PARIS

MONTAG, 29. SEPTEMBER

Etwa zehn Meter die Straße hinunter stand ein zerbeulter Peugeot. Ich erkannte ihn sofort wieder, als ich aus dem Hotel kam. Auf dem Fahrersitz saß eine Person, die mich direkt ansah.

Mit pochendem Herzen näherte ich mich dem Wagen.

Bald würde Olivier aus dem Hotel kommen, er hatte versprochen, mich zur Polizei zu begleiten, um eine offizielle Vermisstenanzeige aufzugeben. Sarah Rachid hatte recht, dachte ich. Die Justiz ist ein Fundament unserer Gesellschaft, und wenn wir nicht mehr darauf vertrauen, bricht es zusammen.

Ich ging die letzten Schritte zum Wagen und beugte mich zum Fenster. Erkannte die rostigen Felgen wieder, den schiefen Türgriff.

Langsam kurbelte sie das Fenster herunter. Diese Frau sah wirklich gut aus. Ein fein geschnittenes Gesicht, kurzes, dunkles Haar. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie Patrick im Hotel abgeholt hatte: So eine, der man als Mann hinterher sieht. Sie trug einen eleganten, blauen Mantel und wirkte auf dem schmutzigen Autositz deplatziert.

»Wer bist du?«, fragte ich.

Die Zeit für Höflichkeitsfloskeln war definitiv passé.

»Setz dich.« Sie wies auf den Beifahrersitz.

»Nie im Leben«, antwortete ich. Wenn sie tatsächlich in irgendeiner Weise in den Mord an Salif involviert war, dachte ich nicht daran, einen weiteren Ausflug mit ihr zu unternehmen.

Sie zögerte einige Sekunden lang, dann öffnete sie die Tür und stieg aus. Wir standen auf beiden Seiten des Autos. Gleich groß.

»Alena Cornwall«, sagte sie in einem gleichgültigen Ton, der mir das Gefühl gab, unbedeutend zu sein. »Mit Patrick Cornwall verheiratet. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Und wie heißt du?«

Keine Antwort. Wir taxierten einander mit Blicken, abwartend. Wie kann sie das wissen, dachte ich, in welchen Ecken hatte sie gelauert, um herauszufinden, wer ich war und was ich tat?

»Ich möchte einen Tausch vorschlagen«, sagte sie.

»Aha?«

»Wir können uns unterwegs unterhalten«, sagte sie und ging los. Wir gingen an Olivier vorbei, der gerade aus dem Hotel gekommen war, ich murmelte im Vorbeigehen, dass ich gleich zurück wäre. Er schnitt wilde Grimassen und zeigte auf ihren Rücken.

Dieselbe Frau. Danke, das hatte ich bereits begriffen.

Ich beeilte mich, sie einzuholen.

»Weißt du, wo Patrick ist?«, fragte ich.

Die Frau warf mir einen kalten Blick zu.

»Du hättest zurück nach New York fliegen sollen«, antwortete sie nur.

»Es ist mir egal, wer du bist«, erwiderte ich. »Ich will nur wissen, was mit ihm passiert ist.«

»Du kannst mich Nedjma nennen.«

Ich stutzte. Den Namen hatte ich schon mal gehört. Es dauerte einige Sekunden, bis ich den Zusammenhang herstellen konnte. Sarah Rachid hatte Nedjma am Vorabend erwähnt. Die Frau, mit der Arnaud ein Verhältnis hatte. Ein Müllwagen bremste in der Nähe, und das Scheppern der Blechtonnen hallte zwischen den Steinwänden wider. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte Arnaud ihr alles erzählt? Warum wollte sie mich aus der Stadt haben? Was hatte sie mit Josef K. zu tun?

Der blaue Mantel bog um eine Straßenecke, ich musste rennen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren, als das Menschengewimmel zunahm.

»Arnaud hat also von mir berichtet.« Ich keuchte, als ich sie an einem Zebrastreifen einholte.

Nedjma lächelte schief.

