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Offen
13. Dezember 1977
Die Geheimnisse von Amyranth können den Geheimnissen der Liebe nicht das Wasser reichen: Was hat Daniel Niall an sich, dass er mich so verrückt macht? Hat er mich mit einem magischen Spruch belegt, damit ich ihn liebe? Nein, das ist lächerlich. So etwas würde der edle, ehrliche Daniel niemals tun. Nein, ich liebe ihn um seiner Selbst willen, und das ist so untypisch für mich, dass ich nicht aufhören kann, mich darüber zu wundern.
Warum ist er so unwiderstehlich? Worin unterscheidet er sich von anderen Männern, mit denen ich zusammen war? Wie alle anderen Männer konnte er mir nicht widerstehen – kein Mann hat je Nein zu mir gesagt und Daniel ist da keine Ausnahme. Und doch spüre ich eine innere Mauer, die ich nicht durchdringen kann. Er hat etwas an sich, das unberührt geblieben ist von meiner Liebe, meiner Macht, meiner Schönheit. Was ist es?
Ich weiß, dass er mich liebt, und ich weiß auch, dass er sich wünscht, er täte es nicht. Ich genieße es, wenn ich ihm demonstrieren kann, wie sehr er mich will. Ich ergötze mich daran, ihn dabei zu beobachten, wie er mir zu widerstehen versucht, was ihm aber nicht gelingt. Und dann belohne ich ihn für seine Willfährigkeit. Doch was hält er zurück?
Wie auch immer, Daniel arbeitet hier und da an verschiedenen Studien – er ist sehr akademisch; er will alles verstehen, die Geschichte von allem kennen. Eine richtige Bücherhexe. Seine Studien führen ihn oft von mir fort. Was gut ist, denn wenn er hier ist, habe ich wenig Zeit für Amyranth. Ich mache inzwischen immer mehr mit der Gruppe und immer weniger mit Turneval. Die Ungenannten Älteren haben angefangen, mich in die tiefere Magie von Amyranth einzuweisen, und das ist kräftezehrender und aufregender als alles, was ich mir je vorstellen konnte. Ich verliere mich darin, werde trunken davon, tauche ganz darin ein – und das Einzige, was mich herausholt, ist die Gelegenheit, Zeit mit Daniel zu verbringen. Darüber muss ich lachen.
– SB
In der Nacht habe ich geträumt, Selene nähme die Gestalt eines riesigen Vogels an und schnappte mich vom Schulsportplatz, wo ich lächerlicherweise mit Hunter, Bree und Robbie Hockey spielte. Sie standen auf dem Rasen und wedelten hilflos mit den Hockeyschlägern, und ich sah sie immer kleiner werden, als Selene mich forttrug. Sie brachte mich zu einem riesigen Nest hoch oben auf einem Berggipfel, und ich schaute hinunter und sah Cal in dem Nest. Vor meinen Augen verwandelte er sich in einen kleinen Vogel, schaute zu mir hoch und riss seinen scharfen Raubtierschnabel weit auf, um mich zu verschlingen. Da wachte ich schweißgebadet auf und es war Morgen.
Den ganzen Vormittag über gab ich mir Mühe, nicht an Cal zu denken. Drei Mal erwischte ich mich dabei, wie ich zum Hörer griff, um Hunter anzurufen, und drei Mal legte ich das schnurlose Telefon wieder in die Station. Ich war uneins mit mir, was ich ihm sagen sollte.
»Was ist los, Morgan?«, fragte meine Mutter, als ich zum vierten Mal durch die Küche schlich. »Du kommst mir so rastlos vor.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mal ein bisschen durch die Gegend fahren oder so.«
Ich schnappte mir meinen Mantel und meinen Autoschlüssel und ging raus zu Das Boot, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wohin ich wollte. Da kribbelten meine Sinne, und ich wusste, dass Hunter in der Nähe war. Freude und Schreck überkamen mich, als ich sah, dass er vor unserem Haus vorfuhr.
Ich ging zu seinem Auto, gab mich bewusst ruhig und normal. Er kurbelte das Fenster herunter und sah mich an.
»Wir müssen reden. Kann ich dich irgendwo hinfahren?«, fragte er.
