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Ein Kreis zu dritt
8. November 1973
Clyda ist gestern wieder ohnmächtig geworden. Ich fand sie hier am Fuß der Treppe. Dies ist das dritte Mal in zwei Wochen. Keiner hat ein Wort gesagt, aber sie ist eben einfach alt. Sie hat nicht auf sich achtgegeben, sie hat zu viel Magie gewirkt und sich dabei zu wenig Grenzen gesetzt, und sie hat sich zu sehr mit den dunklen Mächten befasst.
Diesen Fehler werde ich niemals machen. Ja, ich gehöre Turneval an, und ja, ich rufe die dunkle Seite an. Aber niemals, ohne mich zu schützen. Niemals ohne Vorsichtsmaßnahmen. Ich trinke nicht aus diesem Kelch, ohne dafür zu sorgen, dass er wieder aufgefüllt wird.
Wie auch immer, Clydas Gesundheit ist ihre Sache. Sie bittet mich nicht um meine Fürsorge und sie will sie auch nicht, und inzwischen brauche ich sie bei meinen Studien auch immer weniger. Seit der Großen Prüfung fällt mir das Lernen leicht. Natürlich ist die Stärke und die Schwäche von Wicca, dass es immer noch etwas zu lernen gibt.
Ich habe diesen Eintrag gerade noch einmal gelesen, und ich kann es nicht glauben, dass ich über die Gesundheit einer alten Frau quassele, wo mein Leben gestern Abend schon wieder eine neue Richtung eingeschlagen hat. Clyda hat mich endlich einigen Mitgliedern ihres Hexenzirkels vorgestellt, Amyranth. Selbst jetzt, beim Niederschreiben des Namens, überzieht ein Frösteln meine Haut. Ich werde nicht lügen: Sie jagen mir Angst ein – durch ihren Ruf, durch ihre schiere Existenz. Und doch fühle ich mich sehr zu ihnen und ihrer Mission hingezogen. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass ich dazu bestimmt bin, ihnen anzugehören. Vom Tag meiner Geburt an war ich gezeichnet, ein Mitglied Amyranths zu sein, und das zu leugnen hieße, mich selbst zu leugnen. Oh, ich muss … Clyda ruft mich.
– SB
Als ich Mary K. an der Kirche absetzte, standen nur vier Autos auf dem Parkplatz. Vor dreißig Jahren haben vermutlich mehr Menschen wochentags die Morgenmesse besucht, doch heutzutage ist es eher verwunderlich, dass Vater Hotchkiss sie überhaupt abhält.
»Willst du wirklich reingehen?«, fragte ich Mary K. »Möchtest du nicht lieber einen Kaffee mit mir trinken gehen?«
Meine Schwester schüttelte den Kopf, doch sie machte keinerlei Anstalten, aus dem Auto zu steigen.
»Was ist los mit dir, Mary K.?«, fragte ich. »Du wirkst in letzter Zeit sehr unglücklich. Ist es wegen Bakker?«
Wieder schüttelte sie den Kopf und schaute aus dem Fenster. »Nicht nur Bakker«, sagte sie schließlich. »Alle Jungs. Ich meine, sieh dir dich und Cal an. Und Bree und ihre vielen Lover. Typen sind einfach …«
»Verlierer?«, schlug ich vor. »Blödmänner? Idioten?«
Sie lächelte nicht. »Ich kapiere das einfach nicht«, sagte sie. »Es ist … Ich habe das Gefühl, ich möchte mich nie wieder mit einem Jungen verabreden. Ich möchte nie wieder so schutzlos sein. Und das finde ich schrecklich. Ich will nicht mein ganzes Leben lang allein sein.«
Ich machte den Mund zu, bevor ich etwas Dummes sagen konnte, wie etwa: Du bist erst vierzehn, mach dir keine Sorgen.
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte ich stattdessen.
Sie sah mich bekümmert an und ich nickte.
