TARIFA

SAMSTAG, 27. SEPTEMBER

Das Zimmer hatte ein Fenster, das mit Pappe und dickem Stoff abgedunkelt war. Der Tag quetschte sich durch einen schmalen Spalt und warf einen Sonnenstreifen quer über ihre Decke. Sie lag im Bett und hörte, wie die Kirchenglocke sieben Uhr schlug. Viertel nach sieben. Halb acht.

Mit jedem Schlag versank alles tiefer im Wasser. Die Zeit nahm ihre Erinnerungen mit sich. Bald würde sie auch ihren Namen vergessen haben. Sie stellte sich vor, dass alles auf dem Grund des Meeres lag, vielleicht wie eine Perle, in einem Schneckenhaus oder in einem Ring an der Hand der Meeresgöttin Owu.

Sie packte ihr steifes Bein und zerrte es zur Bettkante, setzte ihre Füße auf den glatten, kalten Boden.

Die Frau mit den Ketten hatte sie wieder und wieder nach ihrem Namen gefragt.

Wie heißt du?

Woher kommst du?

Und jedes Mal blickte sie schweigend zu Boden, als sei sie stumm.

Sie nahm den dünnen Morgenmantel, der über einem Stuhl neben dem Bett hing, und zog ihn über. Er gehörte Jillian und duftete nach ihr. Alles in diesem Zimmer roch nach der Frau mit den vielen Ketten. In der ersten Nacht war sie im Dunkeln aufgewacht, heiß vom Fieber und mit dem Duft wie einer schweren Decke über sich, Rosen und Moschus. Dies ist der Duft des Paradieses, dies ist der Tod, hatte sie gedacht.

Dann hatte sie gehört, wie die Kirchenglocke schlug. Draußen hatten Schritte geknarrt. Der Türgriff wurde mit einem quietschenden Geräusch nach unten gedrückt, und das Licht durchflutete den Raum, in der Tür eine Gestalt, ein flatternder Schatten. Und noch einer. Sie hatte sich dichter an die Wand gedrückt und die anderen in einer fremden Sprache sprechen gehört.

Sie kommen, um mich zu holen, hatte sie gedacht, doch stattdessen hatte dieser Duft den Raum erfüllt, und jemand hatte sich auf die Bettkante gesetzt. Sie hatte die Augen geschlossen, und die Wellen waren über ihre Lider geschwappt, die Dunkelheit dahinter barg das Meer und die unaufhörlichen Schreie. Als sie die Augen wieder aufgeschlagen hatte, sah sie eine grüne Baumwollbluse und sieben Ketten übereinander, mit Perlen und Steinen und Silberanhängern.

»Ich habe einen Tee für dich«, hatte die Frau gesagt, diesmal auf Englisch. Ihr Tee schmeckte bitter und süßlich zugleich, mit Milch und etwas Honig.

Die Tasse hatte zwischen ihren Händen gezittert.

»Ich heiße Jillian.« Eine heisere Stimme. »Ich weiß nicht, ob du dich erinnern kannst, wie du hierher gekommen bist.« Jillian war aufgestanden und zur Tür gegangen, und plötzlich war das Licht im Zimmer angegangen.

Sie war zusammengezuckt und hatte sich Tee über die Hände geschüttet. Die heiße Flüssigkeit hatte in einer Wunde auf der linken Handfläche gebrannt, dort, wo das Tau entlanggeschrammt war, während sie versucht hatte, sich am Boot festzuhalten, als man sie wegstieß.

»Hab keine Angst«, hatte die heisere Frauenstimme gesagt. »Du bist unter Freunden.« Dann war das Licht wieder ausgeschaltet worden, und sie war allein.

Die Nacht war anders als der Tag. Nachts gab es keinen Lichtstreifen im Fenster. Tagsüber hörte sie draußen Autos und Stimmen, die sie nicht verstand.

Sagt niemals euren Namen.

Gebt uns eure Papiere.

Sprecht nicht darüber, an welchen Gott ihr glaubt, wer euch hierher gebracht hat, woher ihr kommt.

Manchmal waren sie plötzlich im Zimmer. Die Schlepper, die in der Nacht wie Schlangen zischten, hurry, hurry und shut up, und sie auf dem steinigen Pfad vor sich her schubsten, als sie zum Wasser stolperten und sie zum ersten Mal hörte, wie ein Meer tosen kann. Wie es tobt und wütet und sich über die Klippen bäumt.

»Du hast Fieber«, hatte Jillian gesagt. »Wir müssen jemanden bitten, sich dein Bein anzusehen. Verstehst du, was ich sage?«

Bitte, lass es nicht die Seuche sein, dachte sie. Genauso fängt sie an.

