PARIS

MITTWOCH, 24. SEPTEMBER

In fieberhafter Erwartung drehte ich den Schlüssel zu Zimmer 43 im Schloss um. Als ob Patrick dort sitzen würde. Mir mit weit geöffneten Armen und erstauntem Blick entgegenkäme und sich wunderte, was ich hier machte. Über mich lachte. Was für eine Idee, einfach so nach Paris zu fliegen.

Ich fand nur Leere vor. Einen Hauch von Lavendel, den das Putzmittel hinterlassen hatte.

Die Tür fiel mit einem gedämpften Klicken hinter mir ins Schloss. Acht Tage und acht Nächte waren seit seiner Abreise vergangen. Alle Spuren waren sorgfältig bereinigt.

Ich machte das Fenster weit auf. Ein feuchter Wind schlug mir ins Gesicht. Hinter den Hausdächern erhob sich eine Kuppel, das Panthéon. Vor mir erstreckte sich die Universität über mehrere Häuserblöcke.

Hier hatte Patrick gestanden, als er mich angerufen hatte, exakt hier. Seine Stimme am Telefon. Ich vermisse dich so ... dies ist eine Reise in die Dunkelheit ...

Die Gardinen neben mir wurden vom Wind erfasst, hochgehoben und wieder fallen gelassen. Ich drehte mich um und nahm alle Details in mir auf. Ein breites Bett mit einem weißen Überwurf, der ein durchbrochenes Blumenmuster aufwies. An der Wand ein eingerahmtes Plakat von einem Straßencafé. Das Telefon auf dem Nachttisch, dessen Klingeln ich im Hintergrund gehört hatte. Jemand hatte angerufen und erzählt, dass irgendetwas brannte ... Nun sag schon, was los ist, in Gottes Namen!

Der Raum war exakt zwölf Fuß breit und fünfzehn Fuß lang. Nach all den Jahren als Bühnenbildnerin war es ein reiner Reflex, die Maße festzustellen. Vier mal fünf Meter, zwanzig Quadratmeter. Das war die physische Dimension meiner Sehnsucht.

An der hinteren Wand stand ein kleiner Schreibtisch. Hier hatte er gesessen und geschrieben, tief über seinen Computer gebeugt. So saß Patrick immer, als wolle er an der Tastatur riechen, die Worte einatmen. Eigentlich brauchte er eine Lesebrille, war jedoch zu eitel, sich eine anzuschaffen.

Im Badezimmer betrachtete ich mich im Spiegel. Bleich, mit tiefen Ringen unter den Augen. Müdigkeitsfalten in der Haut. Ich wusch mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser, bespritzte mich unter den Armen und rieb mich so fest mit dem Handtuch ab, dass mir die Haut brannte.

Dann wühlte ich saubere Kleider aus dem Koffer hervor. Falls nötig, würde ich in dieser Stadt jeden einzelnen Stein umdrehen.

Preis für einen Sklaven, stand dort geschrieben, am oberen Seitenrand. Dann folgten Summen und Ziffern, die wie ein Rechenbeispiel notiert waren:

90 Dollar – 1 000 Dollar ( = 38 000 Dollar = 4 000 zum Preis von einem.)

Gewinn = 800% Gewinn = 5%

27 Millionen – 12 Millionen/400 = 30 000 pro Jahr.

Gesamt?

Das letzte Beispiel war durchgestrichen. Daneben standen einige Wörter, quer über die Seite gekritzelt, unterstrichen und eingekreist.

Kleine Investition – lebenslange Investition

Die Boote!

Ich blätterte weiter. Patricks Notizbuch war voll von diesen kurzen und ziemlich kryptischen Anmerkungen. Ich saß im Obergeschoss eines Starbucks-Cafés, fest entschlossen, den Tisch nicht zu verlassen, bis es mir gelungen sein würde, wenigstens einen Teil davon zu entschlüsseln.

Das Café lag drei Ecken vom Hotel entfernt an einem breiten Boulevard, der von Bäumen mit ausladenden Kronen und Zeitungskiosken wie aus einem alten Film gesäumt war. Alles hier verstärkte mein Gefühl von Unwirklichkeit. Der Jetlag sorgte dafür, dass ich irgendwo über mir selbst zu schweben schien.

Natürlich wäre es am einfachsten gewesen, direkt zur Polizei zu gehen und ihn als vermisst zu melden. Aber Patrick traute der Polizei nicht. Er würde mich dafür hassen, wenn sie in seine Story hineinpfuschten. Vorher musste ich zumindest herausfinden, womit er sich beschäftigte.

Ich aß den letzten Bissen meines Hähnchenwraps und knüllte das Plastik zusammen. Schlug seine letzte Aufzeichnung auf. Genauso nahm ich auch neue Theaterstücke in Angriff: Indem ich von hinten begann – wo führt alles hin, wo endet es?

Zuallerletzt hatte Patrick eine Telefonnummer notiert.

Darüber stand ein Name: Josef K.

Dies ist der Schlusspunkt, der Wendepunkt, dachte ich. Anschließend hatte er entschieden, das Hotel zu verlassen, und dieses Notizbuch in einen Umschlag gesteckt und zu mir geschickt.

Zur Aufbewahrung im Theater.

Ich blätterte zur vorherigen Aufzeichnung zurück. Dort stand quer über die Seite gekritzelt, als hätte er es eilig gehabt:

M aux puces, Clignancourt, Jean-Henri Fabre, letzter Stand – Taschen! Nach Luc fragen.

Ich breitete den Stadtplan auf dem Tisch aus. Schlug das Stichwort im Inhaltsverzeichnis meines Reiseführers nach. Bingo! Mein Herz machte einen Satz. Es war, als löste ich ein Rebus und hätte plötzlich eine Antwort gefunden.

Ein Gefühl, als käme ich ihm auf die Spur.

Porte de Clignancourt lag ganz im Norden, wo die Kernstadt Paris endete und die Vororte begannen. Es war die Endstation der Metrolinie 4. Dort war auch der größte Flohmarkt der Welt – Marché aux Puces. Die Rue Jean-Henri Fabre war eine der Marktstraßen. Dann las ich die nächste Zeile im Reiseführer, und meine Laune sank. Der Markt fand nur von Samstag bis Montag statt. Heute war Mittwoch.

Durch das Fenster sah ich direkt auf die Baumkronen. Das Laub verlor bereits seine Farbe und wurde allmählich gelb. Hier zu arbeiten fiel mir auf jeden Fall leichter als im Hotel. Patricks Abwesenheit schrie mir nicht auf dieselbe Weise entgegen wie dort.

Ich blätterte weiter, entzifferte Notizen. Es gab eine ganze Reihe von Namen, Adressen und Telefonnummern, ohne eine Erklärung dazu, wer die Personen waren. Ich markierte die Adressen auf der Karte, eine nach der anderen, und langsam entstand ein Muster, eine Luftaufnahme von Patricks Bewegungen in der Stadt.