»Manchmal geht es mir auch so. Ich meine, Cal war mein erster Freund, und sieh dir an, was für ein Missgriff er am Ende war. Wie kann ich mir nach so etwas je wieder bei einem Jungen sicher sein?«
»Bei Hunter kannst du dir sicher sein«, erwiderte sie. »Er ist ein guter Typ.«
»Das glaube ich auch. Aber dann denke ich: Bei Cal habe ich auch gedacht, er wäre ein guter Typ.« Ich verzog das Gesicht. »Weißt du, was wirklich krank ist?«
»Was?«
»Ich vermisse Cal. Ich hatte das Gefühl, ich würde ihn kennen, ich würde ihn verstehen. Jetzt weiß ich, dass er mich angelogen hat, er hat mich benutzt und an der Nase herumgeführt. Aber damals hat es sich nicht so angefühlt, deshalb erinnere ich mich auch nicht auf diese Weise daran. Ich fühle mich zu Hunter hingezogen, richtig zu ihm hingezogen, aber ich habe das Gefühl, ich kenne ihn nicht und werde ihn niemals kennen.«
Niedergeschlagen saßen wir in Das Boot. Statt meine Schwester aufzumuntern, hatte ich mich selbst auch noch runtergezogen. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte dir nicht auch noch meine Probleme aufhalsen.«
»Willst du mit mir in die Messe gehen?«, fragte Mary K. mit einem Anflug von Humor.
»Nein.« Ich lachte kurz auf. »Willst du mit mir zu Practical Magick fahren?«
»Nein. Also, dann gehe ich wohl besser mal rein. Ich gehe nachher zu Fuß nach Hause. Danke fürs Fahren.«
»Jederzeit.«
»Und auch danke fürs Reden.« Sie lächelte mich auf ihre süße Art an. »Du bist eine tolle Schwester.«
»Du auch.« Ich liebte sie sehr. Sie stieg aus und ging die Stufen zur Kirche hoch, und ich legte den ersten Gang ein und bog Richtung Norden ab, um nach Red Kill zu Practical Magick zu fahren.
Eigentlich hatte ich Weihnachtsgeschenke kaufen wollen, doch als ich schließlich im Laden stand, merkte ich, dass ich nicht in der Stimmung dazu war. Ich hab noch Zeit, sagte ich mir. Für Mary K. würde ich die Ohrringe kaufen, dann war meine unmittelbare Familie schon mal versorgt. Blieben nur noch meine Tante Eileen und ihre Freundin Paula, meine Tante Margaret, ihr Mann und ihre Kinder … und Robbie. Alles, was danach kam, war Grauzone. Sollte ich Hunter was schenken? Für das, was unsere Beziehung war, kam es mir fast zu persönlich vor – doch andererseits hatte er mir den wunderschönen Quilt gekauft. Und Bree? Würden wir uns dieses Jahr was schenken oder nicht? Ich seufzte. Warum musste immer alles so kompliziert sein?
Eine tröstliche Stimme störte mich in meinen Gedanken. »Du siehst aus, als würde es dir gut tun, wenn man dich ein bisschen von deinen Problemen ablenkte. Komm mit rauf und sieh dir meine neue Wohnung an«, schlug Alyce vor. Nach Davids Fortgang war sie in eine der Wohnungen über dem Laden gezogen. Es war die Wohnung von Davids Tante Rosaline gewesen. David hatte den Laden – und Rosalines beträchtliche Schulden – geerbt, als sie vor Kurzem gestorben war. Um einen Ausweg aus den Schulden zu finden, hatte er sich den verhängnisvollen Experimenten mit schwarzer Magie zugewandt. Jetzt, da Alyce die Besitzerin des Ladens war, zahlte sie Rosalines Schulden in einem langfristigen Tilgungsplan ab.
