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Schleuderkurs

7. August 1968, San Francisco

Ich habe Patricks Sachen zusammengepackt. Letzte Woche haben wir einen Gedenkgottesdienst für ihn gefeiert – alle Mitglieder von Catspaw waren da und einige Leute von Waterwind. Ich kann nicht glauben, dass er von uns gegangen ist. Manchmal bin ich davon überzeugt, dass er gar nicht fort ist, dass er gleich die Treppe hochkommt, dass er mich gleich ruft und durch die Tür tritt, ein neues Buch in der Hand, einen neuen Fund.

Meine Freundin Nancy hat mich gefragt, ob es mich gestört hat, dass er fast vierzig Jahre älter war als ich. Nein, nie. Er war ein schöner Mann, das Alter spielte keine Rolle. Aber vor allem hat er mich geliebt und sein Wissen mit mir geteilt, er hat mich alles lernen lassen, was ich konnte. Meine magischen Kräfte sind jetzt zehnmal stärker als zu dem Zeitpunkt, da wir uns kennengelernt haben.

Und jetzt ist er fort. Das Haus gehört mir, all seine Besitztümer sind mein. Ich sehe seine Bücher durch und stoße auf viele, von denen ich gar nicht wusste, dass er sie besaß. Bücher, die Hunderte von Jahren alt sind und die ich nicht einmal entziffern kann. Bücher, die in Chiffre geschrieben sind. Mit magischen Sprüchen belegte Bücher, die ich nicht öffnen kann. Bei denen werde ich Stella um Hilfe bitten. Seit sie Catspaw leitet, ist mein Vertrauen in sie immer weiter gewachsen.

Seit Patrick nicht mehr hier ist und mich ablenkt, werden mir so viele Dinge klarer. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er hat manchmal schwarze Magie gewirkt. Ich glaube, einige von den Leuten, die hergekommen sind, haben mit der Dunkelheit gearbeitet. Damals habe ich sie kaum beachtet. Jetzt glaube ich, dass Patrick mich öfter mal mit einem magischen Spruch belegt hat, damit ich nicht zu viele Fragen stellte. In gewisser Weise verstehe ich das, aber ich wünschte, er hätte darauf vertraut, dass ich akzeptiere, was er tut, und es nicht automatisch missbillige.

Ein Buch habe ich aufbekommen, indem ich den Verschwiegenheitsbann mit einem magischen Gegenspruch, für den ich fast zwei Stunden brauchte, gebrochen habe. In dem Buch stieß ich auf Dinge, die Patrick mir nie gezeigt hat: magische Sprüche, um Tiere anzurufen, Sprüche, um die eigene Energie zu transferieren, Sprüche, um aus großer Ferne Veränderungen zu bewirken. Keine schwarze Magie an sich, aber trotzdem verboten; der Rat sagt, magische Sprüche, mit denen man manipulieren kann, sollten niemals leichtfertig gewirkt werden. Kein Mitglied von Catspaw würde so ein Buch anfassen, obwohl wir alle Woodbanes sind. Ich schon. Warum sollte ich nicht alles lernen, was es zu lernen gibt? Wenn das Wissen existiert, warum sollte ich mich davor verschließen?

Dieses Buch gehört jetzt mir. Und ich werde es studieren.

SB

Wenn man nachts allein mit jemandem im Auto sitzt, bekommt man leicht das Gefühl, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Ich hatte das vor drei Wochen so empfunden, als Cal mich entführt und mit einem magischen Spruch belegt hatte, damit ich mich nicht rühren konnte, und er mich zu sich nach Hause fuhr. In dieser Nacht allein in dem Auto mit Cal war es unaussprechlich schlimm gewesen: schiere Panik, Angst, Wut, Verzweiflung.

Heute Nacht mit Hunter neben mir fühlte es sich ganz anders an. Als klar geworden war, dass er womöglich eine Weile in Widow’s Vale bleiben würde, hatte er sich einen winzigen, ramponierten Honda gekauft und den Mietwagen, den er bis dahin gefahren hatte, wieder abgegeben. In dem engen Innenraum war es gemütlich, vertraulich.