»Arnaud ist so naiv«, sagte sie und überquerte die Straße. »Er glaubt, dass alles gut wird, wenn man nur zu allen Menschen nett ist.«

»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht, steuerte stattdessen auf einen Park am Ende der Straße zu. Menschen gingen vorüber, Gesichter, die ich nicht wahrnahm. Ich musste ausweichen, um nicht mit einem Kinderwagen zusammenzustoßen. Wenn in dem Wagen kein Kind liegt, was ist es dann?, dachte ich immer, wenn ich einen sah. Eine Puppe, ein Hundewelpe, eine Sprengladung?

»Warum wolltest du, dass ich zurück nach New York fliege?«, fragte ich.

»Zu deinem eigenen Besten.« Sie ging durch eine hohe Pforte, und der Park umschloss uns mit seinem Grün, an den Rändern färbte sich das Laub bereits gelb. Statuen zwischen den Bäumen. Nedjma blieb stehen und sah mich an.

»Patrick nahm selbst Kontakt zu mir auf. Eines Tages rief er mich an und wollte über Josef K. sprechen. Woher hatte er meine Nummer?«

»Warum fragst du ihn nicht selbst?«

»Cornwall weigerte sich, seine Quelle anzugeben. Aber du bist auf keinen Fall Journalistin, auch wenn du dich dafür ausgibst.«

Ich dachte fieberhaft nach. Wenn der Taschenverkäufer Ärger bekam, war das auf keinen Fall mein Problem.

»Ein Typ, der Luc heißt und auf dem Markt in Saint-Ouen Taschen verkauft, bekam Geld dafür, ihm die Nummer zu verraten.«

»Verdammte Scheiße!« Sie fluchte auf Französisch, runzelte die Stirn und starrte eine Weile ins Grüne.

»Das muss eine Falle gewesen sein«, sagte sie schließlich.

»Wie meinst du das?«

»Komm, wir setzen uns dort drüben hin.« Sie zeigte auf einen großen Teich, auf dem kleine, farbenfrohe Segelboote schaukelten.

»Was weißt du über Josef K.?«, fragte Nedjma und setzte sich auf einen wackeligen Stuhl.

Ich setzte mich neben sie.

»Ein Menschenhändler aus dem Osten«, antwortete ich, »der offenbar ausgestiegen ist und sich vor seinen alten Kumpanen versteckt.«

»Jeder hat eine Achillesferse«, sagte Nedjma und beobachtete einige Kinder, die ihre Modellboote mit langen Stöckchen lenkten. »Josef K. hatte eine Patentochter, die ihm alles bedeutete. Sie war seine kleine Prinzessin, doch dann wuchs sie zu einem großen Mädchen heran. Vor einem Jahr reiste sie in den Westen, um Model zu werden und verschwand.«

Ich beobachtete sie im Profil, während sie erzählte, dass Josef K. völlig verzweifelt gewesen war und monatelang nach dem Mädchen gesucht hatte, in Amsterdam, London, Paris, ja in ganz Europa. Am Ende war er darauf gestoßen, dass sie seinem eigenen kriminellen Netzwerk auf den Leim gegangen war.

»Natürlich war niemand verantwortlich, der ihm nahestand, sondern eine Gruppierung, die parallel operierte und hauptsächlich von Bratislava aus agierte. So funktionieren diese Organisationen, wie eine Menge kleiner Inseln, die dem Anschein nach völlig unabhängig voneinander arbeiten.«

Nedjma griff nach einem Stöckchen und zeichnete damit in den Sand. Voneinander getrennte Inseln.

»Denn wenn die Polizei einen von ihnen einbuchtete, sollte es auch dabei bleiben. Diese Gruppe hatte keine Ahnung, dass sie die Patentochter von einem ihrer Bosse an ein Bordell in Köln verkauft hatte.«

»Und dann wurde plötzlich ein guter Mensch aus ihm«, sagte ich. »Wollte er damit an die Öffentlichkeit gehen und um Vergebung bitten, oder was?«

Nedjma warf mir einen verärgerten Blick zu,

»Kurz darauf starben in Bratislava zwei Menschenhändler unter dubiosen Umständen. Anschließend ging Josef K. zum höchsten Boss, zu dem er Kontakt hatte, und drohte ihm, das ganze Netzwerk auffliegen zu lassen, wenn er seine Patentochter nicht wieder nach Hause holen dürfe.«

»Und wer ist dieser höchste Boss?«

Sie sah sich nervös in alle Richtungen um, ehe sie antwortete.