Alyce sagte Finn Bescheid, was wir vorhatten, und dann gingen wir durch das Hinterzimmer direkt in den Hausflur. »Da ich den Laden jetzt führe, ist es gar nicht schlecht, in der Nähe zu wohnen. Und ich spare die Miete«, erklärte Alyce und wir stiegen eine steile, enge Holztreppe hinauf.
Oben lagen zwei kleine, enge Wohnungen. Alyce führte mich durch die Tür zur Linken. Das Wohnzimmer war klein und schmucklos, aber frisch gestrichen in einem warmen Cremeton. Auf einer überraschend modernen Couch saß Sky und las in einem ledergebundenen Buch.
»Hey«, sagte ich. Ich hatte sie seit dem Kreisritual am Samstag nicht gesehen.
»Hi«, antwortete sie und erforschte neugierig mein Gesicht. Ob Hunter ihr von unserer Vision von seinem Vater und der dunklen Welle erzählt hatte?
»Sky und ich arbeiten zusammen«, erklärte Alyce und trat in die winzige, fensterlose Küche, um Tee zu machen. Ich setzte mich auf ein großes Kissen am Boden.
»Als du eben reingekommen bist, kam mir die Idee, wir drei könnten vielleicht ein Kreisritual machen«, fuhr Alyce fort und holte Tassen und Untertassen raus. »Es könnte dir helfen, dich zu zentrieren, Morgan. Und du und Sky arbeitet beide an unbeantworteten Fragen, auch dabei könnte es hilfreich sein.«
Ich dachte an die beiden Kreisrituale, an denen ich vor Kurzem teilgenommen hatte. Beide Male hatte ich keinen Zugang zu meiner Magie gefunden, und es graute mir davor, so etwas noch einmal zu empfinden.
»Ja, gute Idee«, sagte ich und nahm die Teetasse, die Alyce mir reichte.
Unser Kreis war klein – nur wir drei – und irgendwie sehr durch Alyce geprägt: offen, empfänglich, nährend, stark und sehr weiblich.
Wir stellten uns mitten im Wohnzimmer auf und fassten einander an den Händen, während die blasse Wintersonne durch die Fenster schien. Dann schlossen wir die Augen und intonierten unsere persönlichen Kraftlieder.
»An di allaigh, ne ullah«, begann ich.
Sky und Alyce sangen leise ihre Lieder: Alyce sang auf Englisch, während Skys Lied mehr wie meines klang, keltisch, alt, unverständlich. Drei Mal gingen wir im Uhrzeigersinn um die Kerze, die in der Mitte stand. Beim dritten Mal spürte ich, wie die magische Kraft von Skys Hand in meine floss und von meiner Hand in Alyce’. Sie besaß eine ausgeprägte und andere Qualität: immerwährend, lebensfördernd.
Dann rief Alyce die vier Elemente sowie Göttin und Gott an und sagte: »Herrin und Herr, wir drei sind auf einer persönlichen Suche. Bitte helft uns, offen zu sein für die Antworten, die das Universum uns gibt. Bitte helft uns, unseren Geist zu öffnen für die Weisheit der Welt.«
Nach einer kurzen Pause fuhr Alyce fort: »Meine Suche betrifft mich als Leiterin von Starlocket. Helft mir, mein Bewusstsein zu öffnen, um die Weisheit zu empfangen, die ich brauche, um die Frauen und Männer des Hexenzirkels anzuleiten. Helft mir zu verstehen, warum ich als Leiterin erwählt wurde. Helft mir, meine Pflichten voller Liebe zu erfüllen.«
Dann richtete sie ihre blauvioletten Augen auf Sky und nickte. Sky wirkte nachdenklich, dann sagte sie: »Meine Suche betrifft die Frage … ob ich dem Erbe meiner Eltern gerecht werde. Ob meine Magie so stark und rein sein wird wie die ihre.«
Ich sah sie an, überrascht, dass sie an ihrer magischen Kraft und an ihren Fähigkeiten zweifelte. Sie war mir immer recht arrogant, ja übertrieben selbstbewusst erschienen, und ich wusste, dass sie sehr viel mehr Wissen und Erfahrung besaß als ich. Jetzt sah ich, dass auch sie Schwächen hatte.