»Danke, dass du uns dabei unterstützt hast, die Hexenzirkel zusammenzulegen«, sagte er in die Stille hinein.

»Ich finde, es ist eine gute Idee. Mir ist es lieber, ich weiß, wo alle sind und was sie so treiben.«

Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Das ist hart«, sagte er. »Ich hoffe, du kannst anderen Menschen bald wieder vertrauen.«

Ich bemühte mich, bei dem Gedanken nicht zusammenzuzucken. Ich hatte Cal vertraut und es hatte mich beinahe das Leben gekostet. Ich hatte David vertraut, und auch bei ihm hatte sich herausgestellt, dass er eine dunkle Seite hatte. Was hatte ich an mir, dass ich so blind war für das Böse? War das mein Woodbane-Blut?

Und doch …

»Ich vertraue dir«, sagte ich wahrheitsgemäß, auch wenn mir nicht wohl bei dem Gedanken war, wie verwundbar ich mich damit machte.

Hunter sah mich an, seine Augen eine unergründliche Schattierung von Grau im Dunkeln. Ohne ein Wort zu sagen streckte er die Hand aus und nahm die meine. Seine Haut war kühl und meine Finger strichen über eine Narbe in seiner Handfläche. Mit ihm Händchen zu halten kam mir gewagt und irgendwie seltsam vor. Mit Cal Händchen zu halten war ganz natürlich und schön gewesen.

Ich war siebzehn und hatte erst einen Freund gehabt. Seit jenem bemerkenswerten Kuss wusste ich, dass da etwas war zwischen Hunter und mir, doch er war nicht mein Freund, und wir hatten noch kein offizielles Date gehabt.

Ich atmete tief durch, damit mein Puls sich beruhigen konnte. »Ich weiß, dass es bei Magie allein darum geht, Klarheit zu erlangen«, sagte ich. »Aber ich bin so durcheinander.«

»Ja, bei der Magie geht es um Klarheit«, pflichtete Hunter mir bei. »Aber Menschen sind nicht klar. Magie ist vollkommen, Menschen sind unvollkommen. Wenn man Menschen und Magie zusammenbringt, gibt es zwangsläufig manchmal Unklarheiten. Wie ist es denn, wenn du mit deiner Magie allein bist?«

Ich dachte daran, wie es war, magische Sprüche zu wirken, allein ein Kreisritual zu machen, mit Feuer wahrzusagen, die magischen Werkzeuge meiner leiblichen Mutter zu benutzen. »Es fühlt sich an wie der Himmel«, sagte ich leise. »Absolut vollkommen.«

»Na also«, sagte Hunter, drückte meine Hand und lenkte mit der anderen Hand den Wagen. Die Scheinwerfer durchschnitten die Nacht auf dieser kurvenreichen Straße, die in Richtung der Innenstadt von Widow’s Vale führte. »Das ist reine Magie und nur du selbst. Doch sobald andere Menschen hinzukommen – besonders wenn sie selbst nicht besonders klar sind –, entsteht ein Durcheinander.«

»Es ist nicht nur die Magie«, sagte ich, während ich aus dem Fenster sah und mich bemühte, das aufregende Gefühl von seiner Hand auf meiner zu ignorieren. Ich wusste nicht, wie ich es formulieren sollte – obwohl ich zwei Monate mit Cal zusammen gewesen war, war ich, was dieses Junge-Mädchen-Ding anging, noch ein relativer Neuling. Ich glaubte, dass Hunter mich mochte, und ich glaubte, dass ich ihn mochte. Aber es war so anders mit ihm. Cal hatte mich mit einer Offensichtlichkeit und Beharrlichkeit umworben. Was für ein Mensch war ich, dass ich jetzt auf Hunter stand und ihn attraktiv fand, wo ich mir erst vor ein paar Wochen eingebildet hatte, unsterblich in Cal verliebt zu sein? Doch hier war Hunter, hielt meine Hand und fuhr mich nach Hause – vielleicht würde er mich nachher sogar küssen. Ein leichter Schauder lief mir den Rücken hinunter.

