PRAG
ZWEI MONATE SPÄTER
Der weiße Stab glitt über meinen Bauch, der mit kühlem Gel bestrichen war. Etwas rührte sich im unteren Teil des Computerbildes, die Konturen eines kleinen Körpers, der zusammengekrümmt in Zeitlupe umhertrieb, ein schwaches Pulsieren.
»Das Herz«, sagte der Arzt und deutete mit dem Stift darauf. »Sehen Sie nur, wie regelmäßig und fein es schlägt.«
Ich lächelte, weil es von mir erwartet wurde, doch das Einzige, was ich sah, war eine elektronische Darstellung auf einem Bildschirm. Eine abstrakte Figur.
»Wollen Sie den Herzschlag vielleicht einmal hören?«
Ich nickte, und er legte das Stethoskop auf meinen gewölbten Bauch. Reichte mir den Ohrbügel. Ich hörte Rauschen, ein träges Fließen, ein Pumpen. Wie die Interferenzgeräusche zwischen den Sendern, wenn man an einem alten Radio dreht. Und plötzlich war es da: ein leises, schnelles, energisches Picken, und mir stiegen Tränen in die Augen, mein gesamter Brustkorb schnürte sich zusammen. Ich nahm die Hörer ab und gab sie dem Arzt. Drehte mein Gesicht weg und trocknete mir die Augen.
Es lebte. Es lebte tatsächlich dort drinnen.
»Ein aufgeweckter kleiner Spatz«, sagte er und riss ein Stück Zelltuch von einer Rolle ab und reichte es mir. »Wollen Sie wissen, was es wird?«
Ich wischte mir die Schmiere vom Bauch. Ein Spatz?
»Ja, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. Junge oder Mädchen, was spielte das schon für eine Rolle. Beide brauchten Essen und ein Dach über dem Kopf. Schlimmstenfalls auch ärztliche Hilfe. Die letzten Monate bis zur Geburt waren wie eine tickende Zeitbombe, die mich stets daran erinnerte, was ich noch alles erledigen musste.
Ich stieg von der Liege herunter, steif und schwerfällig.
»Ich notiere den vierten Mai als Termin«, sagte er. »Das heißt also, dass sie in der zwanzigsten Woche sind.«
Ich zog das Kleid mit dem Gummibund und die dicken Strumpfhosen wieder an.
»Also ist es völlig ... gesund?«, fragte ich und warf einen Blick auf den Schirm. Er hatte das Bild gestoppt, sodass der Embryo in einem soeben vergangenen Augenblick festgehalten wurde. Ein Drucker war gerade dabei, eine Kopie zu erstellen.
»Machen Sie sich Sorgen?« Er runzelte die Stirn. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Wahrscheinlich bin ich einfach nur nervös«, sagte ich. Die Erinnerung flimmerte durch meinen Kopf. Ich dachte an Mörtel und Stein an meinem Gesicht, an den Mann, der sich zwischen dem Gestrüpp über mich warf. Es rief keine Gefühle in mir hervor. Als wäre es jemand anderem passiert.
»Sie sehen etwas blass aus«, sagte er und fügte hinzu, dass ich irgendwelche Sachen essen müsse, die ich nicht verstand. Ich speicherte die Wörter in meinem Kopf, um sie später in dem Lexikon nachzuschlagen, das in meiner Tasche lag. Langsam fand ich wieder in die Sprache zurück, obwohl ich mich wohl immer noch gerade einmal auf dem Niveau einer Sechsjährigen ausdrücken konnte.
»Geben Sie das hier der Sprechstundenhilfe, dann wird sie einen Termin für die nächste Kontrolle mit Ihnen vereinbaren«, sagte er und gab mir das Ultraschallbild, auf dem das Datum der Untersuchung stand.
»Und bis dahin bleibt mir nur, Ihnen alles Gute zu wünschen!«
Als ich das Sprechzimmer verlassen hatte, steuerte ich geradewegs auf die Toilette zu und holte mein Lexikon hervor. Bílkoviny war Eiweiß und Zˇelezo Eisen.
Vrabec bedeutete tatsächlich Spatz. Ein Vogel, der sich danach sehnte, hinauszufliegen. Ungeduldig pickend.
An der Anmeldung reichte mir die Sprechstundenhilfe ein Formular.