»Er heißt Alain Thery«, flüsterte sie. »Ein Franzose, der eine erfolgreiche Beraterfirma betreibt, aber nur zur Tarnung. Die eigentlichen Geschäfte – und das große Geld – werden im Dunkeln gemacht.«

Mich fröstelte bei der Erinnerung an das leere Büro.

»Der perfekte Deckmantel«, sagte Nedjma. »Niemand reagiert darauf, wenn ein Berater eine Million pro Woche für Nichts berechnet.«

Sie machte eine Pause und sah mich an.

»Übrigens war es dein Mann, der herausgefunden hat, wie sie organisiert sind.«

»Wie denn?« Ein verwirrendes Gefühl von Glück inmitten des Ganzen. Weil Patrick gute Arbeit geleistet hatte. Was für ihn wichtiger war als alles andere.

Patrick hatte Leute beschattet und herumgeschnüffelt, sagte sie. Eine Baufirma, bei der Menschen ohne Papiere ohne Lohn arbeiteten, hatte behauptet, dass sie die Arbeiter von einer Arbeitsvermittlung leaste. Patrick hatte mit der Polizei gedroht und sie am Ende gezwungen, die Rechnung zu zeigen.

»Lugus«, sagte ich.

Nedjma nickte. Sie schlug mit dem Stöckchen in den Kreis, den sie in der Mitte des Organigramms gezeichnet hatte.

»Damit lässt sich eine Menge Geld verdienen«, fuhr sie fort. »Stell dir mal den Gewinn vor, wenn Tausende von Menschen Tag für Tag, Jahr für Jahr für dich arbeiten, ohne dass du Lohn und Versicherungen zahlen musst.«

Plötzlich fiel mir auf, dass die Zeichnung im Sand aussah wie die Skizze jedes beliebigen, modernen Unternehmens. Ich erinnerte mich an Patricks Artikel über die New Economy, es war die gleiche Struktur beziehungsweise das völlige Fehlen einer Struktur, die er offengelegt hatte. Unternehmen wurden zerschlagen und in kleinere Inseln aufgeteilt, die wie Projektgruppen oder normale, kleinere Unternehmen organisiert waren. Dem Anschein nach waren sie frei und selbständig, wurden jedoch aus der Mitte heraus mit einer neuen Form der starken Hand regiert. Die Aufträge wurden mit deutlichen Ansagen vergeben. Eine Gruppe, die die Vorgaben nicht erfüllte oder nicht vorschriftsgemäß lieferte, wurde sofort abgestoßen. Niemand war unersetzlich.

»Menschenhandel ist ein attraktives Verbrechen«, erklärte Nedjma, »denn es ist lukrativ und nahezu risikofrei. Es gibt immer Menschen, die einen Job suchen, um jeden Preis. Je höher die Mauern um sie herum gebaut werden, desto größer ist die Chance, dass sie schweigen. Alle wollen billige Arbeitskräfte haben, und niemand will wissen, wo sie herkommen. Und diese Geschäftsleute werden nie gefasst, denn sie haben überall Freunde. Einflussreiche Freunde ...«

»Wie Guy de Barreau zum Beispiel«, sagte ich.

Sie nickte. »Patrick hatte den Verdacht, dass Alain Thery zu denen gehörte, die sein Engagement finanzierten.« Ihr Blick verweilte bei einem älteren Paar, das gemeinsam Tai Chi machte, einer folgte den Bewegungen des anderen in einem lautlosen Tanz.

Sie strich mit ihrem Stiefel über den Sand und verwischte die Zeichnung.

»Ich möchte die Informationen haben, die Patrick Cornwall dir geschickt hat«, sagte sie. »Wir hatten eine Vereinbarung.«

»Wenn du mir sagst, wo er hingereist ist.«

Nedjma streckte die Hand aus. Ich holte das Notizbuch aus der Tasche, den Umschlag mit den Bildern. Schweigend blätterte sie das Material durch.

»Ist das alles?«, fragte sie. Und dann folgten die Worte, die alles in mir zum Stillstand brachten. »Hat er denn nichts aus Lissabon geschickt?«

Langsam drehte ich mich zu ihr um. Lissabon? War Patrick nach Lissabon gereist? In mir stiegen die Tränen hoch. Warum hatte mir niemand davon erzählt? Ich hatte gesucht und gesucht, bald eine Woche war damit vergangen.

