PARIS
SONNTAG, 28. SEPTEMBER
»Hallo?«
Auf meinem Display leuchtete unterdrückte Nummer auf.
»Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie sich raushalten sollen?«
Sie war es. Die Frau aus dem Auto. Ich setzte mich kerzengerade im Bett auf. Diese Stimme hätte ich unter Millionen anderen erkannt.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte ich. »Und wo fuhr Patrick Cornwall hin, nachdem er Paris verlassen hatte?«
»Sie sollten nach Hause fahren«, sagte sie nur.
»Er wollte Josef K. treffen, oder? Wo hält er sich auf?«
Ein Einatmen am anderen Ende, gefolgt von einer Sekunde des Schweigens. Mein Herz klopfte so sehr, als wollte es das Brustbein sprengen, um als pulsierender Klumpen auf meinen Knien zu landen.
»Sie haben gestern einen Mann namens Salif getroffen«, fuhr die Frau am anderen Ende fort.
»Woher wissen Sie das?« Ich zog die Decke fester um mich. Ihr Anruf hatte mich geweckt. »Was wissen Sie über Salif?«
»Er ist tot«, antwortete die Frau. »Mit einem Schuss in den Kopf hingerichtet. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Dann war ein Klicken zu hören, und die Leitung war unterbrochen.
Das Wort blieb wie eine Schlagzeile in meinem Kopf stehen.
Tot.
Das war nicht möglich. Es hätte nicht passieren dürfen.
Mein nächster Gedanke war, dass es meine Schuld war. Ich hatte sie direkt zu ihm geführt. Ich stand in die Decke gehüllt auf und ging zum Fenster, spähte auf die Straße hinab. Kein Mensch war zu sehen.
Ich drehte mich um und blickte auf die Ziffern meines Weckers. Viertel nach neun. Strahlende Sonne über den Dächern. Verkehrslärm.
Ich bin ein toter Mann, hatte er gesagt. Wie alt war er gewesen, dreiundzwanzig, vierundzwanzig?
Ich suchte Arnaud Rachids Nummer. Meine Hände zitterten. Es tutete in der Leitung, doch niemand ging ran. Dann zog ich mich an. Meine innere Lähmung legte sich langsam. Ich nahm meine Jacke und Tasche und griff im Vorbeigehen ein Brötchen aus dem Frühstückssaal, kippte einen Kaffee und einen Saft und verließ das Hotel, lief mit schnellen Schritten zum Fluss und über die Brücke zum rechten Ufer. Unterwegs bog ich dreimal ab und versteckte mich hinter einer Ecke, um herauszufinden, ob mir jemand folgte. Doch es war niemand zu sehen. Ich rannte das letzte Stück durchs Marais und blieb abrupt stehen, als ich in die Rue Charlot einbog.
Der Eingang war abgesperrt. Ich zog mich schnell in eine Einfahrt zurück, heftig atmend.
Auf der Straße vor dem Haus, in dem Arnaud Rachids Büro lag, standen zwei Polizeiwagen und eine Ambulanz. Sie hatten die gesamte Einfahrt zum Hof abgesperrt. Vor den Absperrungen hatten sich Menschentrauben gebildet. Ich erblickte Sylvie, die Aktivistin, die gemeinsam mit einigen anderen Leuten in ebenso ausgebeulter Kleidung wie sie ein Stück entfernt in einem Hauseingang stand. Ich ging zu ihr.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Mord«, antwortete Sylvie mit schreckgeweiteten Augen. »Er lag heute Morgen auf der Treppe vor dem Büro, man hatte ihm in den Kopf geschossen.«
»Sie haben ihn hier erschossen?«, fragte ich überflüssigerweise und konnte keinen Zusammenhang herstellen. Salif hätte seine Wohnung in Bobigny doch nicht verlassen dürfen.
»Arnaud hat ihn gefunden. Er hat natürlich einen schlimmen Schock erlitten. Schließlich war das der Mann, den Arnaud versteckte, der Typ, den ihr gestern besucht habt. Denn ihr wolltet doch zu ihm, oder?«
Sie sah mich forschend an. Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Dass sie tatsächlich die Frechheit besaß, in diesem Moment eifersüchtig zu sein, jetzt, wo Salif tot war.
»Und wo ist Arnaud jetzt?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Er ist in Panik weggerannt.«
»Ist die Polizei darüber informiert, was passiert ist? Wissen sie, wer der Tote ist?«
Sylvie sah mich mit einer Miene an, die verriet, wie naiv ich war.
»Natürlich wissen sie es nicht. Er trug wohl kaum Papiere bei sich, das ist ja gerade das Problem. Und Arnaud wird nicht durch die Gegend rennen und erzählen, dass er ihn versteckt hat, denn dann hat er die Polizei am Hals und unsere ganze Arbeit ist für die Katz.«
Die Sanitäter knallten die Türen des Krankenwagens zu. Offenbar war es für sie an der Zeit zu fahren. Ich überlegte kurz, ob ich hingehen und sie darum bitten sollte, den Toten noch einmal sehen zu dürfen, entschied mich aber dagegen. Stattdessen ging ich in die entgegengesetzte Richtung. Hinter der nächsten Straßenecke blieb ich stehen und wählte erneut Arnauds Nummer. Hinterließ eine Nachricht, in der ich um Rückruf bat.
Ich war kaum mehr als zehn Meter gegangen, als es klingelte.