Als ich den Blick wieder hob, rannen Regentropfen an der Scheibe herab und die Menschen auf der Straße spannten ihre Schirme auf. Es ging auf drei Uhr Nachmittag zu, Vormittag in New York. Ich massierte meinen Nacken, der sich nach der Nacht im Flugzeugsitz steif und unbeweglich anfühlte, holte mein Handy aus der Tasche und begann mit der Nummer auf der letzten Seite des Buches. Später, wenn der Regen aufhörte, würde ich die Orte auf der Karte besuchen. Ich musste meinen Körper in den verkehrten Tagesrhythmus hineinzwingen, durfte keine Zeit verlieren.

Es tutete in der Leitung. Ich blickte auf den Namen, Josef K. Es klingelte zweimal. Dreimal. Ein Mädchen wischte neben mir den Tisch ab. Einige Touristen diskutierten lautstark auf Italienisch.

Dann hörte ich ein Klicken, aber keine Stimme. Doch die Verbindung war hergestellt, und ich hörte Verkehrslärm, eine Sirene in der Ferne.

»Hallo«, sagte ich leise. »Ist dort jemand namens Josef K.? Hallo?«

Ich war sicher, jemanden atmen zu hören.

»Eigentlich suche ich Patrick Cornwall, vielleicht können Sie mir helfen? Ich bin in Paris und glaube, dass er diese Nummer gewählt hat ...«

Das Verkehrsbrausen verschwand. Die Person am Telefon hatte aufgelegt.

Ich umklammerte das Handy und machte mit der nächsten Nummer auf der Liste weiter.

Nach vier Gesprächsversuchen gab ich auf. Die ausführlichsten Antworten, die ich erhalten hatte, waren »no English« und »no, no, no«.

Ich bekam Lust, stattdessen Benji anzurufen. Zu hören, wie die Premiere gelaufen war. Ob Duncan den gewünschten Erfolg geerntet hatte. All das erschien mir mit einem Mal fern, als hätte es in dem Moment zu existieren aufgehört, in dem ich ins Flugzeug gestiegen war.

Benji war der Einzige, der wusste, dass ich nach Paris gereist war. Ich hatte es ihm beim Mittagessen erzählt, als wir auf der Treppe beim Liefereingang auf der Neunzehnten Straße saßen und unseren Burrito mit Jalapeños vom Deli gegenüber verspeisten.

»Du spinnst ja wohl, das schaffe ich nicht«, hatte Benji gesagt und seinen Mund verfehlt. Dabei war ein großer Kleks Hackfleischsoße sein Knie hinabgeronnen, begleitet von geschmolzenem Käse und einer labberigen Tomatenscheibe. »Stell dir vor, es passiert irgendwas, was soll ich denn dann machen?« Er versuchte, den Fleck von seiner weiten Designerhose zu reiben.

»Was soll schon passieren«, antwortete ich. »Das Bühnenbild steht, wo es stehen soll, und sie werden diese Vorstellung drei Wochen lang aufführen. Bis dahin bin ich längst wieder da.« Ich stopfte meinen halbgegessenen Burrito in meinen leeren Saftbecher und stand auf.

»Falls jemand fragt, ist was mit meiner Familie und es tut mir furchtbar leid und so weiter. Mehr brauchen sie nicht zu wissen.«

Eine Stunde vor der Premiere verließ ich das Theater. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich alle Papiere in Ordnung gebracht, die Buchführung und das Protokoll von der Brandschutzinspektion, die Liste der Requisiten, die zurückgegeben werden mussten, alles ordentlich gestapelt. Wie ein sauberer Abschluss dieses Lebensabschnitts.

»Küss Patrick von mir, wenn du ihn triffst«, sagte Benji und umarmte mich. Ich befreite mich steif und antwortete nicht, winkte nur, als ich mich zum Taxi hinausschlich, das mich nach Newark und zum Air India Flug nach Paris um 21:05 Uhr bringen sollte.

Eigentlich sollte man die Tablette eine Stunde vor Abflug nehmen, aber ich war mit dem Blister in der Hand sitzen geblieben, bis das Gate öffnete. Es gab keine Chance, dass ich mich ohne Beruhigungsmittel in einem geschlossenen Fahrzeug quer durch den Himmel transportieren lassen würde. Schon so lange ich denken konnte, litt ich unter einer Klaustrophobie, die nicht nur geschlossene Räume, Kellergeschosse und Aufzüge betraf. In einem Flugzeug oder einer U-Bahn gefangen zu sein, war noch schlimmer. Man konnte nicht aussteigen. Es gab keine Fluchtwege. Ich war anderen Menschen ausgeliefert, ohne die Macht über mein eigenes Schicksal zu besitzen. Vermutlich war ich gerade aus diesem Grund Bühnenbildnerin geworden. Im Theater baute ich meine eigenen Räume und entschied, wo sich die Ausgänge befanden. Meistens bekam ich die Klaustrophobie in den Griff. Ich kontrollierte immer, wo die Notausgänge lagen, wenn ich ein Haus betrat, und ich fuhr grundsätzlich nie U-Bahn. Für weitere Strecken mietete ich ein Auto. Einmal nach Europa zurückzukehren, war nie Teil meines Plans gewesen.

Ich las die Packungsbeilage wieder und wieder. Schwangere sollten vor der Einnahme mit ihrem Arzt sprechen, stand dort, und es bestehe das Risiko, dem Embryo zu schaden. Entschuldige, dachte ich, als ich die Pille herunterspülte, entschuldige, aber es muss sein.

Das Taxi kroch auf der glitzernden Champs-Élysées entlang und bog kurz vor dem Arc de Triomphe ab. Hier hörte das Menschengewimmel abrupt auf. Die Rue Lamennais war eine Bürostraße, und die meisten Angestellten waren offensichtlich schon nach Hause gegangen. Ich bat den Taxifahrer, ein Stück von der Nummer 15 entfernt zu parken, einer der Adressen aus Patricks Notizbuch.

Ich verbarg mich etwa zwanzig Meter entfernt in einer Hofeinfahrt. Ein blitzblanker Wagen fuhr langsam an mir vorüber und bremste direkt vor dem Eingang, den ich beobachtete. Dann noch einer, ebenso funkelnd. Der Erste war ein Bentley, der Zweite ein Rolls Royce. Drei Männer in dunklen Anzügen und mit Aktentaschen stiegen aus. Ein eifriger Portier kam herbei, um die Wagentüren zu öffnen, verbeugte sich und eilte jedem Schritt der Männer in einem untertänigen Tanz voraus. Sogar ein roter Teppich war auf der Straße ausgerollt. Anschließend fuhren die Luxuskarossen wieder los und verschwanden.