»Ist er nach Lissabon geflogen?« Als ich die Worte herausgepresst hatte, folgte die Wut, ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Aus solchen wie ihr hatte ich schon in der Highschool Hackfleisch gemacht. »Und ihr Mistkerle habt das die ganze Zeit gewusst? Warum zum Teufel konnte mir dein Bettgenosse das nicht sagen?«

Sie zog lediglich eine Augenbraue hoch.

»Arnaud wusste davon nichts«, antwortete sie.

»Nicht? Naja, dann hat er immerhin die Wahrheit gesagt.«

Nedjma warf mir das Notizbuch hin.

»Damit kann ich nichts anfangen«, sagte sie und fuhr fort, die Bilder von Alain Thery und Guy de Barreau zu studieren.

»Aber die hier behalte ich«, erklärte sie und stopfte sie in ihre Jackentasche.

»Erzähl mir von Lissabon«, bat ich und schluckte.

Sie holte ein kleines Silberetui hervor und klopfte eine Zigarette heraus.

»Dort haben wir Josef K. versteckt, weil es eine Stadt ist, in der sein Netzwerk nicht agiert.« Sie zündete die Zigarette an und blies den Rauch in den Himmel. »Josef K. war einst ein sehr penibler KGB-Agent, und er hörte auch später nicht damit auf, alles zu dokumentieren – Transaktionen, Namen, Adressen. Er protokollierte das Leben seiner Freunde bis ins kleinste Detail.«

»Patrick reiste also nach Lissabon, um ihn zu interviewen?«

Nedjma nickte.

Patrick hatte sie am Montag vor zwei Wochen angerufen. Von Arnaud wusste sie, dass er Journalist war. Arnaud und sie kannten sich schon lange, waren aber auf politischem Gebiet unterschiedliche Wege gegangen. Arnaud wollte den Menschen helfen, so gut es ging, Nedjma wollte das System unterwandern und von innen heraus zerstören. An dieser Stelle rückte Josef K. auf die Bildfläche – und Patrick.

Sie hatten eine Übereinkunft getroffen.

Patrick sollte ein Exklusiv-Interview bekommen und im Gegenzug Josef K.’s Zeugenaussage protokollieren und das Dokument außer Landes bringen. Wenn alles über die Bühne war, würde Josef K. ein Ticket nach Brasilien erhalten. Gemeinsam mit Patricks Bildern und Salifs Zeugenaussage war das eine Bombe mit großer Sprengkraft, die in Justiz und Medien detonieren, das kriminelle Netzwerk zersplittern und einen solchen Schaden für die Regierung bedeuten würde, dass anschließend ein Wechsel möglich wäre.

Ihre Augen funkelten, als sie von der Explosion sprach, deren Echo bis in den Präsidentenpalast reichen würde.

»Und wo ist Patrick jetzt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nedjma und wandte den Blick ab. »Seit seiner Abreise habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Das ist zwei Wochen her«, sagte ich. »Begreif doch, ihm muss etwas zugestoßen sein!«

Nedjma warf die Zigarette weg, sie qualmte im Sand vor sich hin.

»Verdammt noch mal, jetzt sag mir, was in Lissabon passiert ist!«, brüllte ich. Ein kleiner Junge blickte auf der anderen Seite erschrocken über den Rand des Teichs. Sein Segelboot geriet außer Kontrolle und trieb ab.

»Wir wissen es nicht«, sagte Nedjma. »Wir wissen nicht, was in Lissabon passiert ist.«

Ich starrte sie an.

»Zumindest zu deinem merkwürdigen Aussteiger hast du doch wohl Kontakt. Ist er noch da?«

»Josef K. ist tot«, antwortete Nedjma.

»Was?« Etwas in meinem Kopf begann zu schrillen, eine Alarmglocke, die aus dem Nichts kam. »Wie ist er gestorben? Und wann?«

»Mittwoch vor zwei Wochen. Er fiel von einer Terrasse. Die Polizei glaubt, dass es sich um Selbstmord handelt.« Sie zog die Augenbrauen hoch, zum Zeichen, dass sie nicht an diese Theorie glaubte. Ich sah sie verwirrt an und brachte kein Wort hervor. Das war einen Tag, nachdem Patrick nach Lissabon gefahren war.