Der erste Mann hatte sich ihr in der Wüste aufgezwungen. Lieber Gott, hatte sie gedacht, als er sie im Lager holte und sie in ein Auto zog, bewahre mich einfach nur vor der Seuche.

Inzwischen war das Bein bandagiert. Sie strich mit der Hand über den Verband. Drei Tage waren vergangen, und das Fieber war gesunken.

»Du bist in meinem Haus«, hatte Jillian an einem anderen Tag gesagt. »Meine Nachbarn dürfen nicht erfahren, dass du hier bist. Wir können ihnen nicht trauen. Deshalb darfst du nicht nach draußen gehen. Sie dürfen dich nicht durch das Fenster sehen. Sonst könnte es sein, dass die Polizei kommt. Du würdest in ein Internierungslager gebracht. Verstehst du, was ich sage? Detention camp. Ich bekomme Schwierigkeiten, wenn sie dich in meinem Haus finden. Verstehst du? Problems.«

Drei Tage lang hatte sie geschwiegen.

Geschlafen.

Immer wenn sie die Augen schloss, verschwand alles um sie herum, und das Meer war erneut über ihr. Das Fieber wütete und ließ sie zittern, das Boot wurde von den Wellen hin und her geschleudert, sie roch den Gestank von Erbrochenem im Wind.

Als sie zum ersten Mal das Gefährt gesehen hatte, das am Ufer schwappte, war sie erstarrt, denn es war nicht einmal ein richtiges Boot. Es war aus Gummi, platt wie ein Floß, mit niedrigen Kanten. Es gab keine Sitzbänke und auch kein Dach, unter dem man Schutz suchen konnte. Nur Taue zum Festhalten, die an den Kanten verliefen. Sie waren insgesamt zwölf Personen gewesen, die in dieser Nacht an Bord gingen. Einer der Schleuser schlug ihr mit einem Stock auf den Rücken. Hurry, hurry. Sie wurden weiter geprügelt, bis alle ins Boot geklettert waren und mit angezogenen Knien so eng nebeneinander gepfercht saßen, dass sich niemand mehr bewegen konnte. Drei Männer schoben und zogen das Boot ins schwarze Wasser. Der Himmel war schwarz, ohne Mond, ohne Sterne, nur einige Wolken, die tief über den Bergen hingen.

Sie saß weit hinten, mit den Knien am Rücken des Jungen, der vor ihr saß und Taye hieß. Es war verboten, den Namen der anderen zu wissen. Der Wind zerrte an den Tauen, ihre Hände waren bereits nass. Das Boot schaukelte in die Nacht hinaus. Zwei der Schleuser standen an der hinteren Reling neben dem Motor, der dritte ganz vorn. Sie trugen Westen, die sie aufgebläht aussehen ließen, fast wie Bälle. Plötzlich begannen sie an den Kleidern der Frau neben ihr zu zerren. Die Uhr, gib mir den Schmuck, dein Geld, deine Tasche.

Sie begriff nicht, was geschah. Sie hatten alle im Voraus für ihre Überfahrt gezahlt, am Abend, bevor sie abgeholt wurden, um sich näher beim Strand zu verstecken. Plötzlich schlug ihr einer der Männer mit dem Stock auf den Kopf. Sie versuchte, sich mit den Armen zu schützen. Sie hatte kein Geld mehr übrig.

Es macht nichts, dachte sie, als sie ihre Uhr abnahm. Ihre Halskette. Die Stofftasche, in der sie ein paar Sachen zum Wechseln hatte, ein Stück Seife. Wenn ich nur lebend ankomme, habe ich mein Ziel erreicht.

Einer der Passagiere konnte sich nicht beherrschen. Er stand auf und schrie die Schleuser auf Yoruba an, sie schrien in einer Sprache zurück, die sie nicht verstand, und das Ruder sauste durch die Luft und traf den Mann von der Seite, sodass er stürzte. Der Schleuser stieg über diejenigen, die im Weg saßen, zerrte an dem Bein des Mannes, warf ihn über Bord und prügelte auf diejenigen ein, die in der Nähe saßen, sie duckten sich, murmelten und beteten, während die Schreie des Mannes hinter ihnen in der Dunkelheit erstarben.

Sie schloss die Augen und umklammerte ihre Beine. Guter Gott im Himmel, betete sie innerlich, bringe diese Wahnsinnigen zur Ruhe und das Meer, lass mich am Leben. Lass Taye am Leben, fügte sie hinzu, um Gott zu besänftigen, nimm mich, aber lass den Jungen leben, er ist erst sechzehn Jahre alt und der einzige Sohn seiner Eltern. Dann sagte sie lautlos die Namen aller anderen auf, die im Boot waren, einen nach dem anderen, wobei sie auf den Boden des Bootes sah, unter dem sie das tosende Meer spüren konnte; die heimlichen, echten Namen, die sie einander in der Nacht im Versteck zugeflüstert hatten, obwohl man ihnen eigentlich befohlen hatte, zu schweigen.