Es war die zweite Adresse, die ich an diesem Tag aufsuchte. Die Erste hatte sich bei näherem Hinsehen als ein amerikanischer Buchladen erwiesen. Typisch Patrick. Er liebte es, wertvolle Ausgaben von Klassikern aufzustöbern, die im Taschenbuch höchstens ein Zehntel kosteten. Ich hatte eine Runde durch den Laden gedreht, zwischen Millionen staubiger Bücher, war die schmalen Treppen auf- und abgestiefelt, an deren Seite kleine Sitzgelegenheiten mit Kissen und Decken eingerichtet waren. Als ich mich hingesetzt hatte, um eine Weile auszuruhen, waren zwei Rucksacktouristen auf mich zugekommen und hatten gefragt, ob ich Autorin sei. »Wir sind auch Schriftsteller«, hatte der Junge ungefragt berichtet, »aber wir veröffentlichen nur im Netz. Wir fühlen uns der Beatgeneration verwandt, stehen aber natürlich in einem ganz anderen Kontext.«

Inzwischen war es halb sieben, die Dämmerung lag in der Luft. Ein weiteres, funkelndes Auto glitt an mir vorbei, ein Jaguar. Genau in diesem Moment begann das Handy in meiner Tasche zu klingeln. Der Portier spähte in meine Richtung. Ich sah auf das Display, verborgene Nummer.

»Ally«, meldete ich mich.

»Sie hatten angerufen«, sagte eine Frau mit französischem Akzent. »Sie waren auf der Suche nach Patrick Cornwall.«

Mich überkam ein Schauer, und meine Knie wurden weich.

»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte ich. »Ich muss ihn dringend erreichen.«

Am anderen Ende entstand eine kurze Pause. Es waren keine Hintergrundgeräusche zu hören.

»Wir können das nicht am Telefon besprechen«, sagte die Frau. »Wo sind Sie gerade?«

»In einer Straße namens Rue Lamennais«, antwortete ich, »vor einem Restaurant.« Ich ging schnell ein Stück näher und konnte die Goldschrift auf der Schirmmütze des Portiers lesen.

»Taillevent«, ergänzte ich.

»Im achten?«, fragte die Frau.

»Wie bitte?«, fragte ich und musste sofort an das Kind denken, achter klang wie ein Monat am Ende der Schwangerschaft. »Was meinen Sie?«

»Im achten Arrondissement«, antwortete sie. »In einer Stunde. Woran kann ich Sie erkennen?«

»Ich trage eine rote Jacke«, sagte ich, dann klickte es in der Leitung, und ich ließ die Hand mit dem Handy sinken und lächelte den Portier an.

Er lächelte zurück.

»Gute Nachrichten?«, fragte er.

»Ich glaube schon«, antwortete ich und steckte das Handy in die Tasche, ging im Kopf noch einmal das Gespräch durch, rief mir den Tonfall der Frau in Erinnerung. Sie hatte förmlich, aber nicht feindselig geklungen. Ich strengte mich an, um mich an all die ergebnislosen Anrufe am Nachmittag zu erinnern, doch ich brachte sie im Kopf alle durcheinander.

Ich lächelte den Portier erneut an.

»Servieren Sie hier auch um diese Uhrzeit noch Abendessen?«, fragte ich.

Der Portier musterte meine Kleidung – die Jeans und den roten Anorak, den ich im Laden der Heilsarmee auf der Achten Avenue erstanden hatte.

»Es tut mir leid, aber wir sind heute Abend schon ausgebucht.«

Inzwischen war das nächste Auto vorgefahren. Er ging darauf zu, um die Tür zu öffnen, und ich schlich mich hinter seinem Rücken durch den Eingang.

Innen dämpften dicke Teppiche alle Geräusche. Der Eingangsbereich war in beige und braun gehalten und schien in den letzten fünfzig Jahren keine stilistische Veränderung erfahren zu haben. Eine Treppe mit einem pompösen, schmiedeeisernen Geländer mit Goldbesatz führte ins obere Stockwerk. Der Oberkellner versperrte mir den Weg.

»Entschuldigen Sie, ich spreche kein Französisch«, sagte ich, »aber ich würde mich gern nach einem Gast erkundigen, der vor etwas mehr als einer Woche hier war ...«

»Wir geben keine Informationen über unsere Gäste heraus«, antwortete der Mann. »Auf unsere Diskretion kann man sich verlassen.«

»Ja, das verstehe ich natürlich«, sagte ich und lächelte ihn an, während ich meinen Kopf nach einer geeigneten Lüge durchforstete, nach einer Rolle, die ich spielen könnte. Ich wusste, dass Patrick niemals einfach nur zum Essen in ein solches Restaurant gegangen wäre. Er musste jemanden getroffen haben, jemanden, den er interviewen wollte.

»Es ist mir so peinlich«, fuhr ich fort und nahm einen mädchenhaften Tonfall an. »Ich vertrete eine größere amerikanische Firma hier in Paris, und einer unserer Geschäftspartner hat bei Ihnen einen Tisch reserviert, aber ich hatte so viel anderes im Kopf, meine Mutter ist vor Kurzem gestorben, und jetzt fürchte ich, dass ich sowohl Tag als auch Woche durcheinandergebracht haben könnte.«

Der Oberkellner runzelte die Stirn und sah sich nervös um. Zwei Männer in unterschiedlichen Grautönen standen an der Garderobe und unterhielten sich. Eine kleine Frau mit Pagenkopf und wichtiger Miene stolzierte herbei und nahm ihnen die Mäntel ab.

»Wenn Sie einfach nur nachschauen könnten, an welchem Tag er den Tisch bestellt hat ...« Ich legte die Hand auf den Arm des Oberkellners. »Die feuern mich, wenn dieser Vertrag nicht zustande kommt, verstehen Sie!«

Er wippte ein wenig mit den Füßen und schielte zu einem Sekretär aus Edelholz, auf dem das Reservierungsbuch aufgeschlagen lag.

»Wie war Ihr Name noch?« Der Oberkellner sah sich erneut unruhig um und ging zögerlich zum Sekretär.

»Cornwall«, antwortete ich. »Der Tisch muss auf den Namen Cornwall reserviert sein. Patrick Cornwall, so heißt mein Geschäftspartner.«

»Nein, tut mir leid, ich kann nicht sehen ...« Der Mann fuhr mit dem Zeigefinger über die zurückliegenden Reservierungen.

»Oh mein Gott«, sagte ich, »das wird doch hoffentlich nicht schon letzte Woche gewesen sein!« Ich schlug die Hand vor den Mund. »Dann bräuchte ich wirklich eine sehr gute Entschuldigung ...«

Der Oberkellner blätterte weiter, und plötzlich hielt sein Finger abrupt inne.

»Ein Mister Cornwall hatte letzten Donnerstag, am elften September, hier reserviert, aber nur für eine Person.« Hastig sah er zu mir auf und schlug das Buch zu.

Was machte er bloß allein in einem Luxusrestaurant?, dachte ich. Unser Geld auf den Kopf hauen? Unwillkürlich schnellte meine Hand zu meinem Bauch.

»Einen Augenblick«, sagte der Oberkellner und ging in den nächsten Raum. Ich folgte ihm einige Schritte. Er blieb bei einem älteren Mann im weinroten Sakko stehen.