»Warst du die undichte Stelle?«, fragte er.
Ich verneinte es, und er schien mir zu glauben.
»Wie konnten sie ihn finden?«, fragte ich. »Könnten sie uns gefolgt sein?«
Arnaud gab zunächst nur ein unverständliches Wimmern von sich.
»Als ich heute Morgen kam, lag er da, mit einem Loch im Kopf. Begreifst du, sie haben ihn einfach erschossen, er hatte doch niemandem was getan?«
Es gelang mir, Arnaud zu entlocken, dass er sich außerhalb der Innenstadt befand, im banlieue. »Da, wo wir gestern waren«, sagte er.
»Ich komme.«
Die Tür war nur angelehnt. Auf dem Bett, wo am Tag zuvor Salif gesessen hatte, hockte nun Arnaud Rachid und starrte an die Wand. Das Bettzeug war zerwühlt.
»Ich frage mich, ob sie ihn hier erschossen haben«, sagte Arnaud. »Oder ob sie ihn erst in die Rue Charlot verschleppt haben.« Er begrub sein Gesicht in den Händen. Sein Rücken bebte.
»Er wollte doch einfach nur ein besseres Leben.«
Ich ließ mich auf der Bettkante nieder. Im Zimmer war es genauso dunkel wie am Vortag. Als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Nur Salif war aus dem Bild herausgehoben worden.
Sein Geruch war noch da. Schweiß, Angst und verbrauchte Luft.
»Es war, als würde er mich anstarren, doch seine Augen waren vollkommen leer, und dann dieses Loch, hier in der Stirn ...« Arnaud klopfte sich mit der Faust zwischen die Augen. »Und dann sah ich, dass der Gips zerstört und die Bandage an den Händen abgerissen und der Körper so merkwürdig verdreht war, als ob ... als ob ...«
»Als ob?«, hakte ich nach, obwohl ich eigentlich gar nicht mehr hören wollte.
»Sie ihm beide Arme gebrochen hätten.«
Arnaud brach in Tränen aus. Ein langgezogenes, schmerzliches Jaulen, das mich am Denken hinderte.
»Ist es denn überhaupt klug, hier zu sein?«, fragte ich. »Vielleicht kommen sie zurück.«
»Die Tür war offen. Er muss ihnen aufgemacht haben. Dabei habe ich ihm doch gesagt, dass er niemandem die Tür öffnen sollte!«
Arnaud schniefte. Hör auf zu heulen, dachte ich, wenn du weinst, hast du keine Chance. Dann holen sie dich. Und ich sah ein, dass ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf hörte.
»Wie konnten sie ihn finden?«, fragte ich.
»Ich habe bei einigen Nachbarn geklopft«, sagte Arnaud und fummelte an der Fernbedienung herum, die er in der Hand hielt.
»Ist das nicht die Aufgabe der Polizei?«, fragte ich.
»Die Polizei weiß nicht, dass er hier wohnte.«
Ich sah ihn an.
»Aber du musst es ihnen sagen. Es geht hier immerhin um Mord, nicht um eine mögliche Ausweisung.«
Arnaud stand auf und ging zum Fenster. Mit einem Zipfel seines Schals wischte er sich die Tränen ab, dann wandte er sich mir zu.
»Die Polizei wird in diesem Fall nicht ermitteln«, sagte er, »hast du das etwa immer noch nicht kapiert?«
Ich begleitete Arnaud Rachid, als er bei den übrigen Nachbarn klingelte. Auf irgendeine Weise waren Salifs und Patricks Schicksale miteinander verknüpft. Dessen war ich mir sicher.
Die erste Klingel war defekt. Arnaud klopfte an die Tür. Sie öffnete sich einen winzigen Spalt, und eine kleine, verschleierte Alte spähte mit einem Auge hindurch.
Arnaud sprach Arabisch mit ihr. Nach einigen Minuten öffnete sie die Tür um einige weitere Zentimeter. Misstrauische Augen musterten mich.
»Sie hatte gestern Besuch von der Polizei«, sagte Arnaud, als sie die Tür wieder geschlossen hatte. »Sie waren auf der Suche nach einem illegalen Flüchtling.«
»Aber es kann doch wohl kaum die Polizei gewesen sein, die ihn erschossen hat?«
Entschlossen ging Arnaud zur nächsten Tür. Niemand öffnete. An der nächsten Tür dasselbe. Obwohl ich glaubte, drinnen Geräusche zu hören.
»Die Menschen haben Angst«, erklärte Arnaud, »sie wissen, dass die Polizei in der Regel schlechte Nachrichten überbringt.«
An der nächsten Tür öffnete ein Mann in langen Unterhosen, der Französisch sprach und mich mit seinen Blicken auszog, während er mit Arnaud redete.
»Sie zeigten ihren Dienstausweis und fragten nach einem Illegalen, der zur Fahndung ausgeschrieben war.«
»Sagten sie seinen Namen?«, fragte Arnaud.
»Ja, aber daran erinnere ich mich doch nicht.« Der Mann kratzte sich im Schritt.
»Salif?«, fragte ich.