Hunter bog um eine enge Kurve, sodass ich mich leicht gegen ihn lehnte. Dann löste er seine Hand von meiner und legte sie aufs Lenkrad.

»Wow«, überspielte ich meine Enttäuschung. »War wohl ein bisschen schnell, was?«

»Ich kann nichts dagegen machen«, sagte er mit seinem spröden englischen Akzent. »Die Bremsen scheinen nicht zu funktionieren.«

»Was?« Verdutzt schaute ich zu ihm rüber und sah, dass er die Zähne fest zusammenbiss und sein Gesicht ganz angespannt war vor Konzentration.

»Die Bremsen funktionieren nicht«, wiederholte er, und meine Augen wurden ganz groß, als ich kapierte, was er da sagte.

Erschrocken sah ich nach vorn … Wir fuhren bergab auf den kurvenreichsten Abschnitt der Straße zu, wo die Schilder eine Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern empfahlen. Der Tacho zeigte achtzig an.

Mein Herz klopfte laut. »Mist. Runterschalten?«, fragte ich leise, weil ich ihn nicht ablenken wollte.

»Ja. Aber ich will auf keinen Fall, dass wir ins Rutschen geraten. Ich könnte den Motor ausmachen.«

»Dann kannst du nicht mehr lenken«, murmelte ich.

»Ja«, meinte er grimmig.

Die Zeit schien plötzlich langsamer zu vergehen. Die Fakten – die Straße war vereist, wir waren angeschnallt, das Auto war klein und würde bei einem Aufprall zerknautscht werden wie eine Konservendose, mein Herz schlug wild gegen meine Rippen, das Blut rann durch meine Adern wie Eiswasser –, all diese Dinge erfasste ich, während Hunter gewaltsam herunterschaltete und der Motor bockte und stöhnte. Das ganze Auto bebte. Ich hielt mich am Türgriff fest und drückte den Fuß auf ein nicht existierendes Bremspedal am Boden. Ich bin zu jung, um zu sterben, dachte ich. Ich will nicht sterben.

Wir fuhren jetzt im dritten Gang mit gut sechzig Stundenkilometern bergab. Der Motor jaulte, kämpfte vergeblich gegen die Schwerkraft und die Trägheit an, die das Auto weiterbewegten. Und dann nahmen wir wieder Fahrt auf. Ich schaute zu Hunter, wagte kaum zu atmen. Sein Gesicht war bleich im trüben Licht des Armaturenbretts, als wäre es aus Elfenbein geschnitzt. Ich hörte das Quietschen der Reifen und spürte den übelkeiterregenden Ruck des Autos, als wir um die nächste Kurve schlitterten und dann um noch eine.

Hunter schaltete noch einmal runter und das ganze Auto machte einen Satz und gab ein ungehaltenes Schnarren von sich. Ich schlug mit dem Rücken gegen den Sitz, und das Auto schien seitwärts zu tänzeln, wie ein Pferd, das sich erschrocken hat. Hunter griff nach der Handbremse und zog sie langsam an. Ich merkte keine Veränderung. Dann zog Hunter sie mit einem Ruck ganz hoch, und das Auto bockte wieder, brach seitlich aus und rutschte auf einen von Bäumen gesäumten Graben zu. Wenn wir jetzt ins Schlingern kamen, würden wir zerdrückt werden. Ich hörte ganz auf zu atmen und saß wie erstarrt da.

