IX : Armageddon
WINDSOR
15. JUNI 2009
1
Eine Sternschnuppe schoss über den Himmel. Ferne Galaxien und Sterne schimmerten im Dunkel des Universums. Schwach funkelnd zerfloss die Milchstraße zu einem diffusen Band aus Nebel.
»Schön, nicht wahr?«, fragte CC hingerissen. »Wie wäre es mit einem Satelliten?« Den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände auf die Hüften gestützt, folgte er der Bahn eines Kometen durch den Weltraum. Ich selbst lag zurückgelehnt auf einem weichen Liegestuhl und wohnte dem Angriff eines schwarzen Lochs auf das nächstgelegene Sonnensystem bei.
»Gerne, wenn es nicht zu viel Aufwand ist.«
»Geoff? Einen Satelliten, bitte!«
Zehn Sekunden später schwebte ein Kommunikationssatellit in unser Blickfeld und trieb langsam und grazil an uns vorbei, während das Sonnenlicht auf seiner spiegelblanken Oberfläche reflektiert wurde.
»Wie Sie verstehen werden, Bjørn, können wir …«
CC verstummte plötzlich. Im Hintergrund, in der Tiefe des Weltraums, wurde ein Quasar sichtbar.
»Geoff? Was hat das zu bedeuten? Geoff!«
Der Quasar näherte sich mit majestätischer Würde. Ich zog den Hals ein. Als er bei unserem Sonnensystem angelangt war, geschah, was geschehen musste: Der Quasar explodierte in einem blendenden und vollkommen lautlosen Lichtblitz, der das Sonnensystem und den umliegenden Bereich des Universums im Laufe einer Zehntelsekunde auslöschte.
»Ooops«, murmelte eine Stimme. »Tut mir leid«, sagte Geoff.
»Ein Quasar?«, platzte Dr. Ian Maxwell hervor. Er hatte während der ganzen Zeit im Dunkeln hinter CC an der Wand gelehnt, trat jetzt aber vor wie ein Gott, der aufgefordert war, das kosmische Chaos zu beseitigen. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu uns, »einen Augenblick. Geoff? Geoff! Verdammt, wo kam dieser Quasar her?«
Dr. Maxwell war wissenschaftlicher Direktor des Windsor Astronomical Institute. Rote Haare, Sommersprossen, eine runde Brille und ein Pflaster auf der Stirn. Auf dem Flug von Rom hierher hatte CC mir erzählt, welches Ansehen Dr. Maxwell in Astronomenkreisen genoss.
Im gleichen Moment ging das Licht an. »Sorry, sorry, sorry«, kam es wie ein Mühlrad voller Entschuldigungen. Ein Kopf – Geoff – tauchte hinter der Hightechkonsole des Planetariums auf, die in der Mitte des Raumes in einer Vertiefung platziert war. »Sorry! Ich habe bis spät in der Nacht mit dieser Quasar-Explosion gearbeitet. Irgendwie muss ich den ganzen Film kopiert und versehentlich in die Mappe für unser Sonnensystem gelegt haben. Wirklich dumm!«
»Geoff«, sagte Dr. Maxwell mit erzwungener Geduld, »Sie wissen ebenso gut wie ich, dass ein Quasar in unserem Teil des Universums …«
»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach Geoff ihn. »Es tut mir leid, ich werde das File sofort löschen.«
CC blinzelte mir gutmütig zu. »Unser Planetarium kann Bilder und Animationen wiedergeben, die normale Planetarien wie die Heimkinos der Achtziger wirken lassen.« Er setzte sich neben mich auf den äußersten Rand des Stuhls. »Wie Sie wissen, kann Luzifers Evangelium auf sehr unterschiedliche Weise gelesen werden. Dr. Maxwell ist zuständig für eine der Hypothesen. Ian? Übernehmen Sie?«
Der jugendliche Rotschopf trat zu uns.