Er strahlte. »Ja genau, so hieß er, und irgendeiner dieser komplizierten Nachnamen. Ich sagte, dass es von diesen Typen nur so wimmelt hier, wer soll da noch den Überblick behalten.«
Als wir wieder in der Wohnung angekommen waren, zog ich den Rollladen hoch, der sofort wieder bis zur Hälfte herunterrasselte und nur einen breiten Sonnenstrahl hereinließ. Dann ging ich in die Kochecke, fand eine gesprungene Tasse in einem Schrank und trank etwas Leitungswasser, während ich auf Arnaud wartete, der auf der Toilette war.
»Woher wussten sie, dass er hier war?«, fragte ich, als er im Flur auftauchte. »Glaubst du, dass sie mir folgen? Oder dir?«
»Ich weiß es nicht.«
Er lehnte sich gegen die Spüle und raufte sich die Haare.
»Ich verstehe nicht, warum er die Tür geöffnet hat. Er sollte der Polizei nicht aufmachen, niemandem.«
»Könnten die Polizisten gekauft worden sein?«
»Oder sie hatten gefälschte Dienstausweise. Niemand kann seinen Namen gewusst haben, außer denjenigen, denen er entkommen war. Ich habe seinen Nachnamen niemandem gegenüber erwähnt.«
Arnaud fingerte an einem Handy herum.
»Das hier habe ich gefunden«, sagte er. »Es lag im Badezimmer.«
»Ist es Salifs?«
Er nickte.
»Eine Sache willst du sicher wissen.«
Er ging einen Schritt auf mich zu und hielt das Handy hoch. Auf dem Display stand ein Name.
Mich schauderte.
»Es ist klar, dass er Patricks Telefonnummer hatte«, sagte ich und riss das Telefon an mich, starrte auf den Namen. »Er hat ihn ja auch angerufen.«
»Das ist klar«, sagte Arnaud Rachid, »aber dies ist die letzte Nummer in der Liste der eingegangenen Anrufe.«
Ich umklammerte das Telefon, und die Welt um mich herum schrumpfte, es war ein Gefühl, als wären jetzt nur noch ich und dieser kleine Gegenstand übrig.
»Laut der Liste der Anrufer hat Patrick Salif gestern Abend um zehn angerufen«, fuhr Arnaud fort. »Das war eineinhalb Stunden bevor sie anfingen, an den Türen zu klopfen.«
Vorsichtig drückte ich auf »anrufen« und hielt den Atem an.
Es tutete in der Leitung, ich hatte das Gefühl, man könne das Echo der Signale in der ganzen Wohnung hören. Vier, fünf, sechs. Keine Mailbox. Niemand, der sagte Hallo, Sie haben Patrick Cornwall angerufen ... Dann hörte ich plötzlich eine Stimme in der Leitung. Eine Männerstimme. »Hallo.«
»Patrick«, flüsterte ich. »Bist du’s, Patrick?«
»Wer ist da?«, sagte die Stimme am anderen Ende; es war nicht Patrick.
»Wo ist er?«, fragte ich. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Doch die Leitung war tot. Ich ließ das Telefon sinken und sah Arnaud an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich. »Wo ist Patrick?«
Er nahm meine Hand, die noch immer das Handy umklammerte, und ich spürte, wie ich am ganzen Körper zu zittern begann. Es stieg aus der Tiefe in mir auf.
Arnaud sah mich verwundert an. »Du hast ihn ziemlich gern, was?«
Ich drehte mich hastig weg. Bleib kalt, dachte ich und kniff mich fest in den Arm.
Sei keine Heulsuse.
»Ich will einfach nur wissen, was mit ihm passiert ist«, sagte ich und nestelte an dem Handy herum.
Jemand anders hatte von Patricks Telefon aus angerufen. Sie mussten es ihm gestohlen haben.
Im selben Moment begriff ich, wie es passiert sein musste. Möglicherweise hatten sie Patricks Handy verwendet, um Salif zu orten. Wenn sie Zugang zu Dienstausweisen besaßen, konnten sie sicher auch Gespräche lokalisieren. Das erklärte auch, warum Salif die Tür geöffnet hatte. Er glaubte, Patrick oder ein Freund von ihm würde kommen. Vielleicht hatten sie versprochen, ihn nach Amerika zu bringen.
Ich schnäuzte mich in eine Serviette.
Dann erläuterte ich Arnaud meine Gedanken. Er starrte mit leeren Augen zum Fenster hinaus, wo eine Betonsiedlung die nächste ablöste, soweit das Auge reichte.
»Ich kriege es nicht ganz zusammen«, begann ich. »Diese letzten Tage, wenn ich nur wüsste, was er vorhatte ...«
Arnaud Rachid wandte sich langsam um und sah mich an.
»Josef K. war ein Aussteiger«, sagte er. »Er war bereit, alles preiszugeben. Wie die Geschäfte abgewickelt wurden, wer an der Spitze stand, er hatte Namen. Patrick wollte ihn interviewen.«
Ich ließ seine Worte sacken.
»Wo?«, fragte ich. »Wo wollten sie sich treffen?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er Paris am Dienstag vor zwei Wochen verlassen hat.« Er sah zu Boden. »Ich durfte nichts darüber sagen. Wenn rausgekommen wäre, dass er Josef K. treffen wollte ...«
»Hat Patrick das gesagt? Dass du nichts sagen darfst?«
Arnaud antwortete nicht. Er wandte mir den Rücken zu und spülte unbeholfen einige Teller, die auf der Ablage standen.