Die Frau neben ihr erbrach sich in die Dunkelheit, und um sie herum schwollen das Jammern und die Gebete an, ein Klagegesang, der mit den Wellen eins geworden war. Sie bohrte ihre Stirn gegen die Knie und betete auch zur Meeresgöttin Owu, obwohl sie nicht an die alten Götter glaubte, an die Geister der Greise und ländlichen Dörfer, an den Aberglauben und die Magie, die Afrika hilflos in der Vergangenheit gefangen hielten. Sefi hätte an meiner Stelle sein sollen, dachte sie und sah das Gesicht der Schwester vor sich, an jenem Abend, als sie von ihrer Entscheidung berichtete, Sefis Platz zu übernehmen und ihre Reise anzutreten. Jemand musste Geld nach Hause schicken. Die Brüder waren bereits in South-South und jagten den Jobs in der Ölindustrie hinterher, doch es kam kein Geld von ihnen.

Dann geschah das Wunder. Das Meer beruhigte sich. Als sie aufsah, ahnte sie auf der anderen Seite Licht und dankte Gott und Owu, wer auch immer von beiden nun den Wind zum Abflauen gebracht hatte. Nun kam wieder Bewegung in die Schleuser am Ende des Bootes. Sie packten einen Mann, der ganz außen saß, er schrie und zappelte, aber sie schlugen ihm auf den Kopf und zerrten an seinen Armen. »Spring, spring!«, brüllten sie.

Alles geschah so schnell in der Dunkelheit. Plötzlich fuchtelte im Wasser ein Mann mit den Armen, schrie und verschwand. Es war einer von jenen, die nie zuvor das Meer gesehen hatten, er kam aus einem Land, wo der Lehm die Flüsse aufsaugte und in Sand verwandelte. »Helft ihm!«, rief jemand, »So helft ihm doch!« Aber die Schleuser lachten nur und schrien, und die Wellen stiegen erneut höher, und das Meer bäumte sich ihnen entgegen, als der nächste Mann ins Wasser geschleudert wurde, und dann noch einer. Herrgott im Himmel, sie töten uns, dachte sie noch, als sie im nächsten Moment sah, wie sie Taye vor ihr in die Luft hoben. »Er ist doch noch ein Kind!«, schrie sie, und im nächsten Moment spürte sie, wie einer der Männer auch ihren Arm packte und sie zu der weichen Reling zog. Sie griff nach dem Tau und klammerte sich fest, doch sie zerrten an ihren Beinen und prügelten mit den Rudern auf sie ein, und am Ende beförderten sie sie über Bord, und das Tau löste sich und folgte ihr. Das Meer schleuderte sie vom Boot weg, zwischen Arme, die fuchtelten und um sich schlugen und sie packen wollten, doch sie befreite sich, indem sie um sich trat. Sie wollten sie in die Tiefe ziehen, und sie begann zu schreien, doch das salzige Wasser lief ihr in den Mund. Sie erinnerte sich daran, dass sie den Mund geschlossen und sich an dem Tau festgeklammert hatte. Dass sie versank und ihr die Luft knapp wurde.

»Ich frage mich, ob du einige von diesen Menschen kennst?« Am dritten Morgen in dem fremden Haus hatte ihr Jillian eine Zeitung gebracht. Jeden Morgen, wenn die Uhr acht geschlagen hatte, kam sie mit dem Frühstück. Beim Gedanken an das Brot, den Käse und die kleine Schale mit dem Getreide, den Mandeln und der Milch knurrte ihr Magen. Sie stand auf und humpelte zum Fenster. Am Tag zuvor hatte sie eine kleine Ecke von der Pappe abgerissen, damit sie hinausspähen konnte. Sie sah niedrige, weiße Häuser und Blumen, die aus einem Garten wucherten, dunkelrote Blüten vor weißem Hintergrund. Der Himmel war blau mit weißen Wolken, an einer Wand lehnte ein Moped.

Jillian hatte die Zeitung auf das Bett gelegt, als sie den kleinen Tisch herbeizog und das Tablett darauf abstellte.

»Sie haben einen toten afrikanischen Flüchtling hier in Tarifa gefunden und zwei weitere in der Nähe von Cádiz. Die marokkanische Küstenwache hat von weiteren Toten in der Meeresenge berichtet.«

Sie musste zu der Zeitung hinüberschielen. »Tote Flüchtlinge an der Costa de la Luz gefunden«, stand dort, es war eine englischsprachige Zeitung. Es gab ein Foto von Menschen, die an einem Strand standen, und eine kleine Karte mit einem Kreis um die Stadt Tarifa. Ihr Herz raste. Wie sie sehen konnte, war es von dort nicht weit bis Cádiz.

