ROM, MAI 1970

Licht.

Starkes, helles Licht.

Und Luft.

Ich schluchze auf, huste, schnappe nach Luft.

Luft …

Lege meinen Unterarm über die Augen. Jammere, huste.

Sie legen den Deckel des Sargs auf den Boden. Das Licht sticht in meinen Augen. Sie heben mich aus dem Sarg. Doch etwas von mir bleibt darin zurück. Im Sarg. Sie waschen mich. Sie ziehen mich an. Der Mann mit der freundlichen Stimme gibt mir einen trockenen Keks und ein Glas Saft.

*

Silvana saß auf einem Stuhl in dem großen, leeren Refektorium des Klosters, der Ranzen lag neben ihr auf dem Boden. Ihre Bluse hing an ihrem mageren Körper, ihr Gesicht war bleich.

Giovanni brach in Tränen aus. »Silvana!«

Als sie seine Stimme hörte, blickte sie auf. Ein vorsichtiges Lächeln. Aber sie stand nicht auf. Sie warf sich nicht in seine Arme. Sie blieb, etwas schräg, auf dem Stuhl sitzen.

Was haben sie mit ihr gemacht?

»Silvana, mein kleines Mädchen!«

*

Papa …

Sehe ihn im Gegenlicht.

Papa?

Papa ist gekommen, um mich zu holen. Oder es ist jemand, der wie Papa aussieht. Jemand, der Papas Körper angezogen hat und der mich mit Papas Augen ansieht.

Lo-Lo ist weg. Er verschwindet ständig.

Silvana!, sagt Papa.

*

Er lief zu ihr und hob sie hoch. Sie legte ihre Arme schlaff um seinen Hals. »Silvana, Silvana, Silvana«, schluchzte er in ihr strähniges Haar.

*

Er hebt mich aus dem Stuhl. Seine Stimme kommt von weither: Silvana, Silvana, Silvana …

Ich versuche zu lächeln. Ist das wirklich mein Papa? Wo ist Mama? Wo ist Bella?

Er riecht wie Papa.

*

»Wie geht es dir, mein kleiner Liebling?«

Sie schluchzte.

»Papa ist gekommen, um dich zu holen. Mama wartet zu Hause. Sie hat sich solche Sorgen gemacht. Jetzt wird alles gut.«

Sie klammerte sich an ihn.

Er hörte ihren Atem, kurze, stockende Luftstöße.

»Es ist vorbei, meine Süße.«

Er setzte sie wieder auf den Stuhl und hielt ihr Gesicht in seinen Händen. Mein Gott, was haben sie nur mit ihr gemacht? Ihr Blick war abwesend und apathisch. Er streichelte ihr über die klamme Stirn. Wütend drehte er sich zu der Gruppe Männer um, die hinter ihm stand.

»Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Der Großmeister trat einen Schritt vor. »Sie hat nicht übermäßig leiden müssen, Professor Nobile.«

»Sehen Sie sie an!«

»Sie braucht nur ein paar Tage frische Luft.«

»Frische Luft?«

»Es ist ihr nichts zugestoßen.«

»In Gottes Namen, hätten Sie sie nicht in einem Zimmer einsperren können? In einer Wohnung? Warum … das hier?«

Der Großmeister breitete langsam die Arme aus. »Weil es so geschrieben steht.«

»Geschrieben? Wo?«

»In der Heiligen Schrift.«

»In der Bibel steht nichts, kein Wort, über eine solche Ungeheuerlichkeit! Kein Wort!«

»Professor Nobile, es gibt mehr heilige Schriften als nur die Bibel. Das sollten Sie als Theologe eigentlich wissen.«

»Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind doch verrückt! Verrückt! Mein Gott, verstehen Sie denn nicht …«

Silvana zupfte am Ärmel seiner Jacke.

»Die Menschen müssen sich ihren Göttern unterordnen und sie anbeten«, sagte der Großmeister.

»Götter! Ach was? Götter? Wer sind denn eigentlich Ihre Götter?«

*

Papa …

Er ist wütend. Auf die Männer.

Papa, sei nicht wütend.

*

Als sie zurück nach Rom fuhren, begann es endlich zu regnen.