»Salif ist tot«, brüllte ich, »was für eine bescheuerte, heilige Mission ist dir denn nun schon wieder wichtiger? Es ist niemand mehr da, den du schützen kannst.«
»Ich habe ihn nicht versteckt.«
»Wie das denn? Ich sehe hier aber niemanden außer dir.«
»Ich spreche nicht von Salif, sondern von Josef K. Er war untergetaucht. Ich wusste nicht einmal, dass sie ihn versteckten. Mit dieser Sache habe ich nichts zu tun.«
Ich sank auf einen wackeligen Holzstuhl. Wie in einem Spiegelkabinett, dachte ich, wo sich immer einer hinter dem anderen verbirgt und man nicht weiß, wo der Ausgang ist. Als ich klein war, verabscheute ich die Spiegelkabinette in den Vergnügungsparks. Nicht zu wissen, wo die Menschen wirklich standen, welche Ausgabe von ihnen die echte war. Und diese verzerrten Gesichter.
»Also weißt du nicht, wohin Patrick gereist ist?«
»Nein, tut mir leid«, antwortete Arnaud.
Es wurde still. Eine Fliege tanzte unter dem Ventilator. Die hereinfallende Sonne tünchte die Wände gelb.
»Wir müssen gehen«, sagte er schließlich.
»Ich glaube, ich weiß, wie sie aussieht«, sagte ich.
»Wer, sie?«
»Eine von denen, die dahintersteckt.«
Und ich erzählte ihm von der Frau, die mit mir im Auto davongerast war, und dass sie mir gedroht hatte, falls ich nicht nach New York zurückfahren würde. Dass dieselbe Frau Patrick mit großer Wahrscheinlichkeit am Tag vor seinem Verschwinden abgeholt hatte. Und dass es etwas mit Josef K. zu tun hatte.
»Sie hat mich heute Vormittag angerufen und gesagt, dass Salif tot ist. Sie muss ja etwas damit zu tun haben, woher sollte sie sonst wissen, dass er es war?«, fragte ich.
Ich suchte Arnauds Blick, doch er sah weg.
»Vielleicht hat sie recht«, antwortete er. »Vielleicht hättest du nach New York zurückfahren sollen. Dann wäre Salif jetzt möglicherweise noch am Leben.«
»Jetzt schieb nicht mir die Schuld in die Schuhe«, schrie ich. »Du hattest dich doch der Aufgabe angenommen, ihn zu beschützen.«
»Ich weiß«, schrie Arnaud zurück, »das brauchst du mir verdammt noch mal nicht auch noch unter die Nase zu reiben.«
Und dann verstummten wir beide. Vielleicht dachte er dasselbe wie ich.
Dass es keine Rolle mehr spielte.
Als ich ins Hotel zurückkehrte, war es schon später Nachmittag.
»Sie haben Besuch«, sagte René an der Rezeption und nickte in Richtung der Sessel.
Für eine Mikrosekunde blieb mir das Herz stehen. In der Zeit, die ich brauchte, um mich halb umzudrehen, glaubte ich, Patrick würde gleich lächelnd auf mich zukommen. Stattdessen erhob sich Sarah Rachid aus einem der Sessel.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie in scharfem Tonfall. »Bei The Reporter in New York gibt es keine Alena Sarkanova. Und hier in diesem Hotel auch nicht. Wer also sind Sie?«
Ich ließ mich wie ein nasser Sack in den Sessel fallen. Es gab nichts zu sagen. Ich verzog mich hinter all der Müdigkeit und dem Nebel in einen Schlupfwinkel und hörte sie in der Ferne sprechen.
Arnaud hatte sie sofort angerufen, nachdem ich das erste Mal dort gewesen war. Er hatte getobt und genervt und gefragt, ob Sarah wüsste, was genau ich wollte.
»Also rufe ich in New York an, bei der Zeitung, bei der zu arbeiten Sie vorgeben. Dort hat man noch nie von Ihnen gehört.«
»Die Leute in der Telefonzentrale sind einfach hoffnungslos«, erwiderte ich matt.
Von Arnaud hatte sie erfahren, dass ich im gleichen Hotel wohnte wie Patrick.
»Also fahre ich hierher. Ich frage nach einer Madame Sarkanova, aber man hat noch nie etwas von ihr gehört. Aber als ich den Namen wiederhole und Alena sage, reagiert er, dieser Portier.« Sarah Rachid zeigte auf René, der so tat, als wäre er mit irgendwas anderem beschäftigt. »Alena Cornwall, sagte er, suchen Sie die vielleicht? Ich kann Ihnen sagen, dass ich ziemlich erstaunt war, aber ich stellte mich vor und sagte, ich sei Anwältin, und er sagte, ich könne hier in der Lobby warten.« Sie streckte ihr Kinn vor. »Warum lügen Sie uns an?«
»So hieß ich, bevor ich heiratete.«
»Also sind Sie mit Patrick Cornwall verheiratet.« Sarah Rachid setzte sich in den Sessel gegenüber und schüttelte den Kopf. »Und dann rennen Sie durch die Gegend und behaupten, Sie wären Journalistin. Das ist doch total daneben.«
»Ich musste Fragen stellen«, sagte ich. »Ihr Bruder hat garantiert erzählt, dass Patrick verschwunden ist.«
»Was?«, fragte Sarah Rachid. »Ist ihm etwas zugestoßen?«
Ich beobachtete sie. Ihre Verwunderung schien echt. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nun unruhig, sie schlug die Augen nieder, als sie merkte, dass ich sie ansah.
»Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Journalisten«, sagte ich kalt.
Sie sah wieder zu mir auf. Entgegnete nichts. Ich zeigte auf ihre linke Hand.
»Haben Sie Patrick erzählt, dass Sie nur Theater spielen und sich den Ehering selbst gekauft haben?«
Sarah Rachid stand hastig auf, blieb dann aber unschlüssig stehen. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie ... seine Frau sind, dann ...«
»Was dann?« Ich durchbohrte sie mit meinem Blick. »Wenn Sie gewusst hätten, dass ich mit ihm verheiratet bin, hätten Sie mir erzählt, dass Sie scharf auf ihn waren, oder was?« Ich kochte vor Wut. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich wieder wie ich selbst.
Sarah Rachid spielte an dem Schloss ihrer Aktentasche, ein nervtötendes Klicken.
»Können wir woanders weiterreden?«, fragte sie leise.
Sie hatten sich mehr als einmal getroffen. Soviel bekam ich am Ende aus ihr heraus. Wir saßen in meinem Zimmer. Sarah Rachid hatte sich auf den Schreibtischstuhl gesetzt, verklemmt wie ein kleines Mädchen, mit zusammengekniffenen Beinen und den Händen auf den Knien. Es gefiel mir nicht, dass sie auf Patricks Platz saß, aber es gab kein anderes Möbel, abgesehen vom Bett, was keine bessere Alternative darstellte.
Sie hatte ihm bei einer Sache geholfen, die auf keinen Fall herauskommen durfte.
Ich brauchte nicht zu fragen, warum sie es getan hatte. Man konnte es ihrer Stimme anhören, wenn sie seinen Namen aussprach, mit einer Sanftheit, die nicht dagewesen war, als sie ihre juristischen Fakten heruntergeleiert hatte.
Patrick hatte in zwei weiteren Angelegenheiten um ihre Hilfe gebeten. Er hatte sich an sie gewandt, weil sie sich mit den französischen Gesetzen auskannte und wusste, wo die Informationen zu finden waren. Sie hatte Kontakte.
Seine erste Bitte betraf das Immobilienregister. Sie sollte herausfinden, auf wen eine bestimmte Immobilie in der Avenue Kléber eingetragen war.
»Nummer 76«, sagte ich. »Eine Firma namens Lugus.«
Sarah Rachid sah auf und nickte.
»Das andere Gebäude war eine Lagerhalle in Saint-Ouen im Norden von Paris«, fuhr sie fort, beugte sich hinab und holte ein kleines Notizbuch aus dem Außenfach ihrer Aktentasche. »Eigentlich konnte ich nicht viel herausfinden.« Sie blätterte zu ihrer Aufzeichnung und las vor: »Die Immobilie in der Rue Kléber 76 ist im Besitz einer Immobilienfirma namens Epona. Diese Firma ist Teil eines Konzerns, zu dem auch die Beraterfirma Lugus gehört, die die Räume mietet. Der gesamte Konzern wiederum wird von einer Stiftung kontrolliert, die ihren Sitz auf Jersey hat.« Sarah Rachid blickte von ihren Aufzeichnungen hoch. »Es ist nicht möglich, Informationen aus Jersey einzuholen.«
»Machen Sie es kurz«, bat ich.
»Das Lager gehört einer anderen Immobilienfirma, die zu einem anderen Konzern gehört, der ebenfalls von der Stiftung auf Jersey kontrolliert wird.«
»Dieselbe Stiftung?«
Sarah Rachid nickte und schlug erneut ihr Notizbuch auf. »Das war alles, was ich herausfinden konnte.«
Ich stand auf und ging zum Fenster, öffnete es. Zusammenhänge. Danach hatte Patrick gesucht. Etwas, das eine Verbindung zwischen Alain Thery und den eingesperrten Sklavenarbeitern im Lager herstellte. Ich fragte mich, ob er genug für eine Veröffentlichung gefunden hatte. Salif hatte einen der Männer in Alain Therys Umkreis identifiziert. Doch jetzt war Salif tot. Ich musste an die leeren Räume mit den Glaswänden und den weichen Teppichböden in der Avenue Kléber denken. Hinter den Kulissen der erfolgreichen Beraterfirma spielte sich etwas ganz anderes ab.
Ich wandte mich um.
»Und wobei brauchte Patrick Ihre Hilfe noch?«
Sarah Rachid zog ihre Jacke fester um sich. »Können Sie vielleicht das Fenster schließen?«
»Nein«, antwortete ich.
Sie blickte erneut in ihr Notizbuch.
»Es ging um ein Forschungsinstitut oder wie man es nennen mag. La Ligne Française. Er wollte wissen, wer deren Tätigkeit finanziert. Sagt Ihnen der Name was?«
Ich nickte und setzte mich wieder aufs Bett. »Konnten Sie es herausfinden?«
»Nun ja, es ist ja nicht gerade ein öffentlich zugängliches Dokument.«
»Aber Sie haben sich doch bestimmt ein bisschen ins Zeug gelegt, um etwas zu erfahren, Patrick zuliebe?«
Sie errötete.
»Es ist nichts passiert«, sagte sie.
»Wie bitte, mit der Ligne Française?«
»Zwischen Patrick und mir«, erklärte sie, und die Röte breitete sich bis zu den Ohrläppchen aus. »Ich will, dass Sie das wissen.«
Ich krallte meine Finger in den Überwurf, den die Putzfrau geglättet hatte, jene unsichtbare Person, die einen Hauch von Lavendel hinterließ.