»Ich habe gehört, dass man hier ... unsichtbar sein kann«, sagte ich. Anonym war das Wort, nach dem ich suchte, doch ich kam nicht darauf, was es auf Tschechisch hieß. Der Arzt hatte versucht, deutsch mit mir zu sprechen, als er meinen holprigen Akzent hörte, aber das war noch schlimmer.
Die Sprechstundenhilfe warf mir einen Blick über ihren Brillenrand zu.
»Trotzdem brauche ich Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum. Und eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können, wäre auch hilfreich. Wir geben keine Daten weiter, wenn Sie das nicht möchten.«
Ich blickte auf das Formular. Es gab Felder für Namen, Geburtsjahr, Adresse und Staatsangehörigkeit und ein Feld, das mir höhnisch entgegensprang: Vater.
Ich kritzelte die gewünschten Informationen nieder.
»Telefonnummer ... die ist nur vorübergehend«, sagte ich.
Die Sprechstundenhilfe prüfte meine Angaben – beunruhigend genau.
»Terese Wallner«, las sie. »Und Sie sind 1978 geboren?«
»Mm«, antwortete ich diffus und hoffte, dass ich meinen Pass nicht würde vorzeigen müssen, laut dem ich 1988 geboren und letztes Jahr zwanzig geworden war. Ally Cornwall war im Alter von vierunddreißig Jahren verschwunden. Ich war klein und hatte ein Aussehen, an das man sich nicht erinnerte, das sich verändern ließ. Mit dem richtigen Make-up konnte ich in jedem Alter zwischen zwanzig und fünfundvierzig sein. Das hatte bei meiner Vermieterin gewirkt, und bei der Jobsuche hatte es niemanden interessiert. Ein Pass aus einem EU-Land war gut genug. Jemand mit einer Ausbildung im Gesundheitswesen würde jedoch nie darauf hereinfallen. Bis zur Geburt musste ich mir einen neuen organisieren. Ich musste mich bald deswegen umhören.
Der Vorteil wäre, dass ich mein Haar dann nicht mehr im Ton Nordisches Sommerblond färben müsste. Eine unnötige Ausgabe.
Ich zog mein Portemonnaie hervor und zahlte die Behandlungsgebühr. Während die Sprechstundenhilfe das Geld in die Kasse zählte, betrachtete ich das Formular vor mir.
Name des Vaters.
Früher oder später würde ich wohl gezwungen sein, das Feld auszufüllen. Unbekannt, würde ich schreiben und behaupten, ich wisse es nicht, doch in einer Mappe ganz unten im Koffer auf meinem Zimmer bewahrte ich zwei kleine Dinge auf: meinen Ehering und das Foto, mit dem ich kreuz und quer durch Europa gereist war. Eines Tages würde ich dem Kind von seinem Vater erzählen. Wenn es alt genug war, um zu schweigen.
Plötzlich fiel mir etwas ganz anderes ein.
»Diese Angaben werden wahrscheinlich irgendwo registriert?«, fragte ich.
Das Wort registrieren war jedenfalls in meinen Wortschatz eingemauert, das lernte man in einer kommunistischen Bürokratie bereits als Dreijährige.
»Nein, das ist nur für uns hier am Empfang«, sagte die Sprechstundenhilfe, »damit wir unsere Patienten nicht verwechseln.« Sie warf mir einen Blick zu, der wohl besagen sollte, dass wir mit unseren dicken Bäuchen sowieso alle gleich aussahen.
»Aber ich meine ... später, im Krankenhaus und so.«
»Wenn das Kind in Tschechien geboren wird, dann wird natürlich die Geburt registriert.«
»Auch die Vaterschaft?«
»Ja, natürlich.« Die Frau heftete mein Formular an das schwarzweiße Ultraschallbild. »Natürlich nur, wenn man weiß, wer es ist«, fügte sie hinzu.
»Und wie war das früher?«, fragte ich und tat so, als hätte ich ihren Kommentar überhört. »Unter den Kommunisten, unter Husák ... in den Siebzigern? Wurde so etwas damals auch registriert?«
Die Sprechstundenhilfe brach in Gelächter aus.
»Machen Sie Scherze? Die registrierten, mit wem man sich traf, was man zum Frühstück aß, welche Bücher man las. Natürlich registrierten sie auch die Väter der Kinder.«
Im nächsten Moment läutete die Klingel am Eingang, und eine Frau mit hervorstehendem Bauch kam herein, den Blick auf den Boden gerichtet, den Kopf verschleiert.
Terese Wallner bekam einen neuen Kontrolltermin im nächsten Monat.