Silvana saß auf seinem Schoß. Der Großmeister und die beiden Muskelmänner waren mit im Auto. Ein anderer Mercedes mit zwei weiteren Männern folgte ihnen. Der Wolkenbruch fegte seinen wehenden Schleier über die Landschaft. Regentropfen trommelten aufs Dach und auf den Asphalt. Das einschläfernde Hin und Her der Scheibenwischer erinnerte ihn an das Metronom zu Hause bei der Klavierlehrerin, zu der er bis zu seinem zwölften Lebensjahr gegangen war.

Der Nachmittagsverkehr in Richtung Rom wurde lichter, dafür kamen ihnen immer mehr Fahrzeuge entgegen. Giovanni fragte sich, wie viele Jahre er würde absitzen müssen. Dass Silvana gekidnappt worden war, verschaffte ihm sicher mildernde Umstände. Trotzdem gab ihm das nicht das Recht, einen unschuldigen Ägypter zu erschießen. Auch wenn es im Grunde genommen ein Unfall gewesen war. Er hatte nicht vorgehabt zu schießen. Aber natürlich hätte er die Waffe gar nicht erst mitnehmen dürfen. Auf jeden Fall nicht geladen. Mord im Affekt, wenn es gut lief. Geplanter, vorsätzlicher Mord, wenn sie ihm misstrauten, im schlimmsten Fall. Schließlich hatte er den alten Revolver herausgesucht, ihn geladen, war damit zur Universität gefahren und hatte dem Dekan und den Ägyptern aufgelauert. Eine wirkliche Affekttat war es damit nicht – nicht im juristischen Sinne –, auch wenn er nicht hatte schießen wollen. Aber das mussten sie ihm doch glauben? Wie viele Jahre hatte er zu erwarten? Zehn? Oder mehr? Er hatte sich nie sonderlich für Strafrecht interessiert. Verbrecher, hatte er bisher gedacht, verdienten ihre Strafe. Und jetzt war er einer von ihnen.

Silvana und Luciana würden schon zurechtkommen. Sein armes, kleines Mädchen hatte jetzt einen Mörder als Vater. Ob sie das traumatische Erlebnis im Sarg überwinden würde? Er hoffte von ganzem Herzen, dass die Geschehnisse sie nicht seelisch zerstört hatten. Was richtet es im Gemüt eines Kindes an, in einem Sarg eingesperrt zu sein? Er wusste es nicht. Wie so vieles. Sie würden professionelle Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Das war klar. Dennoch blieb die Frage, ob Silvana bleibende Schäden davongetragen hatte. Das würden sie erst im Laufe der Zeit erkennen. Arme kleine Silvana …

Und wie würde Luciana reagieren? Seine schöne Luciana. Sie, die es nicht einmal ertragen konnte, wenn er einen Fisch ausnahm. Dann überkam ihn die schmerzhafte Erkenntnis, dass Luciana wahrscheinlich mit Silvana fortziehen würde. Zu Enrico? Vielleicht. Nein, so weit würde sie nicht gehen. Trotz alledem. In einer Sache aber war er sich sicher: Luciana würde nicht auf ihn warten, während er im Gefängnis seine Strafe absaß. So innig war ihre Liebe nicht. Sie war eine Frau, die verwöhnt werden wollte, geliebt, angebetet. Zehn Jahre ohne die Hingabe eines Mannes … Niemals.

Natürlich würde ihm gekündigt werden. Dekan Salvatore Rossi hatte den Mord schließlich mit eigenen Augen gesehen. Vermutlich würde er der Hauptzeuge der Anklage sein. Ausgerechnet der Pedant Rossi … Theoretisch könnte er seine Forschung im Gefängnis fortsetzen. Ob er nun in einer engen Zelle oder in einem engen Büro hockte, machte eigentlich keinen Unterschied. Aber selbstverständlich war das unmöglich. Die Universität würde sich niemals bereit erklären, einen verurteilten Mörder als Professor für Theologie wirken zu lassen. Nicht einmal als Dämonologen. Alles war verloren. Das wurde ihm schlagartig klar. Luciana. Die Arbeit. Seine Studien. Das Leben. Alles.

Als sie sich der Ringstraße näherten, fragte der Großmeister, wohin sie fahren sollten.

»Fahren Sie zu mir nach Hause«, antwortete Giovanni.