Hunter schaltete in den ersten Gang und lenkte gleichzeitig gegen, sodass wir mitten auf der Picketts Road einen endlosen, halb kontrollierten Schleudertanz aufs Parkett legten. Hunter ließ das Auto hin und her rutschen, und als wir genug Fahrt verloren hatten, machte er den Motor aus. Das Lenkrad blockierte, doch das war in Ordnung – wir hatten immer noch Schwung genug. Schließlich kamen wir scharrend und lärmend am Straßenrand zum Stehen, keine fünfzehn Zentimeter vor einer riesigen, knorrigen Platane, die uns plattgedrückt hätte, wenn wir dagegen geknallt wären.

Nach dem Knirschen und Jaulen des gequälten Motors und dem Quietschen der Reifen war in der Stille der Nacht jetzt nur noch unser flaches Keuchen zu hören. Ich schluckte schwer und hatte das Gefühl, der Sicherheitsgurt war das Einzige, was mich aufrecht hielt. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich Hunter an.

»Alles okay?«, fragte er mit zittriger Stimme.

Ich nickte. »Und du?«

»Ja. Aber das hätte böse enden können.«

»Du hast einen Hang zu untertreiben«, sagte ich schwach. »Das war böse und es hätte tödlich enden können. Was ist mit den Bremsen los?«

»Gute Frage«, sagte Hunter und spähte durch das Fenster in den dunklen Wald.

Ich sah mich ebenfalls um. »Wir sind in der Nähe der Riverdale Road«, sagte ich, denn ich erkannte die Kurve. »Knapp zweieinhalb Kilometer von zu Hause. Gar nicht weit von hier habe ich mein Auto in den Graben gefahren.«

Hunter löste seinen Sicherheitsgurt. »Können wir zu Fuß zu dir gehen?«

»Klar.«

Hunter schloss das Auto ab, das so ordentlich und still am Straßenrand stand, als wären wir nicht um ein Haar darin umgekommen. Wir machten uns auf den Weg, und ich schwieg, weil ich spürte, dass Hunter die Sinne auswarf. Er wollte wohl nachschauen, ob in der Nähe jemand war. Und dann traf es mich wie ein Schlag: Er war nicht davon überzeugt, dass das Versagen der Bremsen ein Unfall gewesen war.

Ohne lange zu überlegen, warf ich ebenfalls meine Sinne aus wie ein Netz, bis sie den Wald durchdrangen, die Nachtluft, das welke Gras unter dem Schnee.

Doch ich spürte nichts Ungewöhnliches. Hunter anscheinend auch nicht, denn seine Schultern entspannten sich, und er verlangsamte seine Schritte. Er blieb stehen, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich an.

»Geht es dir auch wirklich gut?«, fragte er leise.

»Ja.« Ich nickte. »Es hat mir nur Angst eingejagt, das ist alles.« Ich schluckte, ehe ich weiterredete. »Glaubst du, der Abschnitt der Straße ist mit einem magischen Spruch belegt? Ist doch auffällig, dass es so nah an der Stelle passiert ist, wo ich mit dem Auto ins Schlittern geraten bin. Und Selene …«

»Ist nicht in der Nähe. Wir überprüfen das jeden Tag. Sie ist fort«, sagte Hunter. Selene Belltower war Cals Mutter. Sie hatte ihn beauftragt, sich an mich ranzumachen, weil sie mich mit meinem Woodbane-Erbe, meinen magischen Kräften und den Woodbane-Werkzeugen meiner Mutter unter ihre Kontrolle bringen wollte. Da ihr das nicht gelang, wollte sie mich umbringen und aus dem Weg schaffen. Obwohl sie vor Wochen aus Widow’s Vale geflohen war, fing mein Puls immer noch an zu rasen, sobald ich an sie dachte.

»Als du in den Graben gerutscht bist, hattest du doch das Gefühl, Scheinwerfer hinter dir zu haben, nicht wahr?«, fuhr Hunter fort. »Und du hast Magie gespürt, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Das hier war rein mechanisch … die Bremsen haben einfach nicht reagiert. Ich rufe von dir zu Hause einen Abschleppdienst an, wenn das okay ist.«

»Klar«, sagte ich und atmete ein paar Mal tief durch, um die Muskeln zu lösen, die immer noch verknotet waren vor Angst. »Und danach bringe ich dich nach Hause.«

»Danke.« Er zögerte, und ich überlegte, ob er mich jetzt küssen würde. Doch er richtete sich wieder auf, nahm die Hände fort und wir gingen weiter.