»Unser Ansatz bei der Erforschung des Textes basiert auf einer Theorie, die sich bis weit in den Weltraum erstreckt. Wir reden noch immer vom Tag des Jüngsten Gerichts, dem Tag der Entscheidung. Es gibt ein paar Formulierungen in Luzifers Evangelium, die auf eine Kollision der Erde mit einem Asteroiden hindeuten könnten.«
2
Ein paar Sekunden herrschte Stille.
»Bjørn?«, fragte CC.
Im Gegensatz zu anderen Menschen können Albinos nicht blass werden. Ich weiß nicht, wohin all mein Blut in diesem Moment verschwunden war, im Hirn war es jedenfalls nicht mehr. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich drehte die Handflächen nach oben, um zu signalisieren, dass mein Herz noch immer schlug und ich bloß ein bisschen Zeit brauchte.
»Wieso«, fragte ich schließlich, »kommen Sie auf etwas so Konkretes wie einen Asteroiden?«
»Das hängt wieder mit Zweideutigkeiten zusammen und ihrer Deutung, weil der Verfasser in einer Sprache geschrieben hat, die er nicht wirklich beherrschte«, sagte CC.
An der Kuppeldecke tauchte folgender Text auf:
WENN
IN 1 647 000 TAGEN DIE ERDE
WIEDERAUFERSTEHT,
NACH HÂRGA-MË-GÏDDÔ-DÔM,
WENN DAS HIMMELSOBJEKT AUF DIE ERDE TRIFFT,
WIRD EINE NEUE ZEIT ANBRECHEN, IN DER NICHTS AUF DER ERDE SO SEIN WIRD, WIE ES WAR
»Aus Luzifers Evangelium Teil eins«, sagte CC. »Dieser Teil wurde 1970 in einer Höhle in Ägypten gefunden und von Professor Giovanni Nobile nach Italien gebracht. Hârga-më-gïddô-dôm ist uns früher ja schon mal untergekommen. Der Tag des Jüngsten Gerichts. Das akkadische Wort für auferstehen könnte man ebenso gut mit aufblühen oder erwachen übersetzen.«
»Und der Rest?«
»Das Wort Himmelsobjekt ist ziemlich diffus, das akkadische Original spricht bloß von etwas, das es im Himmel gibt oder etwas, das aus dem Himmel kommt. Man kann das als Komet oder Asteroid deuten oder natürlich als Gottheit. Nuancen und Definitionen gehen in Übersetzungen leicht verloren. Diese Formulierungen sind aus der bilderreichen, metaphorischen akkadischen Sprache in eine moderne, geschraubte Sprache übersetzt worden. Was können wir also daraus ableiten? Ist das große Ding im Himmel ein Asteroid oder ein Gott?«
Ich sagte nichts. Keinen Ton. Als uns die Stille zu erdrücken drohte, ergriff CC das Wort:
»Die astronomische Spur hängt mit der Jüngstes-Gericht-Theorie zusammen. Kein Armageddon ausgelöst von den Menschen, sondern eine Naturkatastrophe von apokalyptischen Ausmaßen.«
»Ein Asteroid«, wiederholte Dr. Maxwell. »Wenn die Erde von einem ausreichend großen Himmelskörper getroffen wird, sind die Konsequenzen katastrophal. Das kann das Ende der Zivilisation bedeuten.«
»Warum sollten wir heute – im Jahr 2009 – Rücksicht auf jahrtausendealte astronomische Prophezeiungen nehmen?«, fragte ich.
