts«, bedrängte ich ihn weiter.

»Nicht? Ich finde, dass ich Ihnen ziemlich viel erzähle.«

»Ich will mehr wissen!«

»Lassen Sie mich Ihnen so viel sagen: Wir verfolgen drei Hauptspuren, um Luzifers Evangelium zu verstehen. Und Sie wissen inzwischen bereits mehr als die meisten Mitarbeiter des Projekts …«

»Was für Spuren? Ich weiß nur von einer – der Theorie von Satans Sohn.«

»Diese Theorie hängt mit einer der Spuren zusammen, ja.«

»Wie?«

»Dazu kommen wir noch.«

»Da haben wir es wieder. Sie behaupten, mir viel zu erzählen. In Wahrheit sagen Sie mir gar nichts.«

Ein paar Minuten lang saßen wir schweigend da.

»Wo wohnen Sie?«, fragte ich.

»Wo ich wohne? Tja, eine gute Frage. Mein Haus – um es mal so zu sagen – liegt außerhalb von Washington D.C. Aber ich bin viel auf Reisen. Rom. London. Houston. Stanford. Mein Haus ist vielleicht der Ort, an dem ich mich ein klein bisschen mehr aufhalte als an allen anderen Orten.«

»Wo wir wohnen, sagt eine ganze Menge über uns Menschen aus. Ich selbst wohne in einem Hochhaus in Oslo. Das ist mein Zuhause. Eine Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus.«

»Und jetzt sind wir hier. In der Ewigen Stadt.«

Wir hoben unsere Gläser und starrten in die Nacht. Ganz hinten auf der Zunge und oben unter dem Gaumen entfalteten sich die Aromen des Piemont.

CC deutete zum Himmel. »Sehen Sie die Sternenkonstellation über den Häusern dort? Orion. Der Name stammt vermutlich aus dem Akkadischen: Uru-anna, himmlisches Licht. Das Sternbild entstand vor gut siebenhundertfünfzigtausend Jahren und wird noch ebenso lange sichtbar bleiben, ehe es verlöscht. Nicht weil die Sterne verschwinden, sondern weil sich ihre Position zur Erde ändert. Das Sternbild des Orion ist das stabilste Sternbild der Weltgeschichte, und die Menschheit ist erst zweihunderttausend Jahre alt. Orion war für uns schon immer da. Dabei ist das Sternbild des Orion genau wie alle anderen Sternbilder eine bloße Illusion. Eine mentale Vorstellung, die auf der unterschiedlichen Lichtstärke und Position der verschiedenen Sterne in Bezug zu einem zufälligen Punkt im Weltraum beruht: der Erde. Warum sage ich Ihnen das? Nicht weil ich Astronom bin, sondern weil der Orion eine fantastische Eigenschaft hat. Dieses Sternbild zeigt uns, dass nichts so ist, wie man denkt. Die Sternbilder. Die Menschen, die Ihnen auf Ihrem Lebensweg begegnen. Nichts ist so, wie man denkt. Auch ich nicht. Sie sehen nur einen Teil von mir. Wie Sie mir nur einen Teil von sich zeigen. Es ist wichtig, Bjørn, dass wir hin und wieder den Mut haben, jemandem zu vertrauen. Dass wir nicht alles voneinander wissen und manches für uns behalten, bedeutet nicht notwendigerweise, dass wir etwas zu verbergen haben.«

Um nicht desinteressiert zu wirken, blieb ich sitzen und betrachtete den Orion. Oder ich tat zumindest so. Meine Augen sind nicht die besten. Der Sternenhimmel stellt sich mir in etwa so dar wie Nebel.

Was wissen Sie, Carl Collins? Und welche Erkenntnisse wollen Sie nicht mit mir teilen?

CC leerte sein Weinglas. »Gute Nacht, Bjørn. Denken Sie über unser Gespräch nach. Okay? Nicht nur meinetwegen. Auch Ihretwegen. Es ist wichtig, Menschen zu vertrauen.«

Das Luzifer Evangelium
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