»Ähm … ich wollte gerade ein bisschen spazierenfahren«, murmelte ich. »Aber ich wusste nicht so genau, wohin.«
»Wie wäre es mit Red Kill?«, schlug er vor. »Ich bräuchte ein paar ätherische Öle von Practical Magick. Und du musst mit Alyce reden.«
Also stieg ich in seinen Wagen und wir fuhren los.
»Heute Morgen haben Sky und ich uns die Holzstützen der Veranda noch einmal genauer angesehen«, sagte Hunter unterwegs. »Sie wurden definitiv angesägt und ich konnte keine Spuren von Magie entdecken.«
»Und, was hältst du davon?«
»Ich weiß nicht«, sagte er und tippte mit den Fingern aufs Lenkrad.
Hatte Cal das getan?, überlegte ich. Hatte er versucht, Hunter und mich zusammen umzubringen? Hatte er auch Hunters Bremsleitungen durchtrennt? Aber warum sollte er dafür keine Magie verwenden? War ich die letzte Idiotin, weil ich Hunter nicht erzählte, dass ich Cal gesehen hatte? Ich war so was von durcheinander.
Alyce lud uns in ihre kleine Wohnung zum Mittagessen ein. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich Hunger hatte, bis mir der köstliche Schmortopfgeruch, der durch die Räume zog, in die Nase stieg. Hunter und ich stürzten uns darauf und Alyce sah uns lächelnd zu. Sie saß mit uns am Tisch, doch sie aß nichts, sondern trank nur einen Becher Tee.
»Ich habe über deine Bitte, tàth meànma brach mit dir zu machen, nachgedacht«, sagte sie, als ich mir eine zweite Scheibe Brot nahm. »Das ist eine ernste Sache und ich habe es mir gründlich durch den Kopf gehen lassen.«
Ich nickte, bei ihrem ernsten Tonfall verließ mich der Mut. Sie würde Nein sagen. Ich sah, dass sie und Hunter einen Blick tauschten, und mein Appetit war dahin.
»Du weißt, dass es sehr schwierig sein kann«, fuhr Alyce fort. »Es wäre sehr kräftezehrend, körperlich wie emotional, für uns beide.«
Ich nickte. Es war einfach zu viel verlangt.
»Aber ich verstehe, warum du es machen willst und warum du mich gefragt hast. Ich verstehe auch, warum Hunter es für eine gute Idee hält«, sagte Alyce. »Und ich stimme dem zu. Ich glaube, dass Selenes Gruppe dich im Visier hat, und ich denke, du brauchst mehr Schutz, als andere dir geben können. Der beste Schutz kommt aus dir selbst heraus, und wenn du geistig mit mir verschmilzt und lernst, was ich weiß, bist du sehr viel stärker und viel eher in der Lage, dich zu wehren.«
Ich sah sie voller Hoffnung an. »Heißt das …«
»Du musst dich vorher von möglichst vielen geistigen Ablenkungen frei machen«, sagte Alyce freundlich. »Außerdem musst du dich einigen rituellen Vorbereitungen unterziehen. Hunter und Sky können dir dabei helfen. Lass es uns bald machen – je früher, desto besser. Morgen Abend.«
Auf dem Heimweg in Hunters Auto konnte ich kaum still sitzen. Die Vorstellung, Alyce’ ganzes umfassendes Wissen an einem Tag in mich aufnehmen zu können, war beglückend und nervenaufreibend zugleich.
»Danke, dass du für mich mit Alyce gesprochen hast«, sagte ich, »und ihr zugeredet hast, das tàth meànma brach mit mir zu machen.«
»Es war ihre Entscheidung.« Er klang distanziert, und ich war frustiert darüber, wie es zwischen uns war. Zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, dass Hunter und ich uns sehr ähnlich waren. Deswegen gerieten wir auch so oft aneinander. Mit Cal war alles klar gewesen, leicht … Er war der Jäger gewesen und ich die Gejagte, und bei meiner Schüchternheit und Unsicherheit hatte das gut funktioniert. Doch bei Hunter und mir war es so, dass jeder sich damit wohler fühlen würde, wenn der andere die Führung übernähme. Ich konnte wohl annehmen, dass es einen Grund dafür gab, dass wir uns geküsst hatten, und nicht nur ein- oder zweimal. Hunter war nicht der Typ, der so was einfach so machte, und ich auch nicht. Also, was machten wir hier eigentlich? Waren wir dabei, uns zu verlieben?
