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Das Brach
27. Februar 1980
Daniel ist wieder in England. Er ist schon zwei Wochen weg, und ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Aber zurückkommen tut er immer wieder. Die Versuchung ist groß, ihn mit einem Rufzauber zu belegen, damit er früher zu mir zurückkehrt, aber ich widerstehe ihr, und es liegt eine große Befriedigung darin zu wissen, dass er zu mir zurückkommt, weil er nicht anders kann, und nicht, weil ich ihn dazu zwinge.
Ist das Ehe? Es ist nicht wie die Ehe meiner Eltern, still und ruhig und zweisam. Wenn Daniel und ich zusammen sind, schreien, streiten, kämpfen wir und verachten einander, und dann ringen wir miteinander, fallen ins Bett und lieben uns mit einer Leidenschaft, die ebenso viel mit Hass zu tun hat wie mit Liebe. Und dann im Nachhinein sehe ich wieder seine Schönheit, nicht nur die äußerliche, sondern auch seine innere Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit. Ich liebe und achte sie, auch wenn sie so unschön mit dem zusammenprallt, was ich in mir trage.
Wir haben Augenblicke der Ruhe und Sanftheit, in denen wir einander bei der Hand halten und uns innig küssen. Dann erhebt Amyranth den Kopf oder seine Studien rufen ihn fort, und wir sind wieder wie zwei wütende Katzen, die man in einem Jutesack in einen Fluss wirft: Verzweifelt fahren wir die Krallen aus und kämpfen ums Überleben, egal um welchen Preis. Und er geht fort und ich versenke mich in Amyranth, denn ich weiß, dass ich es niemals aufgeben könnte. Doch dann vermisse ich Daniel und er kommt zurück und es geht wieder von vorne los.
Ist das Ehe? Es ist meine Ehe.
– SB
Ich weiß nicht, wie lange ich mit Hunter dort lag. Irgendwann verrieten seine regelmäßigen Atemzüge mir, dass er eingeschlafen war. Ich ging nicht davon aus, dass er mir verziehen hatte, nur weil ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn liebte, und er mich geküsst hatte. War ich wankelmütig, so schnell nach Cal einen anderen zu lieben? Steuerte ich gerade darauf zu, dass mir wieder jemand das Herz brach? Liebte Hunter mich? Es fühlte sich so an. Doch ich hatte keine Ahnung, ob wir eine Zukunft hatten, wohin unsere Beziehung uns führen oder wie lange sie halten würde. Diese Fragen mussten warten: Jetzt war es Zeit, höchste Zeit, mich für das tàth meànma brach fertig zu machen.
Behutsam löste ich mich aus seiner Umarmung, verließ das Zimmer und ging mit den Schuhen in der Hand nach unten. Sky war in der Küche, sie las Zeitung und trank etwas Heißes und Dampfendes aus einem Becher. Erwartungsvoll sah sie mich an.
»Ich erkläre es dir nachher«, sagte ich, müde und erschöpft.
»Es ist spät«, sagte sie nach einem Moment. »Schon kurz vor fünf. Ich gieße dir deinen besonderen Tee auf.« Sie bereitete eine große Kanne davon zu und ich trank ihn gehorsam. Er schmeckte nach Lakritze und Holz, Kamille und anderen Zutaten, die ich nicht identifizieren konnte.
»Welche Wirkung hat dieser Tee?«, fragte ich, als ich den Becher ausgetrunken hatte.
»Also …«, sagte Sky.
Ich fand es heraus, bevor sie ihren Satz vollenden konnte. Das Geheimnis des Kräutertees war, dass er das System reinigte und im Großen und Ganzen das, was ich mit dem Fasten und dem vielen Wasser, das ich getrunken hatte, angefangen hatte, vollendete. Mein Magen krampfte und ich beugte mich vornüber. Sky, die sich bemühte, ein selbstgefälliges Grinsen zu unterdrücken, zeigte auf das Bad im Erdgeschoss.
Zwischen krampfartigen Anfällen von … ähm … Darmentleerung meditierte ich und unterhielt mich mit Sky. Ich erzählte ihr von der Begegnung mit Cal und sie hörte mir mit überraschend viel Mitgefühl zu. Ich überlegte – und hoffte auch –, dass mein Fesselspruch nachgelassen hatte und er nicht immer noch in der Kälte auf dem Friedhof festsaß. Ganz bestimmt hatte er nachgelassen. Doch wo war Cal jetzt? War er sehr sauer? Hatte er so wie ich gespürt, dass meine Liebe zu ihm erloschen war?