»Wussten Sie, dass er niedergeschlagen wurde?«, fragte Sarah Rachid.
Ich stutzte. Im nächsten Moment explodierte ich.
»Was halten Sie noch alles vor mir zurück?«, fragte ich und stand auf, ging ein paar Schritte auf sie zu. »Sie hocken da und verstecken sich hinter Ihrer verdammten Justiz und bilden sich ein, Sie hätten das Recht zu schweigen, aber wir sprechen hier über meinen Mann. Kapieren Sie es endlich.« Ich lehnte mich gegen die Wand und verschränkte die Arme. »Wie, niedergeschlagen?«
Sarah Rachid rieb ihre Handflächen aneinander.
Am elften September hatte Patrick sie am späten Abend angerufen.
»Das ist ja ein Datum, an das man sich immer erinnert. Wir sprachen auch darüber, wie es in New York gewesen ist.«
Sie rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich lag im Bett und las einen Roman von Maryse Condé. Ich gehe immer um elf Uhr ins Bett. Er sagte, er bräuchte Hilfe. Er wusste nicht, wen er sonst anrufen sollte. Ich bot ihm an, dass er zu mir kommen könnte. Ich wohne in Belleville. Er kam mit dem Taxi.«
Sarah Rachid stand auf und ging zum Fenster. »Sie hatten ihn nicht weit von hier in eine Hauseinfahrt gezerrt, etwas weiter unten auf der Rue Saint-Jacques.« Sie zeigte nach links, auf die Straße und den Fluss.
»Er blutete nicht, aber er hatte einen harten Schlag auf den Kopf abbekommen und erbrach sich, möglicherweise hatte er eine Gehirnerschütterung erlitten.« Sie schloss das Fenster und wandte sich mir zu. »Es war eine Warnung. Sie wollten, dass er nach Hause fuhr.«
»Wer?«, war alles, was ich herausbekam.
»Das hat er nicht gesagt.«
Ich blieb auf dem Bett sitzen und fühlte mich handlungsunfähig und ängstlich zugleich. Die Eifersucht brannte in mir. Am darauffolgenden Tag, dem zwölften September, hatte er mich angerufen. Warum hatte er mir nichts erzählt?
Sie können mich nicht zum Schweigen bringen, hatte er gesagt, als ich in diesem furchtbaren Treppenaufgang in Boston stand. Und dann hinzugefügt, dass er darüber nicht am Telefon sprechen könne.
Sarah Rachid hatte versucht, ihn zu überreden, ins Krankenhaus zu fahren, doch Patrick weigerte sich. Er wollte nur ein paar Kopfschmerztabletten und einen Beutel mit Eiswürfeln für seinen Hinterkopf.
»Idiot«, sagte ich laut.
Sie zuckte zusammen.
»Nicht Sie«, erklärte ich, »Patrick. Diese Warnung hat ihn sicherlich erst richtig beflügelt und ihn davon überzeugt, dass er auf der richtigen Spur war. Glauben Sie mir, ich kenne ihn, er gibt nicht auf, bis er den ganzen Boden durchwühlt und allen Dreck ausgebuddelt hat, der dort vergraben liegt.«
Sie sah mich schweigend an.
»Am nächsten Morgen war er schon früh wach und angezogen und wollte wieder los und seine Story an Land ziehen, wie er sagte.«
»Er hat bei Ihnen übernachtet?«
»Auf dem Sofa.«
Sarah Rachid wandte mir den Rücken zu. Ich blickte durch das Fenster auf die Kuppel des Panthéon und stellte mir das Pendel darin vor, das zeigte, wie die Welt sich drehte und die Zeit verging. Tag für Tag.
Donnerstag, der elfte September. Patrick isst im Taillevent zu Mittag und Alain Thery sorgt für seinen Rauswurf. Am selben Abend wird er zusammengeschlagen.
Freitagmorgen, der zwölfte September. Patrick verlässt Sarah Rachids Wohnung in Belleville. Ich wusste nicht, wo dieser Stadtteil lag und wollte es auch gar nicht wissen. Später an jenem Freitag war er auf jeden Fall zum Hôtel Royal gefahren, um mit Salif und den anderen zu sprechen. In der darauffolgenden Nacht war das Hotel niedergebrannt.
Er hatte die Drohung offenbar nicht ernst genommen.
»Sie dürfen Arnaud nicht böse sein«, sagte Sarah Rachid, ihr Blick flackerte. »Schon möglich, dass er bei dem, was er tut, manchmal die Grenzen der Legalität überschreitet, aber das tut er nur, um anderen zu helfen. Und dann hat er eine Schwäche für Nedjma. Er würde alles für sie tun.«
»Für wen?«, fragte ich. Ich war mit meinen Gedanken bei Patrick gewesen und hatte kaum zugehört.
»Arnauds Freundin. Ich traue ihr nicht über den Weg.«
Sarah wand sich und sah unglücklich aus. Ich fixierte sie. Arnauds amouröse Abenteuer interessierten mich nicht.
»Haben Sie meinen Mann danach noch einmal getroffen?«, fragte ich.
Mit der Betonung auf meinen Mann.