»Die Dame dort drüben fragt nach Monsieur Cornwall, Patrick Cornwall«, sagte er leise. »Aber dann habe ich eine Notiz bemerkt ...« Der Oberkellner schielte zu mir herüber. Ich starrte an die Wand.

»Cornwall? Sie meinen diesen amerikanischen Journalisten?«

Der ältere Mann dämpfte seine Stimme. »Er ist hier nicht mehr willkommen.«

»Ich weiß, aber was soll ich der Dame sagen?«

Im nächsten Moment drehten sich beide um und marschierten auf mich zu, der Ältere vorneweg.

In den nächsten Minuten schoss mir durch den Kopf, dass es gar nicht möglich war. Die Männer hatten Französisch gesprochen. Ich hätte nicht verstehen dürfen, was sie sagten.

»Es tut mir leid, aber wir schließen jetzt, Madame«, sagte der ältere Mann auf Englisch.

»Was ist denn genau vorgefallen, als Patrick Cornwall hier war?«, fragte ich.

»Wir geben unter keinen Umständen Auskünfte über unsere Gäste weiter.«

Der Oberkellner legte mir die Hand auf den Rücken und schob mich diskret in Richtung Ausgang.

»Es ist besser, Sie gehen jetzt.«

Daraufhin schloss der Portier wortlos die Tür hinter mir. Inzwischen lag die Straße beinahe vollständig im Dunkeln.

Was zum Teufel konnte Patrick getan haben, um aus einem solchen Lokal hinausgeworfen zu werden? Zu laut geredet?

Ich entfernte mich ein paar Schritte vom Restaurant, zog die Kapuze meiner Jacke über und lehnte mich an die steinerne Wand.

Bald würde ich trotzdem etwas erfahren, dachte ich. Hoffentlich würde die Frau, die angerufen hatte, auch kommen.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten.

Während ich wartete, versuchte ich, mir einige Worte auf Französisch in Erinnerung zu rufen. Schuh, Fuß, Stein, Straße. Es ging nicht, obwohl die Sprache offenbar irgendwo in meinem Gedächtnis verborgen lag. Meine Jahre in diesem französischen Dorf waren nichts, an das ich gern erinnert werden wollte. Ich war sechs Jahre alt gewesen, als ich dort hinkam. Meine Mutter hatte sich in dieser Zeit in einen anderen Menschen verwandelt. Ich hatte vage Erinnerungen an ein Haus, das von Stille erfüllt war. An einen Mann, der verlangte, das ich ihn mit Monsieur anredete. An Türen, die nachts geschlossen wurden, an die Einsamkeit. An meine Furcht, als ich nachts aufwachte und nicht wusste, wo meine Mutter war.

Das Auto hatte vor mir gebremst, ohne dass ich es bemerkte. Wäre ich nicht so sehr in Gedanken versunken gewesen, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmte, weil es weder ein Bentley noch ein Rolls Royce, sondern ein zerbeulter Peugeot mit rostigen Felgen war. Plötzlich stand ein Mann vor mir. Er trug eine Kapuzenjacke und war größer als ich. Das Adrenalin pumpte durch meinen Körper, mein Instinkt schrie geradezu danach zu flüchten.

»Ins Auto«, zischte er in gebrochenem Englisch und packte mich am Arm. Ich riss mich los, doch er versperrte mir den Weg.

»Ich warte auf jemanden, sie müsste jeden Moment hier sein«, sagte ich. Die Straße war leer. Kein einziger Jaguar, soweit das Auge reichte. Sogar der Portier hatte mich verlassen. Ich bereitete mich gerade darauf vor, den Fremden an einer empfindlichen Stelle zu treten und wegzurennen, als ich bemerkte, dass hinter ihm im Auto auf dem Fahrersitz eine Frau saß. Trotz der Dunkelheit war ich mir ziemlich sicher, dass es eine Frau war. Ihr Gesicht war von einem Tuch verhüllt. Mit klopfendem Herzen ging ich zu dem Auto. Der Mann folgte dicht hinter mir.

»Haben Sie mich angerufen?«, fragte ich und beugte mich zu ihr. Die Wagentür stand offen.

»Steigen Sie ein«, sagte sie und deutete auf den Rücksitz. Der Mann quetschte sich neben mich und schlug die Tür zu. Noch in derselben Sekunde startete die Frau den Motor und raste los. Mir wurde heiß vor Schreck.

»Wohin fahren wir?«, rief ich. »Wer sind Sie?«

»Warum erkundigen Sie sich nach Patrick Cornwall?«, fragte die Frau. »Was wissen Sie über Josef K.?«

»Nichts. Ich weiß nichts über Josef K. Deshalb rufe ich ja gerade an und frage.«

Unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel. Braune Augen, die mit Kajal umrahmt waren. Der Rest des Gesichts war von dem Tuch verdeckt.

»Wo ist Patrick?«, fragte ich. »Wissen Sie, wo er sich aufhält? Fahren wir jetzt dorthin?«

Sie bog ab und schlängelte sich durch eine weitere, dunkle Seitenstraße.

»Zuerst will ich wissen, wer Ihnen meine Nummer gegeben hat.« Sie hatte eine tiefe Stimme und sprach mit singender Satzmelodie. Abgesehen vom Akzent war ihr Englisch perfekt. »Wer spricht über Josef K.? Für wen arbeiten Sie?«

»Für wen arbeiten Sie?«

Die Frau machte eine scharfe Wendung und bremste. Wir befanden uns am Rande eines Parks. Eine menschenleere Gegend. Meine Angst wuchs.

Sie drehte sich halb um.

»Hat Alain Thery Sie geschickt?«

»Alain wer?«, fragte ich verwirrt.

Mein Instinkt sagte mir, dass ich lügen musste. Dann war ich in einer günstigeren Position, auch wenn sie zu zweit waren.

»Ich arbeite für dieselbe Zeitung wie Patrick Cornwall«, log ich. »Der Redakteur erreicht ihn nicht. Er sollte eine Reportage liefern, und jetzt läuft die Deadline ab. Sie drehen durch, wenn er die Frist nicht einhält.«

»Kann ich Ihren Presseausweis sehen?«, fragte die Frau.

»Ich bin keine Journalistin«, antwortete ich. »Ich arbeite nur im Büro.«

»Und Sie heißen?«

Ich weiß nicht, woher es kam, ob es die Angst war, die mich in die Vergangenheit zurückwarf, zu der Person, die ich früher einmal gewesen war, oder ob es sich um eine rationale Entscheidung handelte. Sie nichts wissen zu lassen. Zu lügen und es dennoch nicht zu tun. So nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.

»Ich heiße Alena Sarkanova«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Und Sie?«

Doch die Frau ging nicht auf meine höfliche Frage ein. Sie zündete sich eine Zigarette an. Der Geruch von braunem Tabak erinnerte mich dunkel an etwas aus meiner Kindheit. In diesem Moment klingelte mein Handy fröhlich in meiner Tasche. Ich bückte mich und kramte es hervor.

