LISSABON

DIENSTAG, 30. SEPTEMBER

Lissabon im blassen Morgenlicht zu sehen, war wie die Begegnung mit einer verkaterten, alten Hure, die schon zu lange im Geschäft war. Von den gekachelten Fassaden waren große Teile abgebrochen, die Fenster klafften leer, und die Stromleitungen hingen lose an den Außenwänden der Häuser herab; eine betagte Schönheit, die mit dem Duft von etwas Lieblichem, Vergangenen lockte.

Ich war nur kurz im Hotel gewesen. Die Frau an der Rezeption hatte den Kopf geschüttelt, als ich nach Patrick gefragt hatte, und mich an den Hotelchef verwiesen, der gerade nicht da war.

Ich lief den Hügel zur Avenida da Liberdade hinab, der Prachtstraße mitten in der Stadt. Der Bürgersteig wellte sich unter meinen Füßen, als hätte sich der Boden damals aus Protest aufgebäumt, als das Kopfsteinpflaster gelegt wurde. Kleine Stände, an denen geröstete Maronen verkauft wurden, verbreiteten einen Geruch nach Verbranntem.

Diesmal wollte ich nicht warten, bis ich zur Polizei ging, ich wollte nicht länger unschlüssig sein und die Dinge aufschieben und Rücksicht auf Patricks Meinung nehmen. Josef K. war von einer Terrasse hinabgestürzt. Und auch wenn die Polizei glaubte, es sei Selbstmord gewesen, so mussten sie dennoch zumindest eine Ermittlung einleiten.

»Ich habe Informationen zu einem Mord«, sagte ich, als ich im Polizeirevier an der Reihe war. »Ein Mann aus der Ukraine wurde vor zwei Wochen hier in Lissabon ermordet.«

Der Mann am Empfang hob die Augenbrauen und stellte einige Routinefragen zu Namen und Adresse. Dann griff er nach dem Telefonhörer, und sieben Minuten später wurde ich von einem uniformierten Beamten abgeholt, der mich durch fünf Korridore lotste, kreuz und quer durch das Gebäude, sodass ich mich am Ende drei Treppen höher auf der entgegengesetzten Seite befand, mit Aussicht auf den Fluss Tejo.

Kommissar Helder Ferreira stand auf dem Schild neben der Tür. Der Mann, der mich empfing, war in den Vierzigern und in zivil mit Hemd und Schlips; sein Bauch hatte begonnen, über den Hosenbund hinauszuwachsen.

»Sie haben also Informationen zu Michail Jetjenkos Tod?«, sagte er in ausgezeichnetem Englisch und begrüßte mich mit einem kräftigen Händedruck.

»Aha, das ist also sein richtiger Name?«, sagte ich.

Der Polizist zeigte auf einen Holzstuhl mit gerader Lehne und geflicktem Ledersitz, er selbst nahm hinter dem Schreibtisch Platz.

»Und was wissen Sie über Jetjenko?«, fragte er.

Ich setzte mich.

»Ich weiß, dass er aus der Ukraine kam«, antwortete ich. Ich hatte beschlossen, alles zu berichten, was ich wusste. Was die flüchtige Nedjma davon hielt, war nicht mein Problem. »Er versteckte sich in Lissabon, weil er aus einem kriminellen Netzwerk ausgestiegen war, das Menschenhandel und Sklaverei betreibt. Und er war bereit, einem amerikanischen Journalisten ein Interview zu geben.«

Der Kommissar nahm einen Kugelschreiber von seinem Schreibtisch. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und klopfte mit dem Stift in die Handfläche.

»Jetjenko hat sich nicht umgebracht«, sagte ich. »Er hatte sein altes Leben bereits hinter sich gelassen und wollte einen Neuanfang machen. Man hat ihn in eine Falle gelockt.«

»Und wie kommt es, dass Sie das alles wissen?«

»Mein Mann sollte ihn interviewen.«

»Sind Sie auch Journalistin?«, fragte er und richtete die Kugelschreiberspitze auf mich.

»Nein.« Ich sah aus dem Fenster, draußen waren massive Gebäude aus Stein zu sehen und eine Statue von einem Mann auf einem Pferd, den Rücken zu uns gewandt. Dahinter lag ein Fluss, der so breit war wie ein kleines Meer und in den Atlantik mündete, jenen Ozean, der mein altes Leben von dem fremden trennte, in dem ich mich gerade befand.