»Seine alten Freunde müssen davon Wind bekommen haben, dass ich ihn versteckt hatte«, fuhr Nedjma fort. »Und dann gaben sie die Information an Patrick weiter, damit er sie zu Josef K. führte. Sie rechneten wohl damit, dass ich einem amerikanischen Journalisten vertrauen würde.« Sie stand wieder auf, sah sich erneut um und ging in Richtung des Zauns, der den Park umgrenzte. »Seit er Paris verlassen hat, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Cornwall wusste, worauf er sich einließ. Es war seine freie Entscheidung, dorthin zu reisen.«

Ich lief ihr hinterher und bekam ihren Mantel zu fassen. »Also war er dir völlig egal, du verdammte ...«

»Du hast also deinen Mann verloren«, sagte sie ruhig. »Bei dem Menschenhandel, von dem ich gerade erzählt habe, sterben jeden Tag Menschen, und trotzdem zählt nur dein eigener Verlust. Warum? Weil du ein wertvollerer Mensch bist?«

Sie machte sich von mir los und packte meine Handgelenke.

»Willst du denn gar nicht wissen, was aus der kleinen Prinzessin wurde? Seiner Patentochter? Am Ende kehrte sie zu ihm zurück. Zwei Monate später, in einem Sarg.«

Ich fröstelte und zog die Jacke enger um mich.

»Ich muss nach Lissabon fahren«, sagte ich.

»Du bist morgen auf den ersten Flug um 6:25 Uhr ab Charles de Gaulle gebucht«, erklärte sie. »Jemand wird einen Umschlag mit deinen Reiseunterlagen an der Rezeption deines Hotels hinterlegen. Du hast ein Zimmer im selben Hotel, in dem auch Cornwall wohnte.« Sie beugte sich näher zu mir. »In dem Kuvert findest du auch eine Poste Restante-Adresse, an die du die Dokumente schicken musst, falls du sie findest. Ich gehe davon aus, dass du unsere Abmachung einhältst.«

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging. Ein blauer Fleck, der sich zwischen den Bäumen entfernte.

»Warte«, rief ich. »Wir haben verdammt noch mal keine Abmachung!«

Ich rannte ihr nach und sah sie neben einem Café eine Treppe hinabgehen, ein Schild gab darüber Auskunft, dass es zu den Toiletten ging.

Dort unten war es für eine öffentliche Toilette überraschend sauber und hübsch, mit Blumentöpfen auf dem Treppenabsatz. Ich wartete fünf Minuten, doch Nedjma kam nicht heraus, also ging ich zu der Frau, die vor den Türen postiert saß, sie war klein und rundlich, trug ein schwarzes Kopftuch und hatte eine Schale Münzen vor sich stehen.

Mühsam kramte ich Wort für Wort aus meinem Gedächtnis hervor, und am Ende gelang es mir tatsächlich, einen vollständigen französischen Satz zu bilden.

»Entschuldigen Sie, ich suche eine Frau mit einem blauen Mantel, ist sie da drin?« Excusez-moi je cherche une femme ...

Die Klofrau zuckte mit den Schultern. Ich legte eine Zwei-Euro-Münze in die Schale und wiederholte die Frage.

Keine Antwort.

»Gibt es einen anderen Ausgang?«, fragte ich, une autre sortie?

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Nicht verstehen Französisch«, sagte sie.

Die Polizeiabsperrung war entfernt worden, und vor der Einfahrt auf der Rue Charlot schien alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen.

Keine Spur von dem Mann, der dort am Morgen zuvor tot und grausam misshandelt gelegen hatte. Ich fragte mich, ob Salifs Familie je erfahren würde, was geschehen war, ob man ihn jemals identifizieren würde.

Arnaud Rachid öffnete die Tür. Ich hatte angerufen und ihn vorgewarnt, dass ich auf dem Weg zu ihm war, also hatte er sich darauf einstellen können.

»Sie hat mir verboten, etwas zu sagen, was hätte ich tun sollen, ich hatte keinerlei Einfluss darauf!«

Ich tötete ihn mit Blicken, ging durch die Tür und stieg die Treppe empor, während Arnaud wie ein reuevoller Köter hinter mir her scharwenzelte.

