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Beginn

2. Mai 1969

Meine Haut ist verschrumpelt und mein Haar ist klebrig und steif vom Salz. Zwei Stunden habe ich in dem reinigenden Bad gelegen, in das ich ganze Hände voll Meersalz getan habe, umgeben von Kristallen und Salbeikerzen. Doch auch wenn ich meinen Körper von der negativen Energie reinigen kann, will es mir nicht gelingen, die Bilder aus meinem Kopf zu löschen.

Letzte Nacht habe ich meinen ersten taibhs gesehen und allein bei dem Gedanken daran fange ich an zu zittern. Jedem Catspaw-Kind wurde natürlich davon erzählt, man hat Gruselgeschichten über böse taibhs gehört, die die Seelen der Wicca-Kinder stehlen, wenn sie ihren Eltern und Lehrern nicht gehorchten. Ich hätte nie gedacht, dass es sie wirklich gibt. Ich dachte wohl, das wären nur Überbleibsel aus dem finsteren Mittelalter – genau wie Hexen, die auf Besen reiten, schwarze Katzen, Warzen auf der Nase – und hätte mit uns heute nichts zu tun.

Doch Turneval hat mich letzte Nacht eines Besseren belehrt. Ich hatte mich sehr sorgfältig für den Ritus gekleidet, ich wollte hexiger, schöner und mächtiger sein als sämtliche anderen Frauen dort. Sie hatten mir etwas Besonderes versprochen, etwas, was ich nach monatelangem Üben und Lernen verdient hatte. Etwas, was ich durchmachen musste, bevor ich Turneval als vollwertiges Mitglied beitreten konnte.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, schäme ich mich, wie naiv ich war. Selbstsicher in meiner Schönheit, meiner Kraft und Rücksichtslosigkeit schritt ich hinein, um am Ende des Abends feststellen zu müssen, dass ich schwach war, ungebildet und des Angebots von Turneval nicht würdig.

Was passiert ist, war nicht meine Schuld. Ich war nur Zeugin. Diejenigen, die den Ritus geleitet haben, haben Fehler gemacht bei den Begrenzungen, beim Formulieren der magischen Sprüche, beim Ziehen der Schutzkreise – es war das erste Mal, dass Timothy Cornell einen taibhs herbeigerufen hat, und er hat es schlecht gemacht. Und es hat ihn umgebracht.

Ein taibhs! Ich kann es immer noch nicht fassen. Es war ein Wesen und doch kein Wesen, ein Geist und doch kein Geist: eine dunkle Ansammlung von Macht und Hunger mit einem menschlichen Gesicht und Händen und der Gier eines Dämons. Ich stand dort im Kreis, erpicht und voller Vorfreude, und plötzlich wurde es eisigkalt im Raum, als hätte sich der Nordwind zu uns gesellt. Zitternd schaute ich mich um und sah, dass die anderen die Köpfe gesenkt und die Augen geschlossen hatten. Dann sah ich es, sah, wie es in der Ecke Gestalt annahm. Es war wie ein Mini-Tornado, Dampf und Rauch stiegen auf und wirbelten siedend umeinander und verdichteten sich. Es sollte nichts tun, wir wollten es bloß aus Übungszwecken anrufen. Doch Timothy hatte es falsch gemacht, und es durchbrach unseren Schutzkreis und wandte sich gegen ihn, und keiner von uns konnte etwas tun.

Der Tod durch einen taibhs ist schrecklich mit anzusehen, und jedes Mal, wenn ich daran denke, wird mir übel. Am liebsten würde ich alles vergessen: Tims Schreie, wie die Seele aus seinem Leib gerissen wurde. Allein bei dem Gedanken daran zittere ich jetzt noch. Dieser Dummkopf! Er war es nicht wert, die Macht auszuüben, die ihm dargeboten wurde.

Zum ersten Mal begreife ich, warum meine Eltern – verhalten und langweilig, wie sie waren – die Art von sanfter Magie wählten, die sie wirkten. Sie hätten die dunklen Mächte nicht kontrollieren können, so wenig, wie ein Kind eine Flut aufhalten kann, indem es einen Lumpen in einen Graben stopft.

Jetzt habe ich mich auf dem Bett eingerollt, meine nassen Haare fließen mir über den Rücken wie Regen, und ich frage mich, welchen Weg ich wählen werde: den sicheren, freundlichen, langweiligen Weg meiner Eltern oder den Weg von Turneval, mit seiner Macht und seinem Bösen, die miteinander verwoben sind wie ein Strick. Welcher Weg birgt für mich den größeren Schrecken?