Da sah Alyce mich an und ich fühlte mich unvorbereitet. Ich war nicht wegen dieses Kreises hergekommen und ich hatte mir keine Frage zurechtgelegt. Welche Suche sollte ich nennen? Ich hatte so viele unbeantwortete Fragen: über Cal, Selene, Maeves magische Werkzeuge, meinen leiblichen Vater, Hunter, Bree … Wo sollte ich anfangen?
»Nein, Liebes«, sagte Alyce leise. »Es geht viel tiefer.«
Oh. Dann dachte ich an das Kreisritual bei Sharon zu Hause und da wusste ich es. »Meine persönliche Suche hat damit zu tun, wer und was ich bin«, sagte ich und wusste, als ich die Worte aussprach, dass es stimmte. »Neige ich eher zum Bösen, weil Woodbane-Blut durch meine Adern fließt? Werde ich doppelt so stark dagegen ankämpfen müssen wie andere? Wie kann ich lernen, Böses zu erkennen, wenn es mir begegnet? Bin ich … kann ich der Dunkelheit entkommen?«
Ich spürte deutlich Alyce’ Anerkennung, dass ich die richtigen Fragen gefunden hatte, und Skys gereiztes Interesse und ihren leichten Schreck. Wir standen noch einen Moment da und hielten einander an den Händen, und ich spürte, wie die Kraft uns durchströmte, fast als würde ein elektrischer Strom von einer zur anderen laufen. Ich bin stark, dachte ich. Und ich habe gute Freunde. Hunter, Robbie, Bree, Alyce, sogar Sky – sie werden zu mir stehen und mir helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Einen Augenblick lang war dieses Wissen sicher und klar in meinem Bewusstsein und gab mir ein Gefühl des Trostes und des Friedens.
Dann gingen wir drei Mal gegen den Uhrzeigersinn im Kreis, Alyce löste den Kreis auf und wir pusteten die Kerze aus.
»Ich danke euch beiden«, sagte Alyce und machte sich daran, ihre rituellen Schalen fortzuräumen. »Jetzt ist meine Wohnung mit guter Energie gesegnet. Und wir haben alle drei in unserem Herzen Fragen gefunden, die beantwortet werden müssen, bevor wir weitermachen können.«
»Wie finden wir die Antwort?« Sky klang frustriert.
Alyce lachte. »Ich fürchte, das ist Teil der Frage«, antwortete sie freundlich.
Wir blieben noch eine halbe Stunde in Alyce’ Wohnung, um zu reden und das Beisammensein zu genießen. Dann musste Alyce wieder in den Laden und Sky und ich verabschiedeten uns zögerlich.
»Das war schön«, meinte Sky, als wir auf die Straße traten.
»Ja.« Ich lächelte und genoss den Augenblick unkomplizierter Freundlichkeit.
»Man sieht sich.« Sie ging die Straße runter zu ihrem Auto.
Als ich den Motor von Das Boot anmachte, dachte ich über unser Kreisritual nach. Seltsamerweise hatte ich jetzt, da ich meine größte Sorge offen ausgesprochen hatte, mehr Angst als zuvor. Auf dem ganzen Heimweg blickte ich immer wieder über die Schulter, als könnte die dunkle Welle mir im Rückspiegel auflauern.
Ohne es recht zu merken, ordnete ich mich so ein, als wollte ich die Route nach Hause nehmen, die an Cals altem Haus vorbeiführte. Erst in der letzten Sekunde merkte ich, was ich da tat, und wechselte wieder auf die andere Spur, was ein wütendes Hupkonzert auslöste. Ich winkte, um mich zu entschuldigen, und fuhr auf einem anderen Weg nach Hause. Ich wollte nicht an seinem Haus vorbeifahren. Nicht heute.