Ich muss etwas riskieren, ging mir in einem Geistesblitz auf. Wenn ich wollte, dass das mit uns was wurde, musste ich mich ihm öffnen und darauf vertrauen, dass er nicht vorhatte, mir wehzutun. Und ich wollte, dass das mit uns was wurde.
Aber vorher … vorher musste ich ihm von Cal erzählen. Es stand als zu großes Geheimnis zwischen uns. Und es war nicht richtig, dass ich es ihm verschwieg. Für Hunter war Cal eine genauso große Bedrohung wie für mich, wenn nicht sogar eine größere. Ich musste es ihm erzählen und hoffen, dass seine aufbrausenden Gefühle nicht stärker waren als sein gesunder Menschenverstand.
Ich schluckte schwer. Tu’s!, sagte ich mir. Tu’s!
»Ich habe gestern Abend Cal gesehen«, sagte ich leise.
Hunter erstarrte und umklammerte mit den Händen das Lenkrad. Er blickte rasch nach rechts und links und lenkte das Auto dann auf einen Feldweg, den ich nicht einmal gesehen hatte. Wir holperten über Steine und gefrorenen Matsch, bevor wir rund sechs Meter von der Straße weg zum Stehen kamen.
»Wann?« Hunter machte den Motor aus und sah mich an. Er löste seinen Sicherheitsgurt und beugte sich vor. »Wann?«, wiederholte er. »War das, als ich dich auf der Straße gesehen habe?«
»Ja«, gestand ich. »Was ich gesehen habe, war kein Reh. Es war Cal. Er stand auf der Straße und hielt die Hand hoch und da ging mein Auto aus.«
»Was ist passiert? Was hat er mit dir gemacht?«
»Nichts. Wir haben nur geredet«, sagte ich. »Er hat gesagt, er wäre nach Widow’s Vale zurückgekommen, um mit mir zusammen zu sein. Er hat gesagt, er hätte mit Selene gebrochen.«
»Und so einen Mist hast du ihm geglaubt?«, fuhr Hunter mich an. Seine Augen loderten.
Ich reckte das Kinn hoch. »Ja.« Bei seinem verächtlichen Tonfall fühlte ich mich klein, gekränkt. »Ich habe tàth meànma mit ihm gemacht. Er sagt die Wahrheit.«
»Göttin.« Hunter spuckte das Wort förmlich aus. »Wie kannst du nur so verdammt dämlich sein? Du hast schon einmal tàth meànma mit ihm gemacht und trotzdem hat er dich an der Nase herumgeführt.«
»Aber diesmal habe ich es kontrolliert!«, rief ich.
»Das glaubst aber auch nur du. Warum hast du mich angelogen?« Er kniff die Augen zusammen. »Er hat dich doch mit einem magischen Spruch belegt!«
Bei der Erinnerung daran, wie es gewesen war, als Cal mich tatsächlich mit einem magischen Spruch belegt hatte, fing ich an zu zittern. »Nein. Es war nur … Ich hatte dir gerade kurz vorher von seiner magischen Botschaft erzählt, und da bist du völlig ausgeflippt, und ich dachte, wenn ich dir jetzt erzähle, dass er in der Nähe ist, würdet ihr zwei … ihr würdet kämpfen, und allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht.«
»Verdammt richtig, ich bin ausgeflippt!« Hunter hob die Stimme. »Gütiger Himmel, Morgan, wir suchen inzwischen seit drei Wochen nach Selene und Cal! Und ganz plötzlich sagst du: Weißt du was? Ich weiß, wo er ist! Ich meine, was zum Teufel spielst du eigentlich für ein Spiel?«
Ich fand es schrecklich, wie er mich ansah, als würde er daran zweifeln, dass er mir vertrauen konnte – falls er mir je vertraut hatte –, und zu meinem großen Entsetzen fing ich an zu weinen. Ich weinte nicht schnell in Gegenwart anderer, und ich hätte einiges darum gegeben, es verhindern zu können, aber in dem Moment brach alles auf einmal über mir zusammen, und ich knickte ein.