Ich verließ die Arztpraxis, die in einem normalen Mietshaus auf der Kleinseite versteckt lag, und trat auf die Straße. Der Dezember hatte Prag mit einer beißenden Kälte erreicht. Ich hauchte mir in die Hände und schlang den Mantel enger um mich. Es war ein unförmiger Herrenmantel aus einem Secondhandladen, von dem ich hoffte, das er die nächste Zeit überstehen würde. Ich steckte meine Hände in die Taschen und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Flusses.
Auch heute hatte es wieder funktioniert. Ich war Terese, eine junge Schwedin, die für unbestimmte Zeit zu Besuch in Prag war.
Ich hatte mir einen überladenen, schwedischen Akzent antrainiert und gewöhnte mich langsam daran, wie eine Figur aus der Muppet Show zu klingen. Wenn jemand unangenehme Fragen stellte, hatte ich Tschechisch von meiner Großmutter gelernt, die in Böhmen geboren war, obwohl ich nicht genau wusste, wo das eigentlich lag. Wir hatten den Kontakt zu diesem Familienzweig verloren. Das war einer der Gründe, warum ich in Prag war – um die Sprache besser zu lernen.
Bisher hatte ich Glück gehabt und war noch keinen Schweden begegnet. Hingegen war ein Arbeitskollege eines Tages, als er betrunkener war als üblich, auf mich zugestürmt und hatte mein Volk beschuldigt, die Silberbibel gestohlen zu haben. Ich flüchtete, bevor er sie zurückfordern konnte.
Alena Cornwall wurde für tot gehalten.
Rein juristisch konnte sie zwar nicht für tot erklärt werden, weil ihre Leiche nie gefunden wurde, aber die tragische Geschichte war bekannt.
Ab und zu besuchte ich ein Internetcafé – nie dasselbe zweimal hintereinander – und las, was die Zeitungen schrieben.
Am Tag nach Patricks Beerdigung hatte Richard Evans für die Onlineausgabe von The Reporter einen Artikel verfasst, in dem er Patrick Cornwalls journalistische Großtat würdigte. Er schrieb auch über den Mut seiner Ehefrau, Alena Cornwall, die einige Wochen nach dem Tod ihres Mannes verschwand. Ein Abschiedsbrief, den sie an ihren Assistenten geschickt hatte, deutete darauf hin, dass sie sich im »Meer der Trauer« das Leben genommen hatte – demselben Todesmeer, das auch Patrick Cornwall das Leben gekostet hatte.
Irgendwie war er an unser Hochzeitsfoto gekommen, und Benji hatte sich offenbar kooperativ gezeigt, denn mein letzter Brief wurde zitiert: »Ich habe keine Kraft mehr, weiterzuleben. Ich hoffe, dass du deine Liebe findest, und wenn Du es tust, Benji, dann halte an jedem Augenblick fest.«
Etwa einen Monat später tauchte Patricks Name in den Klatschspalten auf, als George Clooney sagte, dass er an einer Verfilmung des Stoffs arbeite; Patricks Einsatz für die Gerechtigkeit hatte ihn berührt, und er wolle die wahre Geschichte erzählen. Dann wurde es erneut still um ihn.
Alain Thery war nach und nach aus dem Medieninteresse verschwunden. In den ersten Wochen hatte das Attentat in Puerto Banus halb Europa erschüttert und war auf allen Titelseiten. Eine der verbrannten Leichen hatte Handschellen getragen, was eindeutig auf einen Mord hindeutete. Auch eine terroristische Attacke als Zeichen gegen das Jetsetleben als Symbol des verachtenswerten westlichen Lebensstils wurde für denkbar gehalten.
Alain Thery war schnell identifiziert worden. Ein herausragender Geschäftsmann und ein bekanntes Gesicht im mondänen Nachtleben in Frankreich und an der Costa del Sol. Viele bedauerten sein Ableben. Sogar der französische Präsident nahm Stellung und sagte, das Attentat gemahne Europa daran, energisch gegen Kriminalität und Terrorismus vorzugehen.
Doch der Schuldige wurde nie gefunden. Der Verdacht, es könnte ein Terrorakt gewesen sein, wurde verworfen, als die Wochen ins Land gingen, ohne dass sich jemand zu dem Attentat bekannte. Zuletzt las ich, man vermute, dass es sich um einen Einzeltäter handele.