Wie angekündigt war die Buchungsnummer des elektronischen Tickets bereits an der Rezeption für mich hinterlegt, zusammen mit einer Buchungsbestätigung für zwei Übernachtungen in einem Hotel. Arnaud zur Rede zu stellen war das Einzige, was ich noch erledigen musste, bevor ich Paris verlassen würde – und zwar für immer.

»Und außerdem hättest du ja wohl sagen können, dass du mit Patrick verheiratet bist, wie hätte ich das bitte erraten sollen?«

Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und wandte mich zu ihm um.

»Und du hättest sagen können, dass deine Freundin ihn nach Lissabon gelockt hat.«

»Sie ist nicht meine Freundin«, sagte Arnaud.

In der vollgestopften Bürohalle sank er auf seinen Stuhl.

»Noch dazu wusste ich überhaupt nicht, dass er nach Lissabon fahren würde.« Er fuhr sich durchs Haar. »Sie erzählt mir nicht alles. Ich habe ihr gesagt, dass ich es lieber gar nicht wissen will.«

»Wer ist sie eigentlich?«, fragte ich.

Arnaud lachte, und sein Blick verfinsterte sich für einen Moment.

»Die Frau, die alle Männer lieben. Doch niemand bekommt sie«, sagte er leise. »Sie kommt und geht wie die Jahreszeiten.«

»Erspar mir deine Poesie«, fuhr ich ihn an.

»Das ist aus Nedjma, einem großen algerischen Roman. Die Hauptfigur heißt Nedjma, aber der Name ist auch ein Symbol. Er bedeutet Stern

Ich setzte mich auf den Rand seines Schreibtischs und stieß dabei versehentlich gegen einen Stapel Zeitungen, der auf den Boden rutschte. Ich kümmerte mich nicht darum.

»Sie stammt also auch aus Algerien?«

»Nein, nein, das ist nur ein Name, den sie sich ausgesucht hat, ein Pseudonym.« Arnaud fingerte nervös an einem Stift, trommelte damit auf den Schreibtisch. »Sie ist in Neuilly-sur-Seine aufgewachsen, sagt dir das was? Da wohnt auch der Präsident.« Er lächelte ein wenig. »Doch im Unterschied zu ihm war sie tatsächlich auf der Sciences Po. Ihr Vater hat sie dazu gezwungen, und sie sagt, das Einzige, was sie dort gelernt hätte, wäre alles zu hassen, für das diese Welt steht.«

»Wie heißt sie mit richtigem Namen?«

»Es ist besser, wenn du das nicht erfährst. Sie hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, sie verwendet nie ihren richtigen Namen. Seit Kurzem ist sie völlig untergetaucht. Ich weiß nicht einmal, wo sie derzeit wohnt.«

»Seit das in Lissabon passiert ist?«, fragte ich.

»Ich weiß nur, dass sie Josef K. versteckt hat und er jetzt tot ist. Jemand hat Informationen über sie weitergegeben.« Arnaud sah sich um. Nervös, verzweifelt. Er senkte die Stimme. »Es sind dieselben Menschen, die Salif aufgespürt haben. Am Ende werden sie auch Nedjma finden.«

»Wie kannst du wissen, dass sie nicht auch mit dir ein doppeltes Spiel treibt?«

»Ich bin nicht mit all ihren Methoden einverstanden, aber ich weiß, wie sie ist, wenn niemand anders zusieht, wenn nur sie ...« Er unterbrach sich und blickte mich an. »Sie ist wahrhaftiger als jeder andere Mensch, den ich je kennengelernt habe.«

»Warst du in der Nacht, als es brannte, bei ihr?«

Arnaud blickte unglücklich drein. Ich überlegte, ob er darunter litt, am falschen Ort gewesen zu sein, oder ob es ein Ausdruck des Leidens darüber war, eine Frau wie Nedjma zu lieben.

»Wer mit ihr zusammen ist«, sagte er, »bewegt sich auf der Grenze zwischen Himmel und Hölle. Es ist ein Ort, an den die wenigsten je gelangen.«

Es brannte in meiner Brust. Ich sah weg, wollte nicht mehr über sein Liebesleben wissen, über niemandes verteufeltes Liebesleben, und in derselben Sekunde fiel mir auf, dass der Platz, an dem Sylvie gesessen hatte, nun leer war. Vielleicht war sie nicht mehr so engagiert, wahrscheinlich hatte sie die Hoffnung auf Arnaud aufgegeben. Die Konkurrenz war zweifellos hart.