»Ich bin Bühnenbildnerin«, sagte ich. »Ich entwerfe Theaterkulissen.«

»Aha!« Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Kommissar Ferreiras Gesicht aus. »Ich liebe das Theater. Meine Mutter war Schauspielerin.«

»Was wissen Sie über Jetjenkos Tod?«, fragte ich. »Haben Sie Spuren, gibt es Zeugen?«

Helder Ferreira klickte mit dem Kugelschreiber.

»Es gibt einen Verdächtigen«, sagte er, »den wir aber noch nicht gefunden haben.«

»Wen denn?«

»Wir fahnden nach einem schwarzen Mann.«

Ich starrte ihn an.

»Warum das denn?«

Er runzelte die Stirn und blickte mich forschend an. Meine Wangen wurden heiß.

»Die Zeugen haben ihn am Tatort gesehen«, sagte der Kommissar. »Einige wollen sogar mit Sicherheit beobachtet haben, wie er Jetjenko herunterstieß.«

Ich beugte mich langsam nach unten und öffnete meine Tasche, wühlte nach dem Foto. Sah Patrick in die Augen, bevor ich mich aufrichtete und es auf den Tisch legte. Zwei Ecken des Fotos waren abgeknickt, und ein großer Fleck auf seiner linken Brust zeugte von meinem hochprozentigem Abend in Harry’s New York Bar.

Ich registrierte ein Zucken im Gesicht des Kommissars, als er sich vorbeugte und Patricks Gesicht ansah.

»Wer ist das?«

»Könnte er es gewesen sein?«

Er hob das Foto hoch, runzelte die Stirn.

»Das ist mein Mann«, sagte ich. »Patrick Cornwall, freier Journalist aus New York.«

Helder Ferreira betrachtete das Foto eingehend und hob den Blick, sah mich an, dann wieder Patrick, als wolle er vergleichen, unsere Gesichter gegeneinander abwägen.

»Er ist nicht der Täter«, sagte ich. »Sie sind auch hinter ihm her.«

Ich fixierte den Kommissar, zwang mich, ihm nicht auszuweichen. Ein schwarzer Mann. Diese Zeugen konnten mich mal. Sie sahen nur, was sie sehen wollten.

Aber Patrick war dort gewesen. Es könnte sein, dass sie ihn gesehen hatten, auch wenn sie seine Anwesenheit falsch deuteten. Es musste sich auf jeden Fall um ein Missverständnis handeln.

Ferreira streckte sich nach seiner Lesebrille und las aus einem Dokument auf seinem Bildschirm vor.

»Joana Rodrigues, siebenundzwanzig Jahre alt. Saß in einem Straßencafé am Largo das Portas do Sol und las in einem Lehrbuch.« Er klopfte mit dem Stift auf den Schirm. »Sie ist Psychologiestudentin und geht bei warmem Wetter oft in einen Park oder in ein Café, weil sie das enge Wohnheimzimmer mit einer Kommilitonin teilt und es keine schöne Aussicht hat ...« Er übersprang einige Zeilen im Text. »Es ist fünfzehn Uhr zehn, in etwa, als sie von draußen Tumult und Schreie hört und von ihrem Buch aufsieht. Dort steht ein Mann und starrt sie an, sie findet, dass er gehetzt aussieht. Hier kommt es.«

Der Kommissar sah mich über seine Brille hinweg an.

»Der Mann ist schwarz«, las er.

Ich spürte meinen Puls im ganzen Körper. Mein Mund war vollkommen trocken. Der Polizist schob die Brille wieder hoch und las weiter:

»Der schwarze Mann steht im Durchgang zur Terrasse, und im nächsten Augenblick ist er weg, jedenfalls laut der Aussage von Joana Rodrigues, Psychologiestudentin.«

Er beugte sich zurück und wedelte mit dem Stift vorm Computer herum. »Largo das Portas do Sol ist ein beliebter Ort in Alfama; Touristen kommen, um die Aussicht zu bewundern, Studenten, Liebespaare. Wir haben drei weitere Zeugen, die angeben, dort einen schwarzen Mann gesehen zu haben. Einer von ihnen ist sich sicher, dass er Michail Jetjenko über das Geländer gestoßen hat.«

»Das stimmt nicht.«

Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch der Albtraum ging weiter.

»Der Zeuge heißt António Nery, zweiundsiebzig Jahre alt, Rentner, geboren, aufgewachsen und noch immer wohnhaft in Alfama. Er war mit seinem Hund spazieren und befand sich ganz oben auf der Treppe neben der Aussichtsplattform, als Michail Jetjenko zwanzig Meter hinter ihm auf die Gasse stürzte. Dann kommt der schwarze Mann so auf ihn zugerannt, dass er ausweichen muss, genau dorthin, wo der Hund ...«

Ich sprang von meinem Stuhl auf.