»Gehen Sie nicht dran«, befahl die Frau. Der Mann packte mein Handgelenk. Bevor ich es ausstellte, konnte ich gerade noch Benjis Namen auf dem Display erkennen. Es tat weh, ihn wegzudrücken. Der liebe Benji, der in diesem Moment das einzige Verbindungsglied zu meinem normalen Leben war.

»Hören Sie auf rumzuschnüffeln«, sagte die Frau. »Haben Sie gehört? Sie müssen wieder zurück nach New York.« Sie warf mir erneut einen Blick durch den Rückspiegel zu. Ich schluckte. Ich hatte nicht erwähnt, dass ich aus New York kam. Also wusste sie, dass Patrick dort lebte und arbeitete.

»Wo ist er?«, fragte ich.

»Fahren Sie nach Hause«, sagte die Frau und gab dem Mann einen Wink. Er beugte sich über mich und öffnete auf meiner Seite die Wagentür. Zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war.

»Und sprechen Sie mit niemandem über das hier!«

Der Mann verpasste mir einen Stoß in die Seite, und ich stieg aus. Sog die Abendluft tief in die Lungen und verspürte eine schwache Euphorie darüber, wieder im Freien zu sein. Die Wagentür wurde zugezogen, und sie rasten mit einem Kavalierstart davon.

Ich entfernte mich mit schnellen Schritten und ging in die Richtung, aus der die Lichter der Stadt am hellsten leuchteten.

»Guten Abend«, grüßte der Portier, als ich das Hotel betrat, und warf mir durch seine eckige Designerbrille einen warmen Blick zu. Es hatte ein Schichtwechsel stattgefunden, seit ich um die Mittagszeit gegangen war.

»Kann man um diese Zeit noch etwas zu trinken bekommen?«, fragte ich und fuhr mir mit der Hand durch das Haar. Ich hatte die vage Vermutung, dass ich fürchterlich aussah. »Keinen Alkohol, meine ich, irgendwas anderes. Wasser.«

»Aber natürlich«, antwortete der Portier und war sofort auf den Beinen. Er lief am Tresen vorbei und verschwand eine kleine Treppe hinauf, die zum Frühstückssaal führte.

»Gerne auch was zu essen«, rief ich ihm nach und versank in einem durchgesessenen Lehnstuhl. Seit heute Mittag bei Starbucks hatte ich nichts mehr gegessen, und mein Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Vielleicht war es auch das Kind, das sich regte. Nach dem Erlebnis im Auto waren meine Knie noch immer weich.

Fakten, redete ich mir selbst ein. Das ist das Einzige, was zählt. Ergebnisse.

Die Personen im Auto: eine Frau, ein Mann. Alter: irgendwo zwischen dreißig und fünfzig. Eindeutig Franzosen.

Die Frau hatte das Kommando geführt. Ihr Englisch war grammatikalisch korrekt. Gebildet. Ihre Nummer war die letzte Aufzeichnung in Patricks Notizbuch. Sie hatte eine doppelte Agenda gehabt: herauszufinden, wer ich war und was ich wusste, und dafür zu sorgen, dass ich Paris verließ.

Ich rieb mir die Stirn. Der Jetlag lag wie ein Helm auf meinem Kopf. Ganz gleich, wie oft ich das Gespräch innerlich wiederholte, ich wurde einfach nicht klüger.

»Entschuldigung, dass ich einfach so frage, aber Sie müssen Patrick Cornwalls Frau sein, oder?«

Der Portier stellte ein kleines Tablett vor mir ab. Eine Käsestulle. Wasser und ein Glas Saft. Es sah himmlisch aus.

»Sie haben nicht zufällig noch so eins?«, fragte ich, den Mund voller Brot.

Ich trank den Saft in einem Zug aus, lehnte meinen Kopf gegen das weiche Sesselpolster und schloss die Augen.

Wieder nach Hause zu fahren war eine Möglichkeit. Ich konnte die Polizei und die amerikanische Botschaft kontaktieren, Patrick als vermisst melden. Darauf warten, dass er mich anrief.

Ich habe jetzt eine größere Verantwortung, dachte ich und tastete mit der Hand nach meinem Bauch. Eine echte Mutter würde nach Hause fahren. Keine weiteren Risiken eingehen. Regelmäßige Mahlzeiten zu sich nehmen und in gemächlichem Tempo joggen, mit dem Häkeln anfangen. Eine Babygarderobe zusammenstellen. Ein Bettchen und einen Kinderwagen kaufen.

Dann der nächste Gedanke: dass das Kind größer werden und eines Tages nach seinem Vater fragen würde. Und ich antworten müsste: »Er verschwand. Ich weiß nicht wohin. Ich weiß nicht warum. Ich war zu feige, dort zu bleiben und es herauszufinden.«

»Patrick Cornwall war ein sehr geschätzter Gast bei uns«, sagte der Portier und stellte noch ein Käsebrot auf den Tisch. »Er ist der erste Amerikaner, der nicht der Ansicht war, der Louvre sei nur ein Tatort aus dem Da-Vinci-Code.«

Der Portier lachte ein wenig über seinen eigenen Scherz. Sein Englisch war tadellos. Aus dem Namensschild an seiner Brusttasche ging hervor, dass er Olivier hieß.

»Kennen Sie ein Restaurant namens Taillevent?«, fragte ich ihn zwischen zwei Bissen.

»Selbstverständlich«, sagte er und setzte sich auf die Armlehne des gegenüberliegenden Sofas. »Es gehört zu den besten. Nicht so bekannt wie La Tour d’Argent, aber vermutlich noch besser. Vor einigen Jahren verloren sie ihren dritten Stern im Guide Michelin, aber die Kunden halten ihnen offensichtlich trotzdem die Treue. Ich glaube, sie haben kurz nach Kriegsende eröffnet.«

»Was für Menschen gehen dort essen?«

»Politiker, Geschäftsleute, diejenigen, die auf die richtigen Schulen gegangen sind, die Elite. Kein besonders trendiger Ort. Wenn Sie ein besonders angesagtes Restaurant besuchen wollen, würde ich das Spoon von Alain Ducasse empfehlen.«

»Hat Patrick etwas davon erzählt, dass er im Taillevent war?«

»Er fragte mich, wo es liegt. Ich erinnere mich daran, weil ich die Adresse nachschlagen musste, ich bin nie selbst dort gewesen. Aber ich weiß nicht, ob er wirklich hingegangen ist.«

Olivier rückte seine Brille zurecht. Er war gut gekleidet. Die graue Jeans und ein Hemd in einem dunkleren Ton erinnerten mich an Patricks Kleidungsstil.

»Haben Sie viel miteinander gesprochen?« Ich lehnte mich im Sessel zurück und versuchte mir vorzustellen, dass dies eine ganz normale Plauderei wäre. Über den vollkommen normalen Aufenthalt meines Mannes in Paris. Ich brachte es nicht über mich zu erzählen, was los war: dass Patrick verschwunden war.