Ich hatte nie ernsthaft befürchtet, dass die Polizei den Mord mit Alena Cornwall in Verbindung bringen würde. Dafür gab es andere: die Männer, die mich in Tarifa überfallen hatten, und die kriminelle Vereinigung, die sich über ganz Europa und sogar noch weiter erstreckte.
Die Stimme auf dem verwilderten Grundstück, als ich mit dem Gesicht im Gestrüpp lag und darauf wartete zu sterben: »... versuch nicht, dich zu verstecken. Wir finden dich überall.«
Also ließ ich Ally Cornwall im Meer sterben.
Als der Grund unter mir immer flacher wurde und ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, Sand und spitze Steine, war das wie eine Wiedergeburt. Unterkühlt und erschöpft kroch ich die letzten Meter und fand mich auf einem einsamen Strand vor einem Tennisklub einige Meter westlich von Puerto Banus wieder.
Noch immer waren in der Ferne die Flammen zu sehen, einige Boote mit Scheinwerfern kreisten in gebührendem Abstand um die brennende Yacht.
Ich verkroch mich unter ein paar Büschen, bis die Morgendämmerung hereinbrach, und als der Tennisklub öffnete, schlich ich mich hinein und wärmte mich unter einem Handtrockner in der Toilette. Ich nestelte die Tüte mit dem Geld aus ihrem Versteck und nahm zwei feuchte Zehn-Euro-Scheine in die Hand. Den Rest stopfte ich unter den Bund des Slips, dann suchte ich den Weg zur Straße. Ich ging barfuß an ihr entlang, bis ich an eine Bushaltestelle gelangte.
Am Busbahnhof in Marbella öffnete ich das Schließfach und zog Jeans, Pullover und neue Turnschuhe an und steckte Terese Wallners Pass ein. Das Armani-Kleid stopfte ich in eine Plastiktüte und warf es in einen Papierkorb. Dann stieg ich in einen Bus nach Madrid und erwachte erst wieder, als wir uns schon tief im spanischen Binnenland befanden.
Erst da war ich in der Lage, mir zu überlegen, wo ich hinfahren wollte. Auf keinen Fall nach Norden, dort lag Frankreich, und im Süden befand sich die Außengrenze der EU, an der ich gezwungen wäre, meinen Pass vorzuzeigen. Dann fiel mir ein, wie ich begonnen hatte, mich an das Französische zu erinnern, also musste auch Tschechisch noch irgendwo existieren, im Gedächtnis verborgen. Die Sprache zu beherrschen, machte es einem leichter, sich unter den Menschen zu verstecken, und Tschechien war sowohl in der EU als auch Teil des Schengener Abkommens, also ohne Grenzkontrollen.
»Die sehen sich den Pass nicht einmal an«, hatte der Mann namens Alex gesagt. Ich hatte in der Blue Heaven Bar nach ihm gefragt, und eine Stunde später war er gekommen. Selbstbewusst und auf lässige Weise gutaussehend. Klar habe er einen Pass zu verkaufen. Das Alter stimme natürlich nicht und wir sähen uns nicht besonders ähnlich, aber das spielte keine Rolle, sagte er. »Blond, schwedisch und EU-Bürgerin, das reicht doch. Mit gefärbten Haaren kommst du in alle Länder, in die du willst.«
Jedes Mal, wenn ich eine Landesgrenze überquerte, hatte ich Herzklopfen, aber nirgends fragten sie nach dem Pass.
Ich hatte nicht das Gefühl von Heimkehr, als ich am Busbahnhof in Prag ausstieg. Ich brauchte Arbeit und eine Wohnung. Alles andere war belanglos.
Ich schlief sieben Tage lang in der Jugendherberge neben der Wirtschaftsuniversität, bis mir jemand einen Tipp für ein Zimmer gab, das zu vermieten war. Die Vermieterin war über siebzig und wohnte allein in einer Sieben-Zimmer-Wohnung. Ich teilte Küche und Bad mit zwei Studenten aus Dresden, zu denen ich »Guten Morgen« oder »Gute Nacht« sagte, wenn wir uns trafen. Bald wäre ich gezwungen, etwas anderes zu suchen, am liebsten eine eigene Wohnung, aber es war schwer, etwas Günstiges zu finden. Die alte Vermieterin hatte deutlich gemacht, dass sie kein Kindergeschrei in der Wohnung dulden würde. Sie vermisse Husák, sagte sie, die alten Zeiten, wo alles noch seine Ordnung hatte. Damals brauchte sie noch keine Untermieter, um über die Runden zu kommen.