SB

»Mach mal ein Fenster auf. Von dem Gestank wird mir übel«, beschwerte Mary K. sich.

Ich legte den Farbroller zur Seite und riss eins der beiden Schlafzimmerfenster auf. Augenblicklich wehte ein eisiger Wind herein und vertrieb den sauren, chemischen Geruch der Wandfarbe. Ich trat zurück, um zu bewundern, was meine Schwester und ich bereits geschafft hatten. Zwei Wände meines Zimmers waren schon in einem hellen Milchkaffeeton gestrichen. An den anderen beiden Wänden waren noch die kindischen rosafarbenen Streifen, die mir schon lange nicht mehr gefielen. Ich grinste, denn ich fand die neue Farbe toll. Ich veränderte mich, und mein Zimmer veränderte sich auch, um mit mir Schritt zu halten.

»Du bist doch eh nur noch ein Jahr hier«, meinte Mary K. und zog vorsichtig einen Rand zur Decke. Sie hatte sich ein buntes Tuch um die Haare geknotet, das schon reichlich Farbkleckse abbekommen hatte, und obwohl sie eine Sweathose und einen lottrigen alten Pullover trug, sah sie aus wie ein süßer Teeniestar. »Es sei denn, du gehst nach Vassar oder auf die SUNY nach New Paltz oder so und pendelst nur.«

»Also, dass muss ich ja noch eine ganze Weile nicht entscheiden«, sagte ich.

»Aber warum gefällt dir denn dein Zimmer jetzt plötzlich nicht mehr?«

»Ich kann das Pink nicht mehr sehen«, sagte ich und rollte Farbe über die Tapete.

»Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, ob du Sex hattest?«, fragte Mary K. und ich ließ beinahe den Farbroller fallen. »Mit Cal?«

Da war es, das vertraute Zusammenzucken gefolgt von einem Krampf im Magen, der mich quälte, sobald sein Name fiel.

»Also, habt ihr zwei es je getan? Ich meine, nachdem wir darüber geredet haben?«

Ich atmete tief ein und langsam wieder aus und zählte dabei bis zehn. Ich konzentrierte mich ganz darauf, einen glatten, breiten Streifen Farbe auf die Wand zu bringen und mehrfach über die Ränder und sämtliche Nasen zu rollen. »Nein«, antwortete ich dann ruhig. »Nein, wir haben nie miteinander geschlafen.« Ein schrecklicher Gedanke kam mir. »Du und Bakker …«

»Nein«, sagte sie. »Deswegen ist er ja immer so ausgeflippt.«

Sie war erst vierzehn, aber sie war eine reife und kurvenreiche Vierzehnjährige. Ich war unendlich dankbar, dass Bakker sie nicht zu etwas hatte überreden können, wozu sie noch nicht bereit war.

Ich dagegen war siebzehn. Ich war immer davon ausgegangen, dass Cal und ich eines Tages miteinander schlafen würden, wenn ich so weit war – doch jedes Mal, wenn er die Initiative ergriffen hatte, hatte ich Nein gesagt. Ich war mir nicht sicher, warum, auch wenn ich mich jetzt natürlich fragte, ob ich unbewusst gespürt hatte, dass ich in seiner Gegenwart nicht sicher war und dass ich Cal nicht so vertrauen konnte, wie ich es hätte können müssen, um mit ihm ins Bett zu gehen. Doch was wir gemacht hatten, hatte mir sehr gefallen: das heiße Rumknutschen und die Berührungen und wie die Magie unserer Nähe eine ganz neue Dimension hinzugefügt hatte. Jetzt würde ich nie erfahren, wie es wäre, mit Cal zu schlafen.

»Und Hunter?«, fragte Mary K. und blickte von ihrer Leiter nachdenklich auf mich herunter.

»Was soll mit ihm sein?« Ich bemühte mich um einen gleichgültigen Tonfall, doch der wollte mir nicht ganz gelingen.

»Glaubst du, du gehst mit ihm ins Bett?«

»Mary K.« Ich merkte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. »Wir sind nicht mal zusammen. Manchmal kommen wir gar nicht miteinander klar.«

»So fängt es immer an«, erwiderte Mary K. mit der ganzen Weisheit ihrer vierzehn Jahre.