An irgendeinem Punkt fragte Sky: »Wie fühlst du dich?«
»Leer«, sagte ich freudlos und sie lachte.
»Nachher bist du froh darüber«, meinte sie. »Vertrau mir. Ich habe miterlebt, wie Leute ein brach gemacht haben, ohne vorher zu fasten und ihr System zu leeren. Die haben es hinterher wirklich bereut.«
Ich schnupperte. »Was ist das?«
»Lasagne«, gestand Sky. »Es ist kurz vor sieben.«
»Oh, Jesus«, stöhnte ich, hohl und hungrig und erschöpft.
»Hier«, sagte Sky forsch und hielt mir ein Bündel aus hellgrünem Leinen hin. »Das ist für dich. Ich habe dir oben ein Bad eingelassen und ein paar reinigende Kräuter, Öle und so weiter reingetan. Entspann dich schön in der Wanne, dann geht’s dir gleich besser. Danach ziehst du das hier an, nichts drunter. Keine Unterhose, kein Schmuck, kein Nagellack, nichts im Haar. Okay?«
Ich nickte und ging die Treppe rauf. Hunter war im Bad, als ich eintrat, und legte gerade ein grobes, ungebleichtes Handtuch heraus. Ich hatte schon mal hier geduscht, doch jetzt kam es mir seltsam intim vor, hier ein Bad zu nehmen – besonders so kurz nachdem wir uns auf seinem Bett geküsst hatten. Ich wurde rot, und er warf mir einen undurchdringlichen Blick zu, verließ den Raum und schloss hinter sich die Tür.
Das Bad war wunderschön hergerichtet, sehr romantisch, das Licht war aus und überall brannten Kerzen. Aus der freistehenden Wanne stieg in Schwaden Wasserdampf auf und auf dem Wasser schwammen violette Blütenblätter, Rosmarin und Eukalyptus. Ich zog mich aus und tauchte selig unter. Ich weiß nicht, wie lange ich mit geschlossenen Augen in der Wanne lag und den Duft einatmete und spürte, wie sämtliche Spannung aus mir wich. Am Boden der Wanne war feinkörniges Salz, mit dem ich mir die Haut abrieb, denn es würde mir helfen, mich zu reinigen und negative Energie zu zerstreuen.
Ich spürte, dass Sky näher kam, und dann klopfte sie an die Tür und rief: »Zehn Minuten. Alyce ist bald hier.«
Rasch nahm ich die handgemachte Seife und einen Waschlappen und rieb mich von oben bis unten damit ab. Dann wusch ich mir die Haare, duschte mich von Kopf bis Fuß mit frischem Wasser ab und rubbelte so lange mit dem rauen Handtuch über meine Haut, bis ich trocken war. Ich fühlte mich wie eine Göttin: sauber, leicht, rein, fast ätherisch. Die schrecklichen Vorfälle des Tages verloren an Bedeutung, und ich fühlte mich zu allem bereit, als könnte ich mit einer Handbewegung die Sterne am Himmel neu anordnen.
Ich kämmte mir meine langen, feuchten Haare mit einem Holzkamm, den ich auf der Ablage fand, und zog die hellgrüne Robe über. Als ich barfuß nach unten schwebte, warteten Alyce, Sky und Hunter in dem Raum auf mich, in dem wir das Kreisritual gemacht hatten. Unsicher blieb ich in der Tür stehen und mein erster Gedanke war: Hunter weiß, dass ich hier drunter nackt bin. Doch seine Miene verriet nichts, und dann kam Alyce mit ausgestreckten Händen auf mich zu, und wir umarmten uns. Sie trug eine lavendelfarbene Robe, ähnlich der, die ich übergestreift hatte, und ihre Haare sah ich zum ersten Mal offen, silbern flossen sie ihr den halben Rücken hinunter. Sie wirkte ernst, und ich war unendlich dankbar, dass sie das hier für mich tun wollte.