Die Kälte beschleunigte unsere Schritte, und an irgendeinem Punkt nahm Hunter meine Hand und schob sie mit seiner in seine Tasche. Seine Haut zu spüren war einfach toll, und ich wünschte mir, ich könnte unter dem Mantel die Arme um ihn schlingen. Doch ich war immer noch befangen in seiner Gegenwart – ausgeschlossen, dass ich so wagemutig war.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, wandte Hunter sich mir im Gehen halb zu und sah mich an. Ich wurde rot, senkte den Kopf und ging noch schneller. Ich war erleichtert, als wir in meine Straße bogen.

Meine Eltern und meine vierzehnjährige Schwester Mary K. sahen sich im Wohnzimmer einen Film an, als wir nach Hause kamen. Hunter erklärte ihnen vage, er habe »ein paar Probleme mit dem Auto« gehabt, und sie waren bestürzt und redeten durcheinander, während er den Abschleppdienst anrief. Als er auflegte, schaute ich auf die Uhr – es war kurz nach elf.

»Mom, ist es okay, wenn ich Hunter zu seinem Wagen fahre und ihn dann nach Hause bringe?«, fragte ich.

Meine Mutter und mein Vater kommunizierten wie gewohnt auf Elternart, das heißt stumm, miteinander und meine Mutter nickte. »Ja, sicher. Aber fahr bitte besonders vorsichtig. Ich weiß nicht, was das ist mit dir und Autos, Morgan, aber so langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen, wenn du unterwegs bist.«

Ich nickte. Mich überkamen leichte Schuldgefühle, denn meine Eltern wussten nicht mal die Hälfte. Vor drei Wochen hatten Bree und Robbie mir das Leben gerettet. Leider hatte Robbie dazu mit meinem Auto durch die Außenwand von Cals brennendem Poolhaus brettern müssen, in dem Cal mich eingesperrt hatte. Meine Eltern (die dachten, ich wäre gegen einen Laternenpfosten gefahren) hatten mir das Geld für die Reparatur der Stoßstange und der Motorhaube vorgestreckt.

»Okay«, meinte ich, und Hunter und ich zogen wieder unsere Mäntel an und gingen raus zu Das Boot, meinem riesigen, U-Boot-ähnlichen Plymouth Valiant, Baujahr ’71. Als mein Blick über die neu glänzende vordere Stoßstange streifte, die schieferblaue Motorhaube und die grau gefleckten Flanken, zuckte ich automatisch zusammen. Ich musste Das Boot wirklich bald lackieren lassen, dieser Regenbogenlook brachte mich noch um.

Innen drin im Auto war es eiskalt und die altmodischen Vinylsitze wärmten nicht besonders gut. Schweigend fuhr ich uns zurück zu Hunters Auto, um auf den Abschleppdienst zu warten. Hunter schien tief in Gedanken zu sein.

Nach nur einer Minute kam der einzige Abschleppwagen von Widow’s Vale in Sicht. Ich hatte John Mitchell erst vor ein paar Wochen gesehen, als ich Das Boot in den Graben gesetzt hatte. Er warf mir einen kurzen Blick zu, als er sich bückte, um die Zugkette an Hunters Auto festzuhaken.

»Die Bremsen haben versagt«, erklärte Hunter, als John sich daran machte, das Auto auf den Abschleppwagen zu ziehen.