»Patrick ist Journalist, zum Teufel. Sie wollten sich dort treffen. Rufen Sie seinen Auftraggeber in New York an, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«

Kommissar Ferreira nahm seine Brille ab und klappte die Bügel ein. In seinem Blick lag nun eine gewisse Härte.

»Ihr Mann muss solche Menschen wie Michail Jetjenko gehasst haben, habe ich recht?«, sagte er und beugte sich über seinen Schreibtisch. »Wir haben das meiste über diesen Jetjenko schon von Interpol erfahren, ein rücksichtsloser, weißer Schurke, der mit Menschen handelte. Ein Sklavenhändler. Und Ihr Mann hasst doch Sklavenhändler?«

Ich dachte nicht daran, ihm eine entsprechende Reaktion zu gönnen, biss die Zähne zusammen. Der Kommissar lehnte sich wieder zurück und beobachtete mich.

»Vielleicht hat Jetjenko ihm gedroht?«, fuhr er fort. »Oder ihn als Nigger beschimpft? Das hörte er wahrscheinlich nicht so gern?«

»Sie sind ihm gefolgt«, sagte ich langsam und deutlich. »Es war eine Falle. Sie haben ihn in Paris auf der Straße zusammengeschlagen, damit er von dieser Story abließ. Sie waren hinter beiden her, hinter Jetjenko und Patrick, wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, weil sie ihre Geschäfte gestört haben.«

»Schon möglich«, sagte Ferreira. »Aber meine Aufgabe besteht eben darin, alle Möglichkeiten zu prüfen.«

Er stand auf. Ich sah aus dem Fenster, auf die Wolken, die vorbeizogen.

»Darf ich mir davon eine Kopie machen?«, fragte er und hob das Foto hoch.

Ich kniff den Mund zusammen, nickte. Er ging aus dem Zimmer, ließ mich in Ruhe. Mir kamen die Tränen. Ich trat gegen den Schreibtisch, bis mir der Schmerz durchs Bein fuhr.

Elender Mist. Man kam nie davon weg. Ein schwarzer Mann war das Einzige, was sie sahen. Wenn es etwas gab, was mich an Patrick überhaupt nicht interessierte, dann war es seine Hautfarbe. Dass er schwarz war und ich weiß, war ein lächerlicher, unwesentlicher Unterschied, ein nicht-existentes Faktum, genauso unbedeutend wie die Länge eines Zehennagels meiner Mitmenschen. Das hatte ich in dem Moment entschieden, als ich feststellte, dass ich in ihn verliebt war.

Das Einzige, was wichtig ist, sind du und ich.

Wenn du mich liebst.

Ich liebe dich.

So, wie ich bin?

So, wie du bist.

Mir wurde schwindelig.

Als der Kommissar zurückkam, war ich bereit.

»Es mag in Ihren Ohren lächerlich klingen«, sagte ich, als er mir das Foto zurückgab und zu seinem Schreibtisch zurückging, »aber es gab eine Sache, die Patrick wichtiger war als alles andere. Er wollte den höchsten Preis gewinnen, mit dem ein Journalist in den USA ausgezeichnet werden kann, weil er der Welt zeigen wollte, dass er genauso gut, nein, besser ist, als die Laufjungen an der Wall Street, die Millionengehälter kassieren, indem sie verlogene Börsenprognosen erstellen. Vielleicht hat das etwas mit Patricks Großvätern und Urgroßvätern zu tun, aber vielleicht auch nicht, denn es geht darum, der Zeitung und den Kollegen und seinem Vater und der ganzen Welt zu zeigen, dass es möglich ist, dass ein Journalismus möglich sein muss, der nicht den Anzeigenkunden und Zeitungseignern und reichen Abonnenten dient, sondern einzig und allein der Wahrheit.«

Helder Ferreira lachte auf.

»Yes, we can«, sagte er und ballte ironisch die Faust. »Ihr klingt zur Zeit alle wie Barack Obama.«

Dann lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück und schwieg einige Sekunden lang.

»Ich hatte in Betracht gezogen, den mystischen schwarzen Mann als Mordverdächtigen zur öffentlichen Fahndung auszuschreiben, aber mein Chef war dagegen. Man würde uns mit Hinweisen über schwarze, gut gekleidete Männer überhäufen. Jeder fleißig arbeitende Beamte aus den ehemaligen Kolonien würde als Verdächtiger gelten.«

»Also wird er doch nicht verdächtigt?«

Ich sank wieder auf den Stuhl, müde und leer im Kopf.