»Wir haben uns ziemlich oft gestritten, meistens über Rimbaud, den Dichter«, erzählte Olivier und lächelte. »Er war der Meinung, wir sollten das Schild dort draußen abnehmen.« Er machte eine Geste in Richtung Straße.

Ich wusste, wovon er sprach – ich hatte auf der Website des Hotels gelesen, dass Arthur Rimbaud im wilden Jahr 1872 hier zu wohnen pflegte. Olivier bückte sich und nahm ein großes Buch mit rotem Ledereinband von einem Beistelltisch. Eine Postkarte fiel heraus, ein Gruß aus Melbourne.

»Traue niemals einem Dichter«, las er vor und hielt mir das Gästebuch hin. Mein Herz machte einen Salto, als ich Patricks Handschrift wiedererkannte. Never trust a poet. Er dankte für einen wunderbaren Aufenthalt. Datiert auf den sechzehnten September, den Tag, an dem er das Hotel verließ.

»Haben Sie damals gearbeitet?«, fragte ich. »Als er abreiste?«

»Nein, leider nicht ...« Er stand auf. Zwei Frauen in meinem Alter kamen die Treppe herunter und legten ihren Schlüssel auf den Tresen. Olivier wünschte ihnen einen schönen Abend, und sie wankten auf ihren hohen Absätzen weiter, in die Nacht hinaus.

»Patrick hatte in einem der Antiquariate am Fluss eine Biographie über Rimbaud gekauft«, fuhr er fort. »The man with foot soles of wind, wie Verlaine schrieb. Rimbaud hörte ja im Alter von zwanzig weitgehend damit auf, Gedichte zu schreiben. Stattdessen wanderte er nach Äthiopien aus und begann, Geschäfte zu machen, er verkaufte Waffen und Sklaven.«

»Er wurde Sklavenhändler?« Ich war kurz vorm Einschlafen gewesen. Eigentlich hätte ich jetzt schleunigst auf mein Zimmer gehen, duschen und schlafen sollen, aber ich hatte Angst vor dem, was über mich hereinbrechen würde, wenn ich allein war.

Olivier lachte.

»Nicht alle glauben, dass es stimmt, aber Patrick meinte, es sei logisch. Dass der Sklavenhändler eine andere Seite dieses Dichters sei, ein Schatten oder eine Art innewohnende dunkle Seele, von dem die meisten nichts wissen wollen, aber sie existiert – im Glauben an das eigene Supremat.« Er griff nach dem kleinen Kreuz, das er um den Hals trug, und zog es an der Kette hin und her. »Ich weiß nicht, ob ich das so gut erklären kann.«

»Ihr Englisch ist ausgezeichnet«, sagte ich und versuchte, mir Patrick vorzustellen, wie er hier saß, in eine engagierte Diskussion vertieft. Offenbar waren der Sklavenhandel und die Sklaverei der rote Faden, der alles miteinander verband. Ich begriff, dass ich viel zu müde war, um darüber nachzudenken.

Olivier sprach weiter über Patrick, lobte seine französische Aussprache, die für einen Amerikaner ungewöhnlich gut sei. Patrick hatte bereits auf der Highschool Französisch gelernt und auf der Columbia University damit weitergemacht. Er war geradezu verliebt in die Sprache. Wann immer er die Gelegenheit hatte, schleppte er DVDs mit französischen Filmen nach Hause, bei denen ich regelmäßig einschlief.

»Bekam er Besuch, als er hier wohnte?«

»Ja ... es ist ja bekannt, dass er ein Verhältnis mit Verlaine hatte ...«

»Nein, ich meinte Patrick.«

Der Portier wandte seinen Blick ab und fingerte an seinem Silberkreuz herum. »Hier gehen so viele Menschen ein und aus ...«

Plötzlich ging mir der sinnlose Smalltalk auf die Nerven. Jetzt oder nie.

»Mein Mann ist nicht nach New York zurückgekehrt«, sagte ich. »Seit er hier ausgecheckt hat, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Deshalb bin ich hier.«

Olivier sprang abrupt auf und starrte mich an, und ich spürte, wie sich die Angst erneut anschlich. Bereits morgen wüsste es das ganze Hotel, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis es auch in den Zeitungen stand. Und die Frau mit dem alten Peugeot würde wiederkommen.

»Ich wäre dankbar, wenn Sie es niemandem erzählen würden. Offenbar ist er einer großen Sache auf der Spur, deshalb meldet er sich nicht.« Ich senkte meine Stimme. »Erinnern Sie sich an einen Anruf, den er spät in der Nacht bekam, am Freitag vor zwei Wochen? Haben Sie an diesem Tag gearbeitet?«

Olivier runzelte die Augenbrauen und nickte vorsichtig. »Ja, ich war da. Ich erinnere mich. Der Anrufer war wahnsinnig aufgeregt. Aber ich weiß nicht, worum es ging, ich habe den Anruf nur zu Zimmer 43 durchgestellt. Ich dachte mir schon, dass es wahrscheinlich etwas mit Monsieur Cornwalls Arbeit zu tun hatte.« Er lächelte ein wenig. »Ich habe immer selbst davon geträumt, einmal zu schreiben.«

»Wissen Sie, wo das Gespräch herkam?«, fragte ich. »Können Sie das nachverfolgen?«

»Nein ... da müssten wir die Telefongesellschaft kontaktieren. Das setzt wahrscheinlich voraus, dass die Polizei ...«

»Vergessen Sie’s«, sagte ich. Es war natürlich völlig ausgeschlossen, die Polizei darauf anzusetzen, einen Anruf zurückzuverfolgen, der von einem Informanten Patricks stammte.

»Können Sie mir helfen, für morgen einen Tisch im Taillevent zu reservieren?«, fragte ich. »Ich muss dort einige Dinge herausfinden.«

»Selbstverständlich.« Olivier stand auf, ging an den PC hinter der Rezeption, und tippte sich zu einer Website durch. Auf dem Bildschirm bauten sich einige Fotos auf. Einhundertvierzig Euro für ein Abendessen.

»Haben die sie noch alle?«, sagte ich.

»Das Mittagessen ist billiger«, antwortete Olivier, »es kostet nur achtzig Euro.«

Nur, dachte ich, und bat ihn, für den nächsten Mittag einen Tisch zu reservieren. Auf dem Weg zur Treppe fiel mir etwas ein, und ich wandte mich um.

»Ach bitte«, rief ich, »reservieren Sie auf den Namen Alena Sarkanova.«

Der Portier sah auf.

»So hieß ich vor meiner Hochzeit«, erklärte ich.

Alena Sarkanova hatte nichts zu verlieren. Sie kam allein zurecht, bettelte nicht um Liebe, sie war diejenige, die ich vor meiner Begegnung mit Patrick gewesen war. Als ich heiratete, streifte ich meinen alten Namen ab wie eine Schlange die Haut.