»Das hätten Sie wohl gerne! Direkt in die Arme der Polizei?«

»Sie können ein paar Straßen vorher parken. Ich zeige Ihnen den Weg.«

*

Sie parkten vier, fünf Straßen vor dem Mietshaus, in dem er wohnte. Silvana an der Hand, führte Giovanni sie über eine Parallelstraße und durch ein paar enge Gassen, in denen Fahrräder, Motorroller und übervolle Mülleimer standen, aus denen es nach faulen Früchten stank.

»Gleich gehen wir nach Hause, Silvana«, sagte er. »Nach Hause zu Mama und Bella!«

Silvana reagierte nicht. Unweit des Eingangs von Giovannis Tabakladen kamen sie auf die Hauptstraße. Wie gewöhnlich waren keine Kunden im Geschäft. Der Tabakhändler freute sich, als er Giovanni und Silvana erblickte.

»Mein Engel!«, rief er erleichtert.

Silvana lächelte vage.

»Giovanni!«, sagte Giovanni.

»Giovanni!«, sagte Giovanni.

»Ist alles in Ordnung?«

Der Tabakhändler blickte beunruhigt auf die Männer in den Anzügen, die in seinen kleinen Laden getreten waren.

»Ich brauche den Aktenkoffer.«

Der Tabakhändler zögerte einen Augenblick und musterte die Fremden.

»Sind Sie sicher, Giovanni?«

»Ja, danke für Ihre Hilfe! Geben Sie mir jetzt den Koffer. Es ist alles in Ordnung.«

Der Tabakhändler verschwand im Hinterzimmer, wo sie ihn herumkramen hörten. Dann kam er mit dem Koffer zurück und reichte ihn Giovanni.

»Aufmachen!«, kommandierte der Großmeister.

Giovanni öffnete den ledernen Aktenkoffer. Das Manuskript lag in Leder eingeschlagen in einem Pappumschlag.

»Danke«, sagte der Großmeister.

Dann gab er einem der Muskelmänner ein Zeichen, der eine Pistole zückte und dem Tabakhändler zwischen die Augen schoss. Er fiel schwer, erst gegen das Regal mit den Zigarillos, dann seitlich auf den Boden, wo er unter Hunderten von Zigarren begraben wurde. Ein gurgelnder Laut kam über seine Lippen.

»Tut mir leid, Professor Nobile.« Die Stimme des Großmeisters war gefühllos. »Keine Zeugen, keine Überlebenden. Das verstehen Sie sicher. Ich habe Ihre Zusammenarbeit geschätzt. Aber so muss es sein. Tut mir leid.«

Natürlich, dachte Giovanni, jetzt brauchen sie uns ja nicht mehr. Weder mich noch Silvana. Sie haben bekommen, was sie wollten, und werden mich und Silvana erschießen, damit es keine Zeugen gibt. Und dann werden sie mir die Waffe in die Hand drücken. Dem durchgedrehten Professor, dem Wahnsinnigen, der von den Dämonen besessen war, die er erforscht hat, und der schließlich wegen einer simplen, alten Handschrift einen Ägypter, den Tabakhändler und am Ende auch noch seine kleine Tochter und sich selbst erschossen hat. Natürlich.

Giovanni schob Silvana hinter sich und drückte sie an den Tresen. Seine Hand schloss sich um den Schaft der Waffe, die noch immer in seiner rechten Jackentasche steckte. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass er sich davon getrennt hatte. Ein armseliger Professor, ein ungefährlicher Akademiker. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass er die Pistole noch bei sich hatte.

Durch die Jackentasche schoss er dem Großmeister in die Brust und dem Muskelmann in den Kopf. Sie stürzten zu Boden. Dann erschoss er den Einzigen der verbliebenen Männer, der zur Waffe griff. Die beiden anderen schienen unbewaffnet zu sein. Sie standen reglos da, wie gelähmt, ehe sie die Hände in die Höhe nahmen.

»Auf den Boden!«, schrie Giovanni.

Sie warfen sich hin.

»Liegen bleiben!«

Er begegnete dem Blick des Großmeisters. Blutiger Schaum quoll aus seinem Mundwinkel. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Worte waren nicht zu verstehen.

»Silvana«, sagte Giovanni. »Komm, mein Schatz!«

Er nahm die Aktentasche mit dem Manuskript, ergriff Silvanas Hand und zog sie hinter sich her aus ihrem Leben.

Das Luzifer Evangelium
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