Wir hatten früh angefangen und so waren wir am Mittag mit den Wänden fertig. Während ich die Pinsel und Rollen auswusch, ging Mary K. runter in die Küche, um uns ein paar Sandwiches zu machen. Sie stand seit Kurzem auf gesundes Essen, also waren die Sandwiches aus Siebenkornbrot und mit Erdnussbutter und Bananen belegt – was sich als überraschend lecker erwies.

Ich verputzte mein Sandwich und trank einen Schluck Cola light. »Ah, das ist jetzt genau das Richtige«, sagte ich.

»Das ganze künstliche Zeug ist nicht gut für dich«, sagte Mary K., aber ihre Stimme war teilnahmslos. Ich sah sie besorgt an. Sie brauchte wirklich eine ganze Weile, um ihre Depression wegen Bakker zu überwinden.

»Hey. Was machst du heute Nachmittag?«, fragte ich und überlegte, ob wir vielleicht shoppen gehen oder ins Kino oder was anderes unternehmen sollten, was Schwestern so machen.

»Nicht viel. Ich dachte, ich gehe vielleicht in die Drei-Uhr-Messe.«

Ich lachte erstaunt auf. »Du willst am Montag in die Kirche? Was ist los?«, fragte ich. »Wirst du Nonne?«

Mary K. lächelte zaghaft. »Ich … also, bei allem, was so los ist, habe ich das Gefühl, ich kann ein bisschen zusätzliche Unterstützung gebrauchen. Zusätzliche Hilfe. Die kriege ich in der Kirche. Ich würde gern enger in Berührung kommen mit meinem Glauben.«

Ich trank meine Cola light und suchte vergeblich nach einer Erwiderung darauf. In der Stille dachte ich plötzlich: Hunter, und da klingelte das Telefon.

Ich stürzte mich darauf. »Hey, Hunter«, sagte ich.

»Ich will dich sehen«, sagte Hunter wie gewohnt ohne einen Gruß. »Eine halbe Stunde von hier gibt es einen Antikmarkt. Ich dachte, vielleicht hast du ja Lust hinzufahren?«

Mary K. sah mich an und ich zog die Augenbrauen hoch. »Ein Antikmarkt?«, lautete meine brilliante Antwort.

»Ja. Könnte doch interessant sein. Ist gar nicht weit, in Kaaterskill.«

Mary K. sah zu, wie verschiedene Gefühle über mein Gesicht huschten, und ich mimte übertrieben, wie mir die Klappe runterfiel. »Hunter, ist das etwa ein Date?«, fragte ich, damit Mary K. auch was davon hatte, und sie richtete sich kerzengerade auf und sah mich neugierig an.

Schweigen. Ich lächelte ins Telefon. »Weißt du, das klingt irgendwie nach einer Verabredung«, fuhr ich fort. »Ich meine, treffen wir uns, um irgendetwas Wichtiges zu besprechen?«

Mary K. fing leise an zu kichern.

»Wir sind Freunde, die was zusammen unternehmen«, sagte Hunter und klang sehr britisch. »Ich weiß nicht, warum du unbedingt ein Etikett draufkleben willst.«

»Kommt sonst noch jemand mit?«

»Ähm … nein.«

»Und du sagst, es ist kein Date?«

»Hast du jetzt Lust mitzukommen oder nicht?«, fragte er steif.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. »Ich komme mit«, sagte ich, legte auf und drehte mich zu Mary K. »Ich glaube, Hunter hat mich gerade um ein Date gebeten.«

»Wow.« Sie grinste.

Ich lief hoch, um zu duschen, und überlegte, wieso ich so glücklich war, wo mein Leben doch ein einziges stressiges, beängstigendes Chaos war.

Zwanzig Minuten später holte Hunter mich mit Skys Auto ab. Meine nassen Haare hingen mir in einem langen, schweren Zopf über den Rücken. Ich bot ihm eine Cola light an, und er schauderte. Dann machten wir uns auf den Weg nach Kaaterskill.

»Warum ist es für dich so wichtig, ob es ein Date ist oder nicht?«, fragte er plötzlich.

Ich war so überrascht, dass ich nicht lange drum herumredete. »Ich wollte wissen, wo wir stehen.«

Er sah mich an. Er sah wirklich gut aus, und mein Gehirn wurde plötzlich von Bildern überflutet, wie wir uns geküsst hatten, wie intensiv und leidenschaftlich er da gewesen war. Ich schaute schnell zum Seitenfenster raus.

»Und wo stehen wir?«, fragte er leise. »Willst du, dass das hier eine Verabredung ist?«

Jetzt war ich verlegen. »Ach, ich weiß nicht.«

Dann nahm Hunter meine Hand, hob sie an die Lippen und küsste sie, und ich atmete ganz flach.