Sie schüttelte den Kopf. Zupfte die Ärmel ihrer Bluse glatt, erst den einen, dann den anderen. Sie hatte Patrick am späten Sonntagabend angerufen, brachte sie hervor. In den Nachrichten hatte sie von dem Hotelbrand erfahren, und Arnaud hatte ihr erzählt, dass Patrick in der Nacht dort gewesen war.
»Ich wollte hören, wie es ihm ging«, sagte Sarah Rachid leise.
»Und, wie ging es ihm?«
»Er sagte, er werde sie ins Gefängnis bringen, schrie, dass die Polizei die Ermittlungen eingestellt hatte. Er regte sich sogar noch mehr darüber auf, als Arnaud es normalerweise tut. Politiker seien auch in die Sache verwickelt, sagte er. Ich wurde unruhig. Er war so wütend. Er war in einer Bar, möglicherweise war er betrunken, ich weiß es nicht genau. Ich fand es merkwürdig, in eine Bar zu gehen, nachdem etwas so Schreckliches vorgefallen ist.«
»Hat er gesagt, in welcher Bar er war?«
»Plaza Athénée, irgendwo in der Nähe der Champs-Élysées. Ich gehe nicht in solche Etablissements.«
Ich erkannte den Namen sofort. Caroline Kenney hatte ihn erwähnt. Jeden Sonntag hält er Hof an seinem Stammtisch ... Und Patrick war an einem Sonntag dort gewesen, aufgewühlt und wütend. Es war auf den Tag genau zwei Wochen her.
»Danke«, sagte ich, »und jetzt gehen Sie bitte.«
Ich stieg aus dem Taxi und betrat eine Welt des unbegrenzten Luxus. Prada und Chanel glitzerten in den Schaufenstern um die Wette, und das Hotel Plaza Athénée war ein weißer Palast, wie aus dem Märchen. Ein warmes Licht umfing mich, als ich in die goldfarbene Lobby kam, hoch über mir funkelten Kristallleuchter. An der Garderobe stand ich neben einer vollbusigen Blondine im Pelz, die meine Kleidung herablassend musterte, ehe sie ihren siebzigjährigen Kavalier unterhakte und auf zwanzig Zentimeter hohen Absätzen davonstolperte.
Ich trug das schwarze Kleid, das ich mir für mein Essen im Taillevent gekauft hatte. Ich hatte zwanzig Minuten nach dem unechten Schmuck suchen müssen, der so schön im Ausschnitt glitzerte, und ihn schließlich in meinem Koffer gefunden, in eine schmutzige Socke gestopft.
An der Bar peilte ich einen Hocker im Rokoko-Stil an. Der Tresen war aus sandgestrahltem Glas und sah aus, als wäre er aus einem Eisblock geformt, in der Luft schwebten Kerzenleuchter mit blauen Flammen. Das Ensemble hätte ein Bühnenbild für Harry Potter darstellen können.
Etwa zwanzig Gäste saßen in der Bar verteilt, es waren überwiegend Paare, abgesehen von einer Gruppe junger Frauen, die farbenfrohe Drinks tranken. Kein Mann, der Alain Thery vom Foto her ähnlich sah. Es ging auf halb elf zu. Ich bestellte mir einen alkoholfreien Drink, der Kellner brachte zwei Schälchen mit Nüssen und Oliven.
Im selben Moment betrat eine Gruppe den Saal, fünf Männer, gefolgt von drei jungen Frauen mit Kleidern, die knapp unterhalb des Schritts endeten. Alain Thery ging in der Mitte. Ich hatte das Bild von ihm so oft betrachtet, dass kein Zweifel bestand. Seine Augen waren fast weiß, davon abgesehen sah er so durchschnittlich aus, dass man ihn schnell wieder vergaß. Er trug einen teuren, italienischen Anzug und eine blutrote Krawatte. Er will nicht der Junge aus den Kohlegruben von Pas-de-Calais sein.
Die Gesellschaft versammelte sich um einen niedrigen Tisch im gemütlicheren Abschnitt der Bar. Ihre Ankunft sorgte für erhöhte Betriebsamkeit hinter dem Tresen, zwei der Kellner waren bereits mit Champagner unterwegs. Thery saß auf dem Sofa an der Wand, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Der Stoff der Rückenlehne war mit einem Motiv aus einem klassischen Gemälde bedruckt, das von einem großen Rahmen umgeben war und die Gäste in einen Teil des Kunstwerks verwandelte. Hinter Alain Thery legte ein Großsegler am dunklen, geschäftigen Kai der Seine zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an, und auf einem silbernen Kissen daneben räkelte sich eine der Blondinen und ließ ihre Beine über die Sofalehne baumeln.
Der Champagner perlte in den Gläsern, und Thery legte eine Hand auf den Oberschenkel des Mädchens. Dann prosteten sich alle zu. Ich musste an den Gott mit den drei Gesichtern denken, der Alain Therys Firma seinen Namen geliehen hatte. Was war erforderlich, um ein anderes Gesicht zum Vorschein zu bringen und die Masken fallen zu lassen? Was hatte Patrick getan, als er hier war? Die Kamera auf ihn gerichtet oder ihm eine gescheuert, ihm vorgeworfen, dass er Menschen als Sklaven missbrauchte, bevor siebzehn von ihnen bei einem Hotelbrand starben? Ich überlegte, wie die hiesigen Gäste wohl auf eine solche Szene reagiert haben könnten. Vielleicht hatten sie das Ganze für einen Filmdreh gehalten, für ein bizarres Happening? Immerhin befanden sie sich an einem Ort, wo selbst die Kerzenleuchter in der Luft zu schweben schienen.