Ich ging unter die Dusche und ließ mir das Wasser heiß über den Körper rinnen. Sarkanova war der Name meiner Mutter. Wie mein Vater hieß, wusste ich nicht. Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Meine Mutter hatte es mir nicht erzählen wollen, und jetzt war sie schon einige Jahre tot.

Ich hatte schon mehrmals ihre Papiere durchwühlt, auf der Suche nach einem Namen, einer Fotografie, irgendetwas, das zeigte, dass ich ihm ähnelte. Ich hatte nicht den geringsten Hinweis gefunden. Sie hatte ihn aus ihrem Leben getilgt. Als Teenager hatte ich davon phantasiert, dass er auf der ganzen Welt nach mir suchte, dass eines Tages ein Brief kommen würde. Oder eine Suchmeldung im Fernsehen. Eines Tages, so dachte ich damals, würde er vor meiner Tür stehen und erzählen, wie er sein Leben dabei riskiert hatte, den Eisernen Vorhang zu durchbrechen und seine geliebte Tochter zu finden.

»Schlag dir deine dummen Phantasien aus dem Kopf«, schrie meine Mutter. Noch immer hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf widerhallen. »Kapierst du es denn nie? Er ist abgehauen, weil er keine Lust hatte, sich um ein Balg zu kümmern!«

»Das ist nicht wahr«, schrie ich zurück. »Er kam ins Gefängnis, das hast du selbst gesagt.«

»Lügen«, brummelte sie, »alles Lügen ...«

»Dann sag wenigstens, wie er heißt«, flehte ich.

»Damit du erst recht versuchst, ihn zu finden!«, entgegnete sie.

»Wie sollte ich denn, wenn er im Gefängnis starb?«

»Ob es so war, wissen wir doch gar nicht.«

»Aber das hast du doch gesagt.«

»Das habe ich nicht.«

So ging es hin und her. Ich konnte nicht mehr länger unterscheiden, was sie tatsächlich gesagt und was ich selber erfunden hatte. Ich hatte nur eine einzige, deutliche Erinnerung an meine Kindheit in Prag:

Ich bin drei Jahre alt und sitze auf dem Treppenabsatz vor einer Haustür. Es ist Abend. Eine einzelne Laterne leuchtet hoch oben von ihrem Pfahl herunter und taucht den Hof in gelbgraues, verschwommenes Licht, in dem keine klaren Konturen erkennbar sind. Einige Mülltonnen stehen herum, an der Wand lehnt ein altes Fahrrad. Ich friere an Beinen und Händen. Ich trage nur meinen hellblauen, dünnen Pyjama und braune Schuhe mit Schnürsenkeln. Im Treppenhaus ruft meine Mutter nach mir. »Komm endlich, Kind«, schreit sie, »wenn du jetzt nicht kommst, schließe ich ab, und dann musst du die ganze Nacht draußen sitzen.«

Aber ich gehe nicht hinein, denn ich warte auf meinen Vater.

Dann höre ich ihre Schritte, sie hallen wider und vermehren sich zu einer ganzen Schar von Schritten, hinter mir wird die Tür aufgerissen und meine Mutter packt mich fest am Arm. Ich baumle wie ein nasser Sack in der Luft. »Jetzt kommst du rein«, zetert sie, und ich strample und winde mich, um loszukommen, und schreie »ne ne«.

»Ich muss auf Papa warten«, kreische ich, »er kommt gleich.«

»Sieh mich an«, brüllt sie, aber ich kneife die Augen zusammen. »Er kommt nicht mehr«, sagt sie, »kapierst du das denn nie?« Und dann schleift sie das Kind die Treppen hoch, dessen Beine gegen den Steinboden schlagen. Im Treppenhaus dröhnt es, als die Tür zufällt.

Und das ist alles, woran ich mich erinnern kann.

Das wenige, was ich über meinen Vater wusste, hatte ich nie jemandem erzählt – bis ich Patrick traf. Er hörte nicht auf zu fragen. All diese Dinge waren wichtig für ihn. Wo man herkam, wer man war.

»Ich will alles über dich wissen«, sagte er und zog mich an sich, »bis ins kleinste Detail.«

»Und ich will mehr Wein«, antwortete ich. An dem Abend, als ich zu erzählen begann, saßen wir bei ihm zu Hause, auf einem kleinen Sofa, das zwischen Küche und Bett eingeklemmt war. Das war, bevor wir die Wand zwischen den Zimmern entfernt hatten und ich einzog. Diese erste, verzauberte Zeit.

»Was weißt du über den Prager Frühling?«, fragte ich.

Patrick entkorkte eine Flasche Rotwein.

»Sie versuchten, das Land zu demokratisieren, sich zu öffnen, politische Gefangene freizulassen und so weiter«, antwortete er. »Eine Art Glasnost, zwanzig Jahre zu früh, das beendet wurde, als die sowjetischen Panzer 1968 ins Land rollten.«

»Der politische Aspekt war nur ein kleiner Teil davon«, sagte ich, »ansonsten geschah dasselbe wie in Paris und den USA und überall sonst im Jahr 68, es gab Hippies und Rock’ n’ Roll und freie Liebe, man wollte kiffen und in der Gegend rumvögeln.«

Patrick schenkte uns Wein ein und setzte sich wieder neben mich.

»Und das hörte mit dem Einmarsch der Russen keineswegs auf«, fuhr ich fort. »Man spielte weiterhin wilde Musik und machte auch mit allem anderen weiter, wenn die Bürokraten gerade nicht hinsahen. Ich bin das Ergebnis eines Kellerkonzerts und großer Mengen Marihuanas, könnte man sagen.«

»War dein Vater Musiker?«

»Er spielte in irgendeiner Band, an deren Namen ich mich nicht erinnere, aber einmal habe ich gehört, wie meine Mutter erzählte, dass er als Reserve bei den Primitives einsprang. Hast du von denen schon mal gehört?«

»Ich glaube nicht ...«

»Eine der vielen Sechziger-Jahre-Bands in Prag. Einige Bandmitglieder haben später die Plastic People of the Universe gegründet.«

»Die kenne ich«, sagte Patrick und strahlte. Wie allen Journalisten war es ihm wichtig, sich in allen Bereichen ein wenig auszukennen.

Die Plastic People of the Universe waren in der tschechischen Untergrundszene der 1970er legendär. Sie hatten Auftrittsverbot und machten daher heimlich weiter, bauten Radios zu Lautsprechern um und gaben Konzerte in Schuppen auf dem Land. Sie waren von Zappa und The Doors inspiriert und spielten meistens unter einem Banner mit dem Text Jim Morrison is our father. Anlass genug für mich, eine Zeitlang alle Doors-Platten zu kaufen und mir einzubilden, dass die Musik mich mit meinem Vater verbinde, ich in den Texten einen Hinweis auf seine Gedanken finden könne. Genau dieses Detail erzählte ich Patrick nicht.