Ich sprach nie länger als absolut notwendig mit einem anderen Menschen, nicht einmal beim Einkaufen. Das Risiko, enttarnt zu werden, war immer gegenwärtig, und die einzige Möglichkeit, das zu umgehen, war die Einsamkeit.
Manchmal bekam ich Lust, Benji anzurufen und einfach nur aus Freude zu sagen: Hallo, ich bin es.
Aber die Organisation konnte Gespräche nachverfolgen und Menschen aufsuchen, die ich kannte. Unter keinen Umständen durfte ich Kontakt mit jemandem aus meinem alten Leben aufnehmen.
Mitunter dachte ich: Eine Person gibt es. Wenn sie noch lebt. Einen Menschen, den niemand jemals mit Alena Cornwall in Verbindung bringen könnte, weil nicht einmal ich wusste, wie er hieß.
Aber in irgendeinem Register musste sein Name stehen.
Nicht jetzt, dachte ich, aber irgendwann, vielleicht. Wenn ich meine Tage darauf verwenden kann, in staubigen Archiven zu wühlen. Wenn ich es mir wieder leisten kann, an mich zu denken.
Ich eilte die steilen Straßen der Kleinseite hinab, so rasch ich konnte. Dies war ein Stadtteil, in dem ich nie zuvor gewesen war. In einer heruntergekommen, kleinen Bar kaufte ich mir einen Hamburger zum Mitnehmen. Bílkoviny und Zˇelezo. Eiweiß und Eisen.
Unten am Fluss hielt ich abrupt an. Auf der anderen Seite des Ufers glitzerte Nové Mˇesto mit Weihnachtsschmuck. Es war so kalt, dass die Luft stillstand, und das Wasser floss träge wie dickflüssiges Öl.
Die Häuser auf der anderen Seite. Ich erkannte sie so gut wieder. Das schwarze Wasser. Und ein Boot, das am Kai entlangglitt.
Es war anders, dennoch war ich mir sicher, dass wir genau hier gestanden hatten. Damals vor dreißig Jahren, in meiner einzigen Erinnerung. Als er mich mit seinen starken Händen an der Taille gefasst und mich hochgehoben hatte, damit ich die Schiffe besser sehen konnte.
Ich trat einige Schritte zur Seite. Genau hier. Ich starrte auf die dunkle Wasseroberfläche, der Verkehrslärm verschwand und ich hörte einen Ton in meinem Kopf, eine dunkle Stimme hinter mir, wie eine Liebkosung im Nacken.
In der Schule werden sie dir erzählen, dies sei die Vltava, ...
Seine Stimme! Warm und dicht an meinem Ohr, als er mich so hochhielt, dass ich etwas sehen konnte. Und das Boot dort unten war klein, nur ein altes Männlein darauf, mit einer Mütze auf dem Kopf.
... aber in Wirklichkeit sind das alle Flüsse der Welt. Denn die Vlatva fließt in die Elbe und setzt ihren Weg nach Nordwesten fort bis zur Nordsee, vereint sich mit dem Atlantik, und alle Meere der Welt und alle Flüsse sind miteinander verbunden, alles ist ein einziges Gewässer.
Und ich sehe den Hauch, der an meinem Ohr vorbeiweht, es ist der Dampf seines Atems, denn es ist kalt, und ich atme ebenfalls aus und lache, als sich der Hauch aus meinem Mund mit seinem vermischt.
Wir sind auch Wasser, sagt er. Mehr als aus allem anderen bestehen wir aus Wasser.
Ne, sage ich. Nijak ne.
Und ich lache über diese Dummheit, ich bin doch wohl kein Wasser, und ich drehe mich zu ihm, um es ihm zu sagen, und da sehe ich ihn.
Ich sehe ihn.
Etwas schiefe Zähne und dünne Lippen, er wirbelt mich herum, sodass ich in seine Augen sehen kann, sie sind braun, und das Tuch, das er um den Hals trägt, ist blau, mein Gesicht ganz nah an seinem. Ein Anflug von Ernst, etwas Schwarzes in seinen Augen.
Traue dem nicht, was jemand zu dir sagt ... Alena milenka ...
Dann lacht er erneut und hebt mich auf seine Schultern, ich schreie, weil ich wieder runter will und wissen, was er meint, ich verstehe es nicht.
Doch er geht mit wippenden Schritten auf die Brücke zu und singt so laut, dass sich die Menschen nach ihm umdrehen.