»Ich will, dass es das ist, was du willst«, sagte er und lenkte mit einer Hand, ohne mich anzusehen.

»Ich sag dir Bescheid, sobald ich es rausgefunden habe«, erwiderte ich zitternd.

Der Antikmarkt fand in einer riesigen, an ein Lagerhaus erinnernden Scheune mitten im ländlichen New York statt. Es waren nicht viele Leute dort – es war der letzte Tag des Markts. Alles sah irgendwie aus, als wäre es schon durchstöbert worden, trotzdem genoss ich die Zeit mit Hunter, ohne dass es etwas mit Magie zu tun hatte. Meine Stimmung hob sich noch mehr, als ich ein kleines geschnitztes Kästchen fand, das bestimmt meiner Mutter gefallen würde, und ein altes Messingbarometer, das genau das Richtige für meinen Vater war. Zwei zu Beschenkende konnte ich damit von meiner Liste streichen. Ich war jämmerlich spät dran mit dem Geschenkekaufen. Weihnachten rückte in Riesenschritten näher und ich hatte bisher kaum einen Gedanken daran verschwendet. Unser Hexenzirkel plante auch ein Julfest, aber zum Glück sollten da keine Geschenke verteilt werden.

Ich war gerade in den Inhalt eines alten Zahnarztschranks vertieft, als Hunter mich zu sich rief. »Schau dir die an«, sagte er und zeigte auf eine Auswahl von Amish-Quilts. Ich mochte Amish-Quilts mit ihren bunten, kräftigen Farben und der tröstlichen Geometrie ihrer Muster. Der Quilt, auf den Hunter zeigte, war ungewöhnlich, weil er ein Kreismotiv hatte.

»Ein Pentagramm«, sagte ich leise und fuhr mit den Fingerspitzen über den Baumwollstoff. »Ein Kreis mit einem Stern darin.« Der Hintergrund war schwarz mit Neunerblöcken in jeder Ecke in Türkis-, Rot- und Purpurrotschattierungen. Der große Kreis berührte alle vier Ränder und war aus rotem Baumwollstoff. Ein roter fünfzackiger Stern füllte den Kreis und in der Mitte des Sterns war noch ein Neunerblock. Ein wunderschöner Quilt.

Ich sah zu der Frau mittleren Alters hinüber, die die Quilts verkaufte, und warf die Sinne aus, um herauszufinden, ob sie eine Hexe war. Ich spürte nichts dergleichen. »Gehört sie Wicca an?«, fragte ich so, dass nur Hunter mich hören konnte.

Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist es bloß ein Dutch-Hex-Entwurf aus Pennsylvania. Aber schön.«

»Wunderschön.« Noch einmal strich ich mit den Fingern behutsam über den Baumwollstoff.

Im nächsten Moment zog Hunter auch schon seine Geldbörse heraus und zählte der Frau die Scheine in die Hand. Sie bedankte sich lächelnd bei ihm und wickelte den kleinen Quilt, kaum größer als ein Meter zwanzig im Quadrat, in Seidenpapier, bevor sie ihn in eine braune Papiertüte steckte.

Dann gingen wir zurück zum Auto. »Der ist wirklich schön«, sagte ich. »Freut mich, dass du ihn gekauft hast. Wo willst du ihn hintun?«

Wir setzten uns ins Auto und er wandte sich mir zu und reichte mir die Papiertüte. »Er ist für dich«, sagte er. »Ich habe ihn für dich gekauft.«

Die Luft um uns herum knisterte, und ich fragte mich, ob es Magie war oder schiere Anziehungskraft oder etwas anderes. Ich nahm die Tüte und fuhr mit der Hand hinein, um über die kühlen Falten des Quilts zu streichen. »Bist du dir sicher?« Ich wusste, dass weder er noch Sky besonders viel verdienten – dieser Quilt hatte ein Riesenloch in seine Geldbörse gerissen.

»Ja«, sagte er, »ganz sicher.«

»Danke«, sagte ich leise.

Er startete den Motor, und wir schwiegen, bis er mich zu Hause absetzte. Als ich ausstieg, war ich wieder ganz unsicher. Er stieg ebenfalls aus und kam um das Auto herum auf den Gehweg, und dann küsste er mich, wobei sich unsere Lippen zart und schnell berührten. Dann setzte er sich wieder in Skys Auto und fuhr davon, bevor ich Auf Wiedersehen sagen konnte.