»Wo ist denn deine andere Verehrerin?«, fragte ich. »Ich dachte, sie wäre so gut wie immer hier.«

»Du meinst Sylvie? Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, ich habe sie schon seit gestern Vormittag nicht mehr gesehen.«

Wir schwiegen. Seine Worte blieben in der Luft hängen.

Gestern Vormittag. Seit er Salif tot auf der Treppe vor diesem Haus gefunden hatte.

Doch in diesem Moment sah ich nicht ihn vor mir, sondern Sylvie. Und allmählich nahm ein Gedanke Form an, etwas, das ich zwischen den vielen, verstreuten Puzzleteilen übersehen hatte.

Das Mädchen mit den kurzen Haaren und den zerrissenen Jeans, das überall dort auftauchte, wo Arnaud war. Und das sich so eifersüchtig einmischte.

Zum Teufel, dachte ich. Könnte es einen solchen Zusammenhang tatsächlich geben?

Ich ging zu dem Platz, an dem sie gesessen hatte, an Kartons mit Plakaten und Gerümpel vorbei. Versuchte mich zu erinnern, was sie gesagt hatte: Sie hatte mit mir über Josef K. gesprochen und verraten, dass Arnaud die Männer kannte, die bei dem Feuer umkamen. Nichts sonderlich Bemerkenswertes, dennoch drängte sich der Verdacht immer stärker auf.

Auf Sylvies Schreibtisch lagen Flugblätter verteilt. Davon abgesehen gab es weder schmutzige Tassen noch persönliche Gegenstände, kein Foto, keine Briefe oder etwas anderes, das ihren Namen trug. Nicht einmal einen Kalender. Arnaud hatte gesagt, dass sie erst seit Kurzem für die Sache kämpfte. Ich hob Stapel mit Zeitschriften und den üblichen Büchern hoch, Che Guevara und Malcolm X.

»Was machst du da?«, fragte Arnaud von seinem Platz aus. Ich sah auf und bemerkte, dass er von dort alles beobachten konnte. Und obwohl er nicht besonders laut sprach, konnte man ausgezeichnet verstehen, was er sagte. Etwas weiter entfernt im Raum saß ein Junge mit Pferdeschwanz und spielte Computerspiele. Der Raum und seine Steinwände verstärkten alle Geräusche.

»Was weiß du eigentlich über Sylvie?« Ich zog einige Schubladen heraus. Sie waren leer.

»Sie hatte wohl Angst nach der Sache mit Salif«, antwortete Arnaud, »sonst ist sie eigentlich immer hier.«

»Oder kann es vielleicht sein, dass sie ihren Auftrag schon erfüllt hat?«, fragte ich.

»Du, das ist wohl eher unwahrscheinlich«, sagte er, »es wird noch Generationen dauern, bis die Welt wieder ein gerechter Ort ist und alle Menschen die gleichen Rechte haben.«

Ich ging zurück und setzte mich wieder vor ihn auf den Schreibtisch. Musste daran denken, wie sie sich hinter unserem Rücken angeschlichen hatte, als wir über Josef K. sprachen.

»Weißt du, wer sie ist, wo sie wohnt, was sie gemacht hat, bevor sie hierher kam?«

»Wieso sollte ich? Für gewöhnlich unterziehen wir die Leute, die hier arbeiten, keiner Kontrolle.« Seine Stimme wurde schärfer. »Wir sind froh über jeden freiwilligen Helfer.«

»Also wäre es mit anderen Worten kein Problem, eine Person hier einzuschleusen«, sagte ich langsam. »Wenn jemand herausfinden möchte, womit ihr arbeitet. Wen ihr versteckt und wo, zum Beispiel.«

»Wie meinst du das?« Er zupfte an seinem Schal, wickelte ihn auf und legte ihn erneut um, starrte mich an. »Sie ist ziemlich nervtötend, aber du kannst sie doch wohl nicht verdächtigen ...«

Ich unterbrach ihn.