»Hmm«, meinte John und beugte sich unters Auto, um rasch einen Blick darauf zu werfen. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er: »Auf den ersten Blick ist nichts zu sehen.« Er spuckte in den Straßengraben. »Abgesehen davon, dass Sie wohl keine Bremsflüssigkeit mehr haben.«

»Ehrlich?«, sagte Hunter und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja«, antwortete John fast ein wenig gelangweilt. Er reichte Hunter ein Klemmbrett mit einem Formular, das er unterzeichnen sollte. »Wie auch immer, ich bringe den Wagen zu Bob Unser, der kann sich darum kümmern.«

»Okay«, sagte Hunter und rieb sich das Kinn.

Wir stiegen wieder in Das Boot und sahen zu, wie der Abschleppwagen mit Hunters Auto davonfuhr. Ich machte den Motor an und fuhr in Richtung Stadtrand, wo das kleine Haus lag, in dem Hunter und Sky wohnten. »Keine Bremsflüssigkeit«, sagte ich. »Kann so was von selbst passieren?«

»Ja schon, es kommt mir aber sehr unwahrscheinlich vor. Ich habe das Auto erst letzte Woche, als ich es gekauft habe, checken lassen«, sagte Hunter. »Wenn da was undicht gewesen wäre, hätte der Automechaniker es merken müssen.«

Angst überkam mich. »Was glaubst du dann, was es war?«, fragte ich.

»Ich glaube, wir brauchen dringend ein paar Antworten«, sagte Hunter und schaute nachdenklich aus dem Fenster.

Zehn Minuten später hielt ich vor dem schäbigen Mietshaus. Ravens ramponierter schwarzer Peugeot stand am Straßenrand.

»Läuft es gut zwischen Raven und Sky?«, fragte ich.

»Ich glaube schon«, antwortete Hunter. »Sie verbringen viel Zeit miteinander. Ich weiß, dass Sky ein großes Mädchen ist, aber natürlich mache ich mir Sorgen, sie könnte verletzt werden.«

Dass er mir diese fürsorgliche Seite von sich zeigte, gefiel mir. Ich sah ihn an. »Ich wusste nicht mal, dass Sky lesbisch ist, bis wir unser tàth meanma gemacht haben.« Vor ein paar Wochen hatten Sky und ich eine geistige Verschmelzung gemacht, und als unsere Gedanken miteinander verwoben waren, hatte ich überrascht gesehen, dass sie sich sehr zu Raven hingezogen fühlte, der obercoolen Goth-Queen von Widow’s Vale.

»Ich weiß nicht, ob Sky wirklich lesbisch ist«, sagte Hunter nachdenklich. »Sie hatte auch schon Beziehungen zu Männern. Ich glaube, sie liebt, wen sie liebt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Ich nickte. Ich hatte die Zehen gerade mal in einfache heterosexuelle Beziehungen getunkt – alles, was darüber hinausging, schien mir viel zu kompliziert, um es überhaupt zu erwägen.

»Wie auch immer«, meinte Hunter, öffnete die Beifahrertür und ließ die kalte Nachtluft herein, »bitte fahr auf dem Heimweg sehr vorsichtig. Hast du ein Handy?«

»Nein.«

»Dann schick mir eine magische Botschaft«, sagte er. »Wenn etwas passiert, was dir auch nur im Geringsten seltsam vorkommt, dann schick mir eine Nachricht, und ich komme sofort. Versprochen?«

»Okay.«

Hunter hielt inne. »Vielleicht sollte ich mir Skys Auto borgen und dir nach Hause folgen.«

Ich verdrehte die Augen, denn ich wollte nicht zugeben, dass ich ein bisschen Angst vor der einsamen Fahrt nach Hause hatte. »Ich komme schon klar.«

Er kniff die Augen zusammen. »Nein, lass mich schnell Skys Schlüssel holen.«

»Würdest du bitte damit aufhören? Ich bin diese Straßen schon eine Million Mal gefahren. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche, aber ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.«

Er lehnte sich zurück und zog die Tür wieder zu. Die Innenbeleuchtung erlosch.

»Du bist unglaublich stur«, sagte er im Plauderton.