People are strange, when you’re a stranger
Faces look ugly when you’re alone
Und ich kenne den Text in- und auswendig, doch ich höre nicht Jim Morrison, sondern die Stimme meines Vaters. Ein schludriger, tschechischer Akzent.
When you’re strange
Faces come out of the rain
When you’re strange
No one remembers your name
When you’re strange, when you’re strange, when you’re strange ...
Das Theater lag in einer unauffälligen Querstraße des Václavské nameˇstí. Ich bemerkte, dass die Szenenbilder in den Schaukästen neben dem Eingang aufgehängt worden waren, in einem schmutzig-braunen Ton kopiert, der sich auch durch das Bühnenbild zog und Assoziationen zur kommunistischen Zeit wecken sollte. Bis zur Premiere war es noch eine Woche.
Das Mädchen am Kartenschalter hob kaum den Blick, sie war tief in ein Lehrbuch versunken. Im Zuschauerraum war es leer, eine Pause zwischen den Proben. Ich blieb vor der Bühne stehen. Murmelte einige der Repliken vor mich hin, leise, auf Tschechisch, während ich das Bühnenbild betrachtete.
In der Meeresbucht steht eine grüne Eiche mit einer goldenen Kette um den Stamm.
Ich hörte zu, so oft ich konnte, um ein bisschen Rhythmus und Poesie in meine begrenzte Sprache zu bringen. Um mich nicht länger wie ein Kind zu fühlen.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich neigte den Kopf, erst in die eine, dann in die andere Richtung, um herauszufinden, was mich an dem Bühnenbild störte. Es herrschte eine Symmetrie, die nicht bewusst herbeigeführt worden war.
Die Bühne war reduziert und düster. Der Regisseur hatte die zeitliche Ebene von Tschechows Drei Schwestern in den Kalten Krieg verlegt, in einen nicht näher benannten kommunistischen Staat, in dem alle davon träumten, in die USA zu reisen. Es war keine lupenreine Deutung, aber das Publikumsinteresse war bereits vor der Premiere groß.
Ich brauchte einige Minuten, bis ich entdeckte, was nicht stimmte. Schnell erklomm ich die kleine Treppe zur Bühne und hängte ein Porträt von James Dean ab, der die Sehnsucht der Schwestern nach Westen symbolisieren sollte. Den Nagel löste ich, indem ich etwas daran drehte. Ich befeuchtete meinen Daumen mit der Zunge und rieb an der Tapete, bis das Loch darin nicht mehr zu sehen war.
Dann versetzte ich den Nagel einen Meter nach links, drückte ihn in die Wand und hängte das Bild erneut auf. Ging rückwärts zum Bühnenrand und begutachtete das Ergebnis.
»Was machen Sie da? Sind Sie verrückt geworden?«
Ich schreckte zusammen und drehte mich um. Es war einer der Bühnenarbeiter, ein Beleuchter.
»Sie müssen doch begreifen, dass Sie das Bühnenbild auf keinen Fall anrühren dürfen!«
»Entschuldigung.« Unbeholfen kletterte ich von der Bühne herab. Dieser verdammte Bauch. Der Bühnenarbeiter hatte einen Schraubenzieher in der Hand und hielt sich an einer Leiter fest, er war auf dem Weg nach oben, um das Licht zu justieren. Ich konnte es nicht lassen, noch einen Blick auf die Bühne zu werfen. Jetzt stimmten die Proportionen.
»Was haben Sie auf der Bühne zu suchen?« Er zeigte mit seinem Schraubenzieher auf James Dean. »Wollten Sie etwa das Bild klauen?«
»Nein, ich wollte nur ... Entschuldigung, es war nichts weiter. Bitte erzählen Sie es niemandem.«
Er schüttelte bloß den Kopf und stieg weiter die Leiter empor. Ich ging durch einen Seitenausgang hinaus, der hinter die Bühne führte. Sah rasch zu Boden, als ich auf dem Flur einem der Schauspieler begegnete. Jetzt keine weiteren Fehler machen.
Wieder zu einer Unsichtbaren werden.
Meinen Blick auf den Boden gerichtet, ging ich zum Putzraum neben den Umkleidekabinen, öffnete die Tür und nahm meinen Mantel von einem Haken. Er verhüllte meine Formen und ließ mich eher übergewichtig aussehen als schwanger. Ich befestigte die Wischmopps und ging hinaus. Wendete den Putzwagen und schob ihn vor mir her, den Korridor hinunter.