»Woher wussten sie dann, dass Salif lebt?«, fragte ich. »Und wer hat ausgeplaudert, dass Nedjma Josef K. versteckte?«

»Du hast sie nicht mehr alle!« Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl gegen die Wand schlug, ging zu Sylvies Platz und riss die Schubladen heraus, drehte jeden Zeitungsstapel um. Hielt inne und sah mich mit einem Anflug von Verzweiflung im Blick an. »Verdammt, ich dachte, sie wäre einfach nur ...«

»Verrückt nach dir«, vollendete ich seinen Satz. »Das eine schließt das andere wohl nicht aus.«

Arnaud raufte sich die Haare und sah verzweifelt aus. Ich warf einen Blick auf die Uhr.

»Hattest du ihr erzählt, dass Salif den Brand überlebte?«

Er schüttelte den Kopf.

Nach und nach fügten sich die Puzzleteile zu einem Ganzen.

»Vielleicht dachten sie, dass er tot wäre, bis ich dich letztens anrief und mehr wissen wollte«, sagte ich. Sylvie hat natürlich gelauscht, und auch wenn du ihr nicht direkt etwas verraten hast, wird sie sich gedacht haben, dass es um Salif ging.«

Arnaud sank auf den Stuhl.

»Und dann ist es ihnen gelungen, ihn zu finden«, resümierte er, und seine Gesichtszüge entgleisten, als habe er alle Kraft verloren. »Ich kann mich nicht erinnern, was ich ihr gesagt habe, aber man redet ja ...«

»Könntest du etwas darüber gesagt haben, dass Nedjma Josef K. versteckte?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Arnaud mit brüchiger Stimme, »vielleicht, nicht direkt, ich erinnere mich nicht.« Er begrub sein Gesicht zwischen den Händen, und ich hörte, wie ihm die nächste Einsicht kam, er wimmerte, und ich drehte mich weg, um seinen Zusammenbruch nicht mit ansehen zu müssen.

»Nein«, jammerte er. »Nein, nein ...«

Mehrere Minuten vergingen, ehe er etwas Verständliches herausbrachte.

»Sie half mir, Essen dorthin zu bringen.« Er presste die Worte einzeln hervor. »Sylvie wusste, dass ich sie im Hotel versteckte.«

»Aber eine Sache wusste sie nicht«, sagte ich. »Sie konnte nicht wissen, wo Josef K. sich versteckt hielt, denn das hatte Nedjma dir nicht erzählt, oder?«

Er sah nicht mal mehr auf, so sehr war er in seiner eigenen Schuld und Reue versunken. Es spielte auch keine Rolle, den Rest konnte ich mir selbst zusammenreimen.

Sie hatten stattdessen Patrick benutzt, um Josef K. zu finden. Hatten sich einen Informanten auf dem Markt erkauft, um ihn auf die Fährte zu setzen. So wie man Taschen kaufte, dachte ich; alles war käuflich.

Doch es stimmte nicht ganz. Patrick hatte sich nicht kaufen lassen. Genauso wenig war es ihnen gelungen, ihn einzuschüchtern. Er hatte nicht aufgehört, sich Alain Thery aufzudrängen, wie eine lästige Fliege, die man nicht vertreiben konnte. Er ließ sie nicht entkommen.

Eine französische Redensart tauchte in meinem Kopf auf:

Faire d’une pierre deux coups. Als ich ins dunkle Treppenhaus kam, musste ich mich am Geländer abstützen. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, mit einem Schuss zwei Hasen töten, zwei Vögel mit einem Stein treffen – es gab diese Redewendung in verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen Versionen, aber der Sinn war derselbe: zwei zum Preis von einem.

Josef K., der gegen seine alten Komplizen aussagen wollte.

Patrick, der ihre Machenschaften in seiner Reportage aufdecken wollte und zu viel wusste.

Ich erinnerte mich, wo ich dieses Sprichwort schon einmal gelesen hatte, sowohl auf Englisch als auch auf Französisch. Auf der Website von Lugus. Unser Motto in allen Lagen lautet: Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Und ich begann aus einem irrationalen Impuls heraus zu rennen, immer die Straße entlang, bis zu der stärker befahrenen Rue Bretagne, wo ich ein Taxi anhalten konnte.

Als ob es einen Weg gäbe, schneller nach Lissabon zu gelangen.