Sky und Hunter kamen zu uns und umarmten uns, und ich spürte deutlich, wie Hunters schlanker Körper sich an mich schmiegte. Dann fiel mein Blick auf den Boden, wo er schon Kreise gezogen hatte. Es waren drei: ein äußerer weißer Kreis aus Kreide, ein mittlerer aus Salz und ein innerer Kreis aus einem goldenen Pulver, das würzig roch, wie Safran. Dreizehn weiße Stumpenkerzen säumten den äußeren Kreis und Alyce und ich traten durch die Öffnungen der Kreise. Wir setzten uns im Schneidersitz einander gegenüber auf den Boden, sahen uns lächelnd in die Augen, und Hunter schloss die Kreise und sang magische Schutzsprüche.
»Morgan von Kithic und Alyce von Starlocket, seid ihr einverstanden, wissentlich und willentlich heute Abend hier ein tàth meànma brach zu machen?«, fragte Sky formell.
»Ja«, antwortete ich, auch wenn Nervosität in mir aufstieg. War ich wirklich bereit? Konnte ich Alyce’ Wissen annehmen? Oder würde ich am Ende blind werden wie die Hexe, von der Hunter mir erzählt hatte?
»Ja«, antwortete Alyce.
»Dann lasst uns beginnen«, sagte Hunter. Er und Sky zogen sich ein paar Schritte zurück und setzten sich, an Kissen gelehnt, an eine Wand. Ich bekam den Eindruck, sie waren wie Beobachter, die herbeispringen und helfen würden, falls irgendetwas schiefging.
Alyce streckte die Hände aus und legte sie mir auf die Schultern und ich tat dasselbe bei ihr. Wir beugten die Köpfe vor, bis unsere Stirnen sich leicht berührten. Die Augen hatten wir noch offen. Ihre Schultern waren glatt und rund unter meinen Händen, und ich überlegte, ob meine unter ihren Händen knochig und rau waren.
Zu meinem Erstaunen fing sie dann an, mein persönliches Kraftlied zu singen, genau das Lied, das mir vor einigen Wochen zugeflogen war.
»An di allaigh an di aigh
An di allaigh an di ne ullah
An di ullah be nith rah
Cair di na ulla nith rah
Cair feal ti theo nith rah
An di allaigh an di aigh.«
Ich fiel in ihren Gesang ein, und wir sangen gemeinsam, bis der uralte Rhythmus unser Blut durchströmte wie ein Herzschlag. Mein Herz erhob sich mit meiner Stimme und ich sah die Freude in Alyce’ Miene. Es machte sie schön und ihre blauvioletten Augen waren voller Weisheit und Trost. Wir sangen, zwei Frauen, verbunden durch eine Kraft, durch Wicca, durch Freude und Vertrauen. Und langsam, ganz allmählich wurde mir bewusst, dass die Grenzen zwischen unseren Seelen sich auflösten.
Das Nächste, was ich bemerkte, war, dass ich die Augen geschlossen hatte – und falls sie nicht geschlossen waren, dann sah ich jedenfalls nicht mehr, was um mich herum war, und war mir nicht länger bewusst, wo ich war. Einen Augenblick überlegte ich voller Panik, ob ich blind war, doch dann überließ ich mich dem Staunen. Alyce und ich schwebten, zusammen, in einer Art Niemandsraum, wo wir gleichzeitig alles und nichts sehen konnten. Alyce streckte die Hände nach mir aus und sagte lächelnd: »Komm.«
Ich verkrampfte mich am ganzen Körper, als ich merkte, dass ich zu einer Art elektrisch geladenes Wurmloch gezogen wurde, und Alyce sagte: »Entspann dich, lass es kommen«, und ich versuchte, auch noch den letzten Fitzel Widerstand loszulassen. Und dann … und dann war ich in Alyce’ Seele: Ich war Alyce und sie war Morgan, wir waren fest verbunden. Ich atmete tief durch, als sich ihr Wissen in endlosen Wellen über mich ergoss, aufwogte und gegen mein Gehirn schwappte.