»Ich spiele kein Spiel!«, sagte ich und wischte die Tränen fort. »Ich bin durcheinander, das ist doch menschlich! Ich habe Cal geliebt, und ich will nicht, dass ihr zwei euch gegenseitig umbringt!«
»Du bist aber nicht nur ein Mensch, Morgan«, sagte Hunter. »Du bist eine Hexe. So langsam könntest du dich ein bisschen bemühen, dem gerecht zu werden. Was meinst du damit, du hast Cal geliebt? Was hat denn das damit zu tun? Er wollte dich umbringen! Bist du blöd? Bist du blind?«
»Es war nicht allein seine Schuld!«, schrie ich und sah den lodernden Zorn in Hunters Augen. »Das weißt du ganz genau. Er ist bei Selene aufgewachsen, achtzehn Jahre lang. Was wäre in so einer Situation aus dir geworden?« Ich atmete ein paarmal tief durch, um mich zu beruhigen. »Ich bin nicht blind. Vielleicht bin ich dumm. Hauptsächlich bin ich durcheinander und voller Angst und in Versuchung.«
Er kniff die Augen zusammen und verbiss sich in meine Worte wie eine Schlange in ihre Beute. »In Versuchung? Wodurch? Die dunkle Seite? Oder Cal? Ist es das? Willst du mir sagen, dass du ihn immer noch liebst?«
»Nein! Ja! Hör auf, mir die Worte im Mund umzudrehen! Ich sage doch nur, dass ich ihn geliebt habe und geglaubt habe, er liebte mich, und das habe ich nicht vergessen!«, schrie ich. »Er hat mich in die Magie eingeführt. Er hat mir das Gefühl gegeben, schön zu sein!« Ich hielt schnell den Mund und atmete keuchend.
Drückendes Schweigen legte sich über uns. Ich spürte, dass Hunter sich Mühe gab, seinen Zorn zu bändigen. Was mache ich da bloß?, dachte ich niedergeschlagen.
Dann wurden seine Züge weich. Ich spürte seine Hand im Nacken, er strich meine Haare nach hinten und streichelte meine Haut. Mir stockte der Atem und ich drehte mich zu ihm.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. Da, wo seine Finger über meine Haut gestrichen waren, fühlte sie sich an, als würde sie brennen.
»Was willst du? Ich weiß, dass du mit Cal glücklich warst, und ich will, dass du mit mir glücklich bist. Aber ich bin nicht Cal und werde nie er sein«, sagte er leise, sein Gesicht dicht an meinem. »Wenn du mich willst, dann sag es. Du musst es mir sagen.«
Ich machte große Augen. Cal war immer sehr resolut gewesen, derjenige, der entschied, schmeichelte, verführte. Warum wollte Hunter, dass ich mich so verletzlich machte?
Als würde er meine Gedanken lesen, sagte er: »Morgan, ich kann dir sagen und zeigen, was ich will. Aber wenn du nicht weißt, was du willst, dann möchte ich diesen Schritt nicht gehen. Du musst wissen, was du willst, und du musst es mir sagen und zeigen können.« Seine Augen waren groß, schutzlos, seine Lippen warm und nah an meinen.
O mein Gott, dachte ich.
»Es reicht nicht, wenn du mir erlaubst, dich zu wollen«, fuhr er fort. »Du musst mich auch wollen und es mir zeigen können. Ich muss auch gewollt werden. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nickte langsam, hundert Gedanken auf einmal im Kopf.
»Kannst du das?«
Ich überlegte, ob ich das konnte … ob ich mutig genug war. Ich schwieg.
»Okay.« Er zog sich zurück, und in mir schrie es: Nein, nein, doch er machte den Motor an und setzte vorsichtig zurück, und wir fuhren weiter nach Widow’s Vale. Vor meinem Haus brachte er das Auto wieder zum Stehen und sah mich erneut an.
»Ich muss nach Cal suchen«, sagte er. »Das ist dir doch klar, oder?«
Ich nickte zögernd. »Tu ihm nicht weh«, sagte ich leise.
»Das kann ich dir nicht versprechen«, meinte er. »Aber ich werde es versuchen. Wirst du über das nachdenken, was ich gesagt habe?«
Ich nickte wieder.
Hunter umfasste mein Kinn und küsste mich hart und fest und hungrig auf den Mund, nicht nur einmal, sondern viele Male, und ich stieß einen leisen Laut aus und öffnete die Lippen. Schließlich zog er sich schwer atmend zurück und wir sahen einander an. Dann legte er den ersten Gang ein. Benommen stieg ich aus und ging zur Haustür.