»Als sie schließlich verhaftet wurden, kam es zu heftigen Protesten«, erzählte ich. »Václav Havel und andere Intellektuelle schrieben die Charta 77, die besagt, dass alle das Recht auf Meinungsfreiheit besitzen und man die Menschen nicht dafür einsperren kann, Musik zu machen und so weiter. Kurz nach den Gerichtsverfahren im Februar 1977 verschwand er.«

»Dein Vater? Was geschah denn damals? Wurde er verhaftet?« Patrick nahm meine Hand.

»Ich weiß es nicht. Er kehrte nie wieder zurück.«

»Was habt ihr gemacht?«

»Ich war drei Jahre alt. Was, glaubst du, hätte ich tun sollen?«

»Aber deine Mutter, eure Freunde, haben die denn nicht protestiert?«

»Meine Mutter hatte ein Kind zu versorgen«, antwortete ich und wich seinen Blicken aus. »Seinetwegen bekam sie keine Arbeit in dem Bereich, für den sie ausgebildet war. Sie musste die Kleider anderer Leute stopfen und putzen gehen. Es ist kein Wunder, dass sie wütend war.«

Ich brachte es nicht über mich, ihn anzusehen. Seine Augen, die immer mehr von mir wollten.

»Aber bist du denn nie zurückgefahren und hast versucht, ihn zu finden?«

Ich schüttelte den Kopf.

Im November 1989 war ich fünfzehn. Die Berliner Mauer war gefallen, im Fernsehen sah ich die Menschenmassen auf den Prager Wenzelsplatz strömen, Menschen, die mit ihren Schlüsseln klimperten und immer mehr wurden, Hunderttausende, und ich dachte, ich würde ihn wiedererkennen, sobald ich sein Gesicht sähe. Ich erinnere mich an die Kameraaufnahmen, die auf einen grauen Wellblechschuppen zoomten, auf den jemand mit breiten, schwarzen Buchstaben geschmiert hatte: It’s over – Czechs are free!

Dann las ich in der Zeitung, dass man das Geheimarchiv der Polizei öffnen wollte. Meine Mutter weigerte sich, über die Sache zu sprechen. Sie dachte beim besten Willen nicht daran, zurückzukehren. Und außerdem, fügte sie hinzu, würde ich in den Archiven sowieso nicht fündig werden.

»Sie haben alle überwacht«, sagte ich. »Natürlich muss es Aufzeichnungen geben.«

»Diese Archive sind voller Lügen«, sagte sie.

»Das kannst du doch wohl nicht wissen, ehe du etwas davon gelesen hast.«

»Ach du, das weiß ich zu genau.«

Ich erinnere mich noch immer an den Geruch ihres Parfüms, wenn sie sich näherte. Ich fand sie hässlich. Ich wollte meinem Vater ähnlich sehen.

»Und weißt du, warum ich es weiß?«, zischte sie mir ins Ohr. »Weil dein sauberer Herr Papa gelogen hat. Er log darüber, wo er gewesen war. Er sprach von freier Liebe, und diese Freiheit bekam er auch. Politik interessierte ihn nicht, er wollte nur Gitarre spielen und in der Gegend herumvögeln. In all den Jahren lief er von einer Nachbarin zur nächsten, alle wussten davon, außer mir. Er wollte kein Kind, das die Windeln vollschiss und abends schrie.«

»Warum hast du dann diese Sache vom Gefängnis erzählt?«, schrie ich. »Du hast behauptet, er wäre im Gefängnis.«

Ich riss mich los und warf mich aufs Bett, zitternd und bebend über all das, was zerbrach.

»Er ist abgehauen«, sagte meine Mutter. »Er hat uns verlassen. Und ich musste dafür büßen. Ich war diejenige, die keinen Job bekam und allein mit einem Kind in diesem Rattenloch zurückblieb.«

An diesem Tag hörte ich auf zu fragen.

Patrick legte seine Hand an meine Wange. Zog mich in seine Arme. Ein warmer Duft von Olive und Aftershave.

Wie auch immer, jetzt ist sie tot, dachte ich, und nichts von dem, was früher geschah, spielt länger eine Rolle. Es ist nicht mehr da. Die Zeit lässt alles hinter sich. Nur das Jetzt existiert und Patrick, der mich gefragt hat, ob ich bei ihm einziehen möchte. Dies ist ein Nullpunkt.

Ich wunderte mich beinahe die ganze Zeit darüber, dass er da war. Dass er nicht einfach wieder ging, nachdem er mich kennengelernt hatte.

»Ich wäre an deiner Stelle zurückgefahren und hätte nach ihm gesucht«, sagte er. »Ich wäre besessen davon zu erfahren, wo ich herkomme.«

»Es war zu weit weg, wir hatten kein Geld. Sie wollte nicht. Außerdem verlor sie in den letzten Jahren ihr Gedächtnis.« Ich trank einen Schluck Wein. »Und wie auch immer, jetzt ist sie tot.«

Patrick strich mir das Haar aus dem Gesicht und ich wünschte, er würde mich nicht so eindringlich ansehen. Dieser Blick, der mich dazu brachte, ganz ich selbst sein zu wollen.

»Kurz vor dem Fall des kommunistischen Regimes durften die Plastic People wieder auftreten«, sagte ich, »allerdings unter der Bedingung, dass sie ihren Namen änderten.«

»Sag nicht, sie haben sich darauf eingelassen?«

»Warum hätten sie es nicht tun sollen? Sie baten ja nicht darum, Helden zu sein, sie wollten einfach nur Musik machen.«

Ich hatte gelesen, dass die Band sich zunächst nicht einig war, doch am Ende hatten sie den Namen Pulnoc gewählt, was Mitternacht bedeutet, denn erst um Mitternacht wagten sich die sonderbaren Menschen auf die Straße. Der Albtraum von den freien Menschen, der jeden Bürokraten plagte: diejenigen, die sich nicht fangen oder regieren ließen, die ihre eigenen Wege gingen und Grenzen verschoben, diejenigen, die sich nicht den Normen beugten, nicht gehorchten oder sich einschüchtern ließen, die Fantasten und die Verrückten. Die plastic people eben.

»Aber nach der Samtenen Revolution nahmen sie natürlich wieder ihren alten Namen an und gingen als Legende auf Tour. Sie gaben sogar ein Konzert in der Knitting Factory

»Warst du dort?«

Ich schüttelte den Kopf. Damals war ich fünfundzwanzig gewesen. In Schale geworfen und geschminkt. Mit einem Bier in der Hand und Herzklopfen hatte ich zu Hause auf dem Bett gesessen und überlegt, was ich sagen sollte, wenn ich nach dem Konzert zu ihnen ging. Alles was ich wusste war, dass zwei der Bandmitglieder einmal mit meinem Vater zusammen gespielt hatten. Vielleicht. Vor dreißig Jahren.

»Ich bin nicht hingegangen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich keinen Namen hatte«, sagte ich, sah auf meine Hände und schluckte. »Ich wusste nicht, nach wem ich fragen sollte.«