»Unsere Vorväter waren ausgezeichnete Astronomen«, sagte Dr. Maxwell. »Die Astronomie zählt zu den ersten Wissenschaften der Menschheit und führte weiter zu Philosophie, Mathematik, Physik und Chemie. Ja, und auch zu den Religionen, aber das ist eine andere Sache.«
»Die Frage ist gut«, sagte CC. »Warum Zeit, Kraft und Geld für eine Hypothese aus einem Manuskript aufwenden, das aus einer Zeit stammt, in der es noch nicht einmal Ferngläser gab? Dr. Maxwell?«
»Die Kurzversion lautet: Die Astronomen der Frühzeit könnten die Bahn eines Kometen oder Asteroiden notiert und dabei so exakte Orts-und Zeitangaben gemacht haben, dass wir diese Daten nutzen könnten, um die Bahn des Himmelskörpers zu berechnen. Also auch den Zeitpunkt, wann er auf die Erde treffen wird. Diese Bahnen könnten aus Luzifers Evangelium Teil drei hervorgehen.« Dr. Maxwell drückte auf den Knopf einer Fernbedienung, die aussah, als könne man damit einen Jumbojet fernsteuern. Das Licht wurde gedimmt, und wieder kam oben unter der Kuppel das Universum zum Vorschein. »Es gibt die verschiedensten Meteoriten, Asteroiden und Kometen. Die Meteoriten sind die kleinsten. Die meisten von ihnen sind kaum größer als ein Sandkorn oder kleiner Stein, die größten haben einen Durchmesser von bis zu zehn Metern.«
Unter der Decke des Planetariums leuchtete ein Meteoritenschauer auf, der Feuer fing, verglühte und zu Staub wurde.
»Asteroiden sind Felsblöcke, die von der Schwerkraft unseres Sonnensystems eingefangen worden sind«, fuhr Dr. Maxwell fort. »Bei den größten handelt es sich um mehrere hundert Kilometer breite Steinmassen.«
Ein Asteroid kam angeschwebt; eine unebene, gigantische Felsmasse, die durch den Weltraum trieb.
»Einige Asteroiden kreuzen die Bahn der Erde um die Sonne«, sagte CC. »Und einige wenige von ihnen kommen der Erde dabei so nah, dass sie ein Risiko darstellen.«
»Die Kometen«, sagte Dr. Maxwell, »sind noch spektakulärer.« Mit der Fernbedienung rief er einen Kometen mit einem Schweif aus Staub und Gas herbei. »Kometen und Asteroide sind sehr unterschiedlich, von der Erde aus betrachtet ist der offensichtlichste Unterschied der Schweif des Kometen.«
Das Bild des Universums flimmerte und wurde von einem anderen ersetzt, das fast so aussah wie das erste.
»So«, sagte Dr. Maxwell, »sah der Weltraum vor zweitausendzweihundertfünfzig Jahren über China aus. Sehen Sie den Kometen oben rechts? Der Halleysche Komet, wie er von chinesischen Astronomen beobachtet wurde. Zuletzt hat er uns im Jahr 1986 passiert. Das nächste Mal kommt er 2061.«
Das Bild unter der Kuppel änderte sich, wie beim Umschalten eines Fernsehers, und ein neuer Komet kam zum Vorschein.
»Während der Halleysche Komet gut vorhersagbar ist, tauchen andere Kometen völlig überraschend auf. Hale-Bopp wurde 1995 entdeckt. Er wird im Jahr 4377 erneut auftauchen. Der Hyakutake-Komet passierte uns im Jahr 1996. Er wird in etwa hunderttausend Jahren wieder bei uns erwartet.«
»Wie groß ist das Risiko, dass die Erde getroffen wird?«, fragte ich.