»Sie glauben, dass sie in der Nacht zum Sonntag versuchten, die Meeresenge mit einem Gummiboot zu überqueren«, sagte Jillian und rührte in ihrer Teetasse.

Ihre Augen wanderten zum Text. Jemand hatte ein Gummiboot gesehen, das in der Nacht westlich von Tanger von einem Strand abgelegt hatte, doch nichts deutete darauf hin, dass es die andere Seite erreicht hatte. Die marokkanische Küstenwache hatte auch keine Informationen darüber, dass es zurückgekehrt war. Sie dachte an die Schleuser. Ob sie auch ertrunken waren? Sie hatte noch gehört, wie der Motor angelassen wurde, und dann waren sie fort gewesen. Ihre Gedanken wanderten zu Taye, und sie durchsuchte den Text nach einem Zeichen dafür, dass er nicht unter den Toten war. Zwei Männer und eine Frau waren gefunden worden. Die Frau war schwanger gewesen. Sie schloss die Augen. Hörte das Flüstern in der Dunkelheit um sich herum. Zaynab. Catherine. Toyin. Wer bestimmte darüber, wer am Leben bleiben durfte und wer sterben musste? Dass ausgerechnet sie sich an ein Tau geklammert hatte. Als sie versunken war und kaum noch Kraft gehabt hatte, hatte es einen Ruck im Tau gegeben. Mit ihrer letzten Kraft hatte sie sich hochgezogen, bis sie an die Oberfläche gelangte und so viel Luft in ihre Lungen sog, wie sie bekommen konnte. Das Tau war mit einer Boje verbunden gewesen. Sie musste sie vom Boot abgerissen haben, als sie um Halt gekämpft hatte. Die Boje hüpfte auf dem Wasser, und sie klammerte sich mit all ihrem Gewicht daran und schwappte auf den schwarzen Wellen dahin. Sie konnte das Gummiboot nicht länger sehen und keinen der anderen. Um sie herum war nur das Meer. Eine Lampe, die irgendwo aufblinkte und wieder verschwand. In dem kalten Wasser konnte sie ihre Beine nicht mehr spüren. Es gelang ihr, sich mit dem Tau enger an die Boje zu binden. Sie durfte nicht loslassen, nicht einmal wenn sie starb, denn dann würde sie auf den Grund sinken und von den Fischen gefressen werden, und ihre Mutter würde nie erfahren, was ihrer ältesten Tochter widerfahren war.

»Englisch kannst du also lesen«, sagte Jillian. »Dann müsstest du auch verstehen können, was ich sage.«

Sie goss ein wenig Milch in ihre Teetasse.

»Ich kann dich hier nicht ewig verstecken«, sagte sie.

Später brachte ihr der Mann, der Nico hieß, einen kleinen Fernseher. Er war jünger als Jillian, fast noch ein Junge, mit langem Haar und Sandalen an den Füßen. Sie vermutete, dass er Jillians Sohn war, aber er wohnte nicht im Haus. Vielleicht war er auch ihr junger Liebhaber.

Jetzt stand der Fernseher auf einem Schrank in der Ecke. Sie wagte es nicht, ihn einzuschalten, bevor Jillian mit dem Frühstück gekommen war. Man konnte BBC empfangen. Am späten Abend hatte sie einen Film über einen Mann gesehen, der als Kommissar in einem englischen Dorf wohnte. Sie hatte die Dialoge leise wiederholt, versucht, die elegante Sprachmelodie zu treffen, doch es war beinahe unmöglich. Sie hatte Träume gesponnen. Sich vorgestellt, wie sie eines Tages verheiratet wäre und in einer solchen Stadt wohnte, obwohl das wahrscheinlich langweilig war. Während ihrer Jahre an der Universität in Nsukka hatte sie Geschmack an der Freiheit gefunden. Sie wollte nicht wieder in ein Dorf ziehen. Sie würde nicht heiraten, zumindest vorerst. Sefi war diejenige, die heiraten würde. Sie dachte darüber nach, was für ein Glück es war, dass sie den Platz der Schwester übernommen hatte. Sefi hätte das Meer nicht überlebt. Sie war ängstlich, schwach und eitel.

»Du bist ja schon wach!« Jillian kam mit einem Tablett in der Hand zur Tür herein. »Du siehst viel gesünder aus. Darf ich mal deine Stirn fühlen?«

Die Hand, die sich auf ihre Stirn legte, war kühl, mit vielen Ringen. Ein Ring hatte die Form einer Schlange, die sich um den Finger ringelte.

»Dein Fieber ist weg, da bin ich mir ziemlich sicher.«