Einer der Männer, der mit dem Rücken zu mir saß, stand auf, sagte etwas zu Alain Thery und drehte sich um. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich sein Gesicht sah. Ich hustete und wandte mich ab, so schnell es ging.
Diesen Mann hatte ich schon einmal gesehen. Ein breites Gesicht mit einer Nase, die zu klein wirkte, und Schweinsäuglein. Es war der Mann, der mich aus dem Büro in der Avenue Kléber hinausgeworfen hatte. Damals hatte ich ihn für einen Wachmann gehalten, doch wenn er hier saß und Champagner trank, stand er Alain Thery offenbar näher.
Ich versuchte zum Fenster hinauszusehen, doch ich konnte die Straße nicht erkennen, nur den nachtschwarzen Himmel. Der Stoff vor dem Fenster ließ die Wirklichkeit dort draußen schleierhaft und unwirklich erscheinen, als fände sie in einer anderen Zeit statt, in einem Schwarz-Weiß-Film.
Als ich es erneut wagte, meinen Blick wieder der Bar zuzuwenden, war der Mann mit den Schweinsäuglein verschwunden. Vielleicht war er nur auf die Toilette gegangen, vielleicht nach Hause.
Ich begriff, dass ich keine bessere Chance bekommen würde, glitt von meinem Barhocker hinab und stakste auf zittrigen Beinen zu Alain Therys Tisch. Zu seiner Gesellschaft waren mittlerweile zwei Frauen mit schwarz-weißen, grafisch gemusterten Kleidern und opulentem Schmuck hinzugekommen, möglicherweise Schauspielerinnen des Typs, auf den er Caroline Kenney zufolge stand. Ich musste an das Foto von Juliette Binoche denken und stellte fest, dass die beiden ihr nicht im Geringsten ähnlich sahen.
Alain Thery hatte seine Hand vom Bein der Blonden genommen und schenkte einer der Schwarz-Weißen Champagner ein. Er perlte und funkelte im Glas. Er bemerkte nicht, dass ich auf ihn zukam.
»Oh hallo, Alain! Wie schön dich zu treffen!«, sagte ich laut.
Er sah mit fragender Miene auf.
»Jetzt bin ich etwas verwirrt«, antwortete er und lächelte schwach. Gleichmäßige, weiße Zähne, eine etwas schrille Stimme.
»Erinnerst du dich denn nicht mehr? Damals in Saint-Tropez?«, flötete ich und ließ mich ungefragt auf dem Sessel neben ihm nieder.
»Nein, aber ich begegne so vielen Menschen.« Er lächelte das Mädchen zu seiner Rechten an. »Ich habe dort unten eine Yacht, weißt du. Neunundsechzig Fuß.«
Ich beugte mich vor, damit ich sein Knie mit der Hand tätscheln konnte.
»Aber du musst unbedingt erzählen, was aus unserem gemeinsamen Freund geworden ist. Wie geht es ihm?«
Alain Thery lachte auf und warf einen ungeduldigen Blick auf die Frau neben sich. Jemand stieß einen lauten Seufzer aus.
»Wen meinst du?«, fragte er.
»Patrick Cornwall natürlich, den Journalisten.«
Alain Thery erstarrte, ich konnte spüren, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er schubste die Blondine von sich weg. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich spreche von Patrick Cornwall«, sagte ich so laut, dass es die ganze Gesellschaft hören konnte. »Er wollte dich zu deinen Geschäften interviewen, und jetzt ist er verschwunden. Wo ist er?«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Er gab dem Mann, der gegenüber saß, einen Wink. Ich ließ seinen hellen Blick nicht los, nagelte ihn fest.
»Er wusste zu viel über dich und deine Geschäfte, nicht wahr? Was hast du mit ihm gemacht?«
Alain Thery stand auf.
»Diese Tussi ist doch verrückt geworden, kann sie denn niemand entfernen?« Er sah in alle Richtungen und gestikulierte in Richtung der Männer, die dabei saßen.
»Werft diese verrückte Hure raus, sie ist ja völlig betrunken!«
Im nächsten Moment wurde ich von zwei starken Armen hochgehoben, die sich um meine Hände und meinen Nacken schlossen.
»Ich weiß, was du treibst«, schrie ich und strampelte, sodass zwei Champagnergläser vom Tisch flogen. Die Frauen auf dem Sofa warfen sich zur Seite, um dem perlenden Gesöff auszuweichen.
»Die hat sie ja wohl nicht mehr alle«, sagte eine von ihnen auf Französisch. »Lassen die hier mittlerweile jeden rein?«
»Wer von deinen Männern hat Salif umgebracht?«, schrie ich, während sie mich vom Tisch wegschleiften. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass einer der Männer an meiner Seite derselbe war, der mich schon einmal hinausgeworfen hatte. Er kniff seine Schweinsäuglein zusammen und zischte mir auf Französisch ins Ohr: »Dich kenne ich doch, du kleine Schlampe.«
Das Letzte, was ich sah, war Alain Thery, der seinen Arm um das Mädchen auf dem Sofa legte, während sie mit dem Bild des stattlichen Großseglers verschmolzen. Sein eisgrauer Blick fixierte mich, als ich aus dem Lokal getragen wurde.