»Wir haben auch einen anderen Zeugen.« Helder Ferreira beugte sich erneut zum Bildschirm. Der Computer hatte mindestens zehn Jahre auf dem Buckel und brummte dumpf.

»Marlene Hirtberger, zweiundfünfzig, eine deutsche Touristin, die gerade die Terrasse betreten hatte, um die Aussicht zu genießen. Sie sagt, sie habe zwei weiße Männer zur Aussichtsplattform gehen sehen, woraufhin Tumult entstand. Anschließend hörte sie die Schreie.«

»Die müssen es gewesen sein.« Ich lehnte mich vor, sodass ich Teile des Textes erkennen konnte. »Was hat sie noch gesagt?«

Ferreira kniff die Augen zusammen. Er hatte vergessen, seine Brille wieder aufzusetzen und hing mit der Nase vor dem Bildschirm.

»Jorge Maurício, dreizehn, der auf der Mauer daneben Skateboard fuhr, stieß mit einem weißen Mann zusammen, der in Richtung Straße rannte. Mauricio sah nicht, wie Jetjenko hinabstürzte, aber er hörte Schreie, als er gerade das Skateboard in Bewegung setzte, verlor die Balance und musste sich nach rechts werfen, um nicht auf der anderen Seite in die Tiefe zu fallen, diese verrückten jungen Leute, die den Tod herausfordern! Ich hoffe, er hat seine Lehre daraus gezogen und wird das nie wieder probieren. Jorge Maurício segelte direkt in diesen Mann hinein. Er sagt, dass der Mann – ich zitiere – ›sich einen Scheiß um ihn kümmerte‹ und über die Straße in Richtung Mouraria davonrannte. Er war weiß und trug einen Anzug, behauptet der junge Jorge, dessen Eltern aus Angola kommen.«

Ich versuchte, mir die Szene auszumalen: Menschen, die sich über den Platz bewegten wie Schauspieler mit festen Rollenanweisungen, aber ich konnte mir nicht so recht vorstellen, wie der Ort aussah und wo genau Patrick sich befunden hatte.

»Die Deutsche Hirtberger sagt, dass sie ebenfalls einen schwarzen Mann gesehen hätte, kurz bevor der Tumult entstand. Er sei aber nie an jenem Ende der Terrasse gewesen, wo Jetjenko sich befand. Dessen ist sie sich sicher, weil sie ihm mit dem Blick folgte. Sie sagt, dass er – Zitat – ›ein richtiger Augenschmaus‹ gewesen sei.« Ferrera warf mir ein schwaches Lächeln zu. »Wissen Sie, wie Ihr Mann gekleidet war, als er verschwand?«

Ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar. Ein richtiger Augenschmaus, was für eine lächerliche alte Tante.

»Er trägt fast immer ein Jackett«, sagte ich, »mit einem Hemd darunter, in dunklen Farben. Schicke Hosen, meistens Chinohosen, selten einmal Jeans.«

Ferreira zeigte auf mich, die Hand zu einer Pistole geformt. »Das ist genau das, was Marlene Hirtberger angibt. Graues Jackett und graues Hemd, Hose in einem dunkleren Farbton. Außerdem trug er einen Schlips, den er aber gelockert hatte, und die oberen Hemdknöpfe hatte er geöffnet, es war ein warmer Tag.«

»Ja dann«, sagte ich matt. »Dann wissen Sie ja, dass er es nicht war.«

»Zeit für einen Kaffee«, sagte Ferreira und hob den Hörer, drückte auf einen Knopf und sagte etwas zu der Person am anderen Ende der Leitung. Sein Portugiesisch klang wie eine kühlere, ein wenig hochnäsige Variante des Spanischen.

»Zeugenaussagen sind eine unsichere Beweisquelle«, erklärte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Menschen erinnern sich undeutlich, sie bringen Dinge und Tage durcheinander. Ein Teil von ihnen kann nicht einmal schwarz und weiß auseinanderhalten.«

»Haben Sie erfahren, wer die beiden anderen Männer waren?«

Er machte eine ausladende Geste mit den Armen.

»Wir haben nicht genug Personal, um die Straßen Lissabons nach zwei normalen Männern in normalen Anzügen durchsuchen zu lassen, denn genau so wurden sie von den Zeugen beschrieben. Dies ist kein Fall mit hoher Priorität, und das ärgert mich. Ich möchte keine Bandenkriege auf meinen Straßen.« Er stand auf und ging zur Tür. »Den Obduktionsergebnissen zufolge könnte es sich genauso gut um Selbstmord handeln, die tödlichen Verletzungen nach einem