Mit der Fernbedienung klickte Dr. Maxwell sich zu einer Animation der Planetenbahnen im Sonnensystem, auf der auch die kreuzenden Bahnen der Asteroiden und Kometen eingezeichnet waren. »Wir kennen etwa fünftausendfünfhundert erdnahe Asteroiden und ungefähr viertausend Kometen, die um die Sonne kreisen.«
»Ungefährliche Meteoriten treffen uns ständig«, sagte CC. »Etwa alle tausend Jahre wird die Erde von größeren Objekten getroffen wie dem, das 1908 in Tunguska in Russland einschlug. Erst in diesem März passierte uns ein solcher Asteroid in nur sechzigtausend Kilometern Entfernung.«
»Und in der Zukunft?«
»Der größte Risikoasteroid, den wir kennen, trägt den Namen 2007 VK184. Er passiert oder trifft die Erde 2048. Das Problem sind aber nicht die Asteroiden oder Kometen, die wir kennen. Das Problem sind all jene, die wir nicht kennen. Und vor diesen könnte uns Luzifers Evangelium vielleicht warnen.«
»Und zu welchem Zweck? Kann man eine solche Kollision denn irgendwie verhindern?«
»Natürlich«, sagte Dr. Maxwell. »Aber dazu brauchen wir Zeit. Zeit, die entsprechenden Maßnahmen zu planen und zu berechnen. Alles hängt von der Größe des Asteroiden ab. Wir können ihn mit atomaren Waffen sprengen, wir können ihn anschieben, damit er seine Bahn ändert. Aber allein die Vorbereitungen für eine solche Rettungsaktion würden Jahre in Anspruch nehmen. Deshalb müssen wir wissen, wann wir mit einem Besuch rechnen müssen.«
»Und deshalb«, sagte CC, »brauchen wir die komplette Version des Luzifer-Evangeliums.«
3
Ich starrte nach oben in den Weltraum, der sich unter der Kuppel über mir wölbte. Einer Eingebung folgend – einer Neugier, die mich seit Kindertagen begleitet hatte –, fragte ich: »Glauben Sie, dass es da oben Leben gibt?«
»Leben?«, fragten CC und Dr. Maxwell beinahe gleichzeitig.
»Ja. Intelligentes Leben?«
»Na klar!«, sagte Dr. Maxwell.
»Sicher«, erwiderte auch CC.
»Die Astronomen auf der ganzen Welt suchen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nach intelligentem Leben«, sagte Dr. Maxwell. »Schon 1960 starteten Astronomen an der Cornell-Universität mithilfe von Radioteleskopen die Suche nach Signalen in der Umgebung der Sterne Tau Ceti und Epsilon Eridani. Eine lange Reihe von SETI-Projekten – Search for Extraterrestrial Intelligence – wurde in den folgenden Jahren gestartet.«
»Es ist viel wahrscheinlicher, dass es da draußen intelligentes Leben gibt, als dass es keines gibt«, sagte CC. »Allein in einem kleinen Bereich der Milchstraße haben Astronomen an die vierhundert Exoplaneten ausgemacht, also Planeten, die um eine Sonne kreisen. Im März dieses Jahres schoss die NASA die Weltraumsonde Kepler mit einem Teleskop und einem Lichtphotometer ins All, um die Suche nach weiteren solchen Planeten zu erleichtern. Im Universum gibt es Billionen von Exoplaneten.«
Dr. Maxwell übernahm: »Die Drake-Gleichung wurde in den Sechzigerjahren von dem Astronom Frank Drake entwickelt, um die Wahrscheinlichkeit für Leben in unserer eigenen Galaxie zu bestimmen. Ja, nicht bloß Leben, sondern intelligentes Leben. Die Zahlen sind überwältigend … Geoff!«, rief er. »Kannst du mal die Drake-Gleichung laden?«
Der Sternenhimmel unter der Decke wurde durch eine Formel ersetzt:
N = N* x fp x ne x fl x fi x fc x L
»Ich werde nicht auf die Details eingehen …«
»Das ist mir ganz recht.«
»… sondern mich damit begnügen, Ihnen zu erklären, dass N für die Chance steht, dass sich in einem Sternensystem intelligentes Leben entwickelt. N ist somit die Funktion verschiedener astronomischer Parameter wie die Anzahl Sterne innerhalb eines Planetensystems, die Anzahl Planeten, die potentiell primitives oder intelligentes Leben ermöglichen würden und so weiter.«
»Und die Schlussfolgerung?«
»Die Schlussfolgerung ist unumstritten: Es wäre absurd anzunehmen, dass die Erde der einzige Planet der Milchstraße ist, auf dem es intelligentes Leben gibt.«