»Lass es kommen«, murmelte Alyce, und wieder merkte ich, dass ich mich verkrampft hatte, und versuchte, die Spannung und die Angst loszulassen und mich ganz zu öffnen, um zu empfangen, was sie mir gab. Unendlich viele Sigillen und Buchstaben, Zeichen und magische Sprüche strömten auf mich ein, Lieder und uralte Alphabete und der Inhalt zahlreicher Lehrbücher. Pflanzen, Kristalle, Steine und Metalle und ihre magischen Eigenschaften. Ich hörte ein hohes Wimmern und überlegte, ob ich das war. Ich wusste, dass ich Schmerzen hatte. Es fühlte sich an, als trüge ich einen Helm aus Eisenspitzen, die langsam in meinen Schädel getrieben wurden. Doch stärker als der Schmerz war meine Freude über die Schönheit, die mich umgab.
Oh, oh, dachte ich, unfähig, Worte zu formulieren. Blumen wirbelten durch die Dunkelheit auf mich zu, Blumen und spitze Äste und der Geruch von bitterem Rauch, und plötzlich war alles viel zu intensiv. In meiner Kehle stieg Galle auf, und ich war froh, dass ich nichts in mir hatte, was ich hätte erbrechen können.
Ich sah Alyce als Teenager. Sie trug eine Krone aus Lorbeerblättern auf ihrem braunen Haar und tanzte um den Maibaum. Ich sah die Scham, wenn magische Sprüche fehlschlugen, Amulette nicht halfen, sah wie ihr Kopf vor Panik ganz leer wurde beim strengen Tadel eines Lehrers. Ich spürte flammendes Begehren aufzüngeln, doch der Mann, den sie begehrte, verblasste, bevor ich ihn erkennen konnte, und etwas in mir wusste, dass er gestorben war und dass Alyce bei ihm gewesen war, als er starb.
Eine Katze ging an mir vorbei, eine Katze mit Schildpattzeichnung, die Alyce sehr geliebt hatte; die Katze hatte Alyce getröstet in ihrer Trauer und besänftigt in ihrer Angst. Alyce’ tiefe Zuneigung zu David, ihr Schmerz und ihr Unglaube über seinen Verrat wirbelten durch mich hindurch wie ein Hurrikan, der mich nach Luft schnappend zurückließ. Dann folgten noch mehr magische Sprüche, noch mehr Wissen, unendliche Seiten Bücherweisheiten: magische Schutzsprüche, Abwehrsprüche, Illusionszauber, Kraftzauber. Magische Sprüche, um wach zu bleiben, um zu heilen, um beim Lernen zu helfen, bei der Geburt, um die Leidenden und die Trauernden zu trösten, die, die zurückbleiben, wenn jemand stirbt.
Und Düfte. Unablässig wehten Düfte durch mich hindurch, und ich musste würgen und dann tief einatmen, wenn ich der Spur eines verlockenden Dufts nach Blumen und Räucherwerk folgte. Aber auch der Gestank von Rauch, verbranntem Fleisch und ranzigem Öl, der Geruch von Nahrungsmitteln, die der Göttin dargeboten wurden, und Speisen, die mit Freunden geteilt wurden oder bei Ritualen Verwendung fanden. Es folgten der metallische Geschmack von Blut, kupfrig und scharf, bei dem mein Magen brannte, und ekelhafte Gerüche nach Krankheit, eitrigem, faulendem Fleisch. Ich keuchte und wäre am liebsten weggelaufen.
»Lass es kommen«, flüsterte Alyce und ihre Stimme brach.
Ich wollte etwas sagen, wollte sagen, dass es zu viel war, wollte es langsamer machen, damit ich mehr Zeit hatte, denn ich drohte schier darin zu ertrinken, doch aus meinem Mund kamen keine Worte, die ich hören konnte, und immer noch drang Alyce’ Wissen auf mich ein. Ihre tiefe, persönliche Selbsterkenntnis rann über mich wie ein warmer Fluss, und ich tauchte hinein, tauchte in die Kraft, die selbst wie Magie ist, die Kraft der Weiblichkeit, der Schöpfung. Ich spürte Alyce’ tiefe Verbindung zur Erde und zu den Zyklen des Mondes. Ich sah, wie stark wir Frauen sind, wie viel wir tragen können, wie sehr wir uns an der archaischen Kraft der Erde nähren können.