Ich wusste, dass er es gut meinte, also verkniff ich mir eine scharfe Erwiderung. »Ich bin halt … sehr selbstständig«, sagte ich unsicher. »Ich war schon immer so. Ich möchte bei niemandem in der Schuld stehen.«

Er sah mich an. »Weil du Angst hast, der andere enttäuscht dich?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich vermute zum Teil. Ich weiß nicht.« Ich sah aus dem Fenster. Dieses Gespräch war überhaupt nicht nach meinem Geschmack.

»Hör zu«, sagte er ruhig, »ich weiß nicht, was mit dem Auto passiert ist. Wir glauben nicht, dass Cal und Selene noch in der Nähe sind, aber wir wissen nicht mit Sicherheit, wo sie sind und was sie tun. Du könntest wirklich in Gefahr sein.«

Was er sagte, war wahr, doch ich zögerte, ihm in dem Punkt recht zu geben. »Ich komme schon klar«, sagte ich, auch wenn ich wusste, dass ich sinnlos stur war und es nicht ändern konnte.

Hunter seufzte ungeduldig. »Morgan, ich …«

»Ehrlich, ich komme zurecht. Und jetzt hör auf mit dem Theater und lass mich nach Hause fahren.« War ich Cal gegenüber je so direkt gewesen? Ich hatte unbedingt gewollt, dass Cal mich attraktiv fand, ich hatte das Gefühl gehabt, so gar nicht dem Bild des Mädchens zu entsprechen, auf das er abfahren würde. Und deswegen hatte ich mich bemüht, ihm zu gefallen, so dumm und unbeholfen meine Versuche auch gewesen waren. Bei Hunter hatte ich mir nie die geringste Mühe gegeben. Es war sehr befreiend, einfach zu sagen, was mir in den Sinn kam, und mir keinen abbrechen zu müssen, um ihn zu beeindrucken.

Wir sahen einander an, die Situation war ausweglos. Unwillkürlich verglich ich sein Aussehen mit dem von Cal. Cal war golden gewesen, exotisch und unglaublich sexy. Hunter dagegen war eher klassisch, wie eine griechische Statue, mit starken Konturen. Seine Schönheit war eher kühl. Doch als ich ihn so betrachtete, wuchs in mir der Wunsch, ihn zu berühren, zu küssen und zu halten, und beinahe konnte ich mich nicht mehr beherrschen.

Er rutschte auf seinem Sitz herum, und ich zuckte fast ein wenig zusammen, als er die Hand hob und mir über die Wange strich. Diese eine Berührung genügte, um mich zu verzaubern, und ich saß ganz still da.

»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich habe Angst um dich. Ich will nicht, dass dir was passiert.« Er lächelte mich schief an. »Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mir Sorgen um dich mache.«

Langsam beugte er sich vor, und sein Kopf schob sich vor den Mond, der durch die Windschutzscheibe schien. Ganz behutsam berührten seine warmen Lippen die meinen und dann küssten wir uns leidenschaftlich und ich war in kürzester Zeit absolut high. Als er sich zurückzog, atmeten wir beide in schnellen Stößen. Er öffnete noch einmal die Tür und ich blinzelte im grellen Licht der Innenraumbeleuchtung. Er schüttelte den Kopf, wie um wieder klar denken zu können, und es hatte ihm anscheinend die Sprache verschlagen. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und blickte durch die Windschutzscheibe, denn ich konnte ihm unmöglich in die Augen sehen.

»Wir reden morgen weiter«, sagte er leise. »Fahr vorsichtig.«

»Okay«, brachte ich heraus und sah ihm hinterher, wie er die vordere Veranda betrat. Am liebsten hätte ich ihn zurückgerufen, die Arme um ihn geschlungen und mich an ihn geschmiegt. Da drehte er sich um, und ich fragte mich voller Verlegenheit, ob er etwa meine Gefühle gespürt hatte. Ich trat aufs Gaspedal und fuhr davon.

Bei Hexen weiß man nie.