Die Augen noch geschlossen, spürte ich ein Lächeln auf meinem Gesicht, Freude wallte in mir auf. Alyce war ich und ich war Alyce und wir waren zusammen. Es war wunderschöne Magie, umso schöner, als mir aufging, dass Alyce sie zu mir schickte und ich sie zu ihr. Ich sah ihre Überraschung, ja, ihre Bewunderung über meine magische Kraft – die ich allmählich entdeckte und an die ich mich langsam gewöhnte. Eifrig nährte sie sich von meiner Seele, und ich war entzückt, wie aufregend sie die Breite und Tiefe meiner magischen Kraft fand, meine Magie, deren Wurzeln über meinen Clan tausend Jahre in die Vergangenheit reichten. Sie teilte meine Trauer um Cal und freute sich mit mir über die Entdeckung meiner Liebe zu Hunter. Sie sah die Fragen, die ich mir über meine leiblichen Eltern stellte, und wie sehr ich mir wünschte, ich hätte sie kennenlernen können. Ich zeigte es ihr mit Freude, öffnete mich ihren Gedanken, teilte mein Erbe und mein Leben mit ihr.
Und indem ich meine Seele öffnete, um sie mit Alyce zu teilen, sah ich mich selbst: Ich sah, wie stark ich sein konnte, und erkannte mein Potenzial. Ich sah den gefährlich schmalen Grat zwischen Gut und Böse, den ich mein ganzes Leben lang wandeln würde; ich sah mich als Kind, so, wie ich jetzt war, und als Frau, die ich sein würde. Meine magischen Kräfte würden schön sein, ehrfurchtgebietend, wenn ich nur einen Weg fand, mich zu einem Ganzen zu machen. Ich brauchte Antworten. Vage spürte ich warme Tränen auf meinen Wangen, die mir salzig in den Mund tropften.
Ganz langsam und behutsam trennten wir uns wieder in zwei Wesen, unser gemeinsames Ganzes teilte sich in zwei, wie bei der Zellteilung. Die Trennung unserer Seelen war so schmerzhaft und unangenehm wie die Vereinigung, und ich trauerte, als Alyce sich aus meiner Seele zurückzog, und spürte, dass sie um mich trauerte. Wir lösten die Hände von unseren Schultern. Dann richtete ich mich auf und riss mit gerunzelter Stirn die Augen auf.
Ich sah Alyce an und sah, dass auch sie eine dritte Präsenz spürte: Da war Morgan, und da war Alyce, und da war eine dritte, namenlose Kraft, die die Hände nach mir ausstreckte, deren dunkle Ranken sich begierig nach meiner Seele reckten.
»Selene«, keuchte ich, und schon war Alyce da und zog Blockaden hoch gegen die dunkle Magie, die um uns gekrochen war wie ein Irrlicht, wie Rauch, wie ein giftiges Gas. Der Abwehrzauber kam mir mühelos in den Sinn – erinnert und der Vergessenheit entrissen –, und ohne Mühe sagte ich die Worte, zeichnete Sigillen und zog meine eigenen Blockaden hoch gegen das, was da auf mich zukam. Alyce und ich kannten einander, hatten das Wissen und das Wesen der anderen in uns aufgenommen, und schon konnte ich mich auf dieses frisch erworbene Wissen berufen, um mich gegen Selene zu schützen, die wahrsagte, um mich zu finden, die die Hände gierig nach mir ausstreckte, um mich zu kontrollieren.
Im nächsten Augenblick war sie fort.
Als ich die Augen noch einmal aufschlug, war die Welt wieder relativ normal: Ich saß Alyce gegenüber auf dem Holzboden von Skys und Hunters Haus, die am Rand des Kreises knieten und uns beobachteten. Alyce schlug die Augen auf und atmete tief durch.
»Was war das?«, fragte Sky.
»Selene«, antwortete ich.
»Selene«, sagte Alyce gleichzeitig. »Sie hat nach Morgan gesucht.«
»Warum muss sie nach mir suchen?«, fragte ich.
»Es ist eher so, dass sie versucht, in Verbindung mit deiner Seele zu treten«, erklärte Alyce. »Sie schaut, wo du magisch stehst. Versucht vielleicht sogar, dich aus großer Ferne zu kontrollieren.«
»Aber jetzt ist sie weg, oder?«, fragte Hunter. Als ich nickte, fuhr er fort: »Wie war es? Wie geht es euch beiden?«
Ich sah Alyce’ an und zog im Geiste Bilanz. »Ähm, ich fühle mich komisch«, sagte ich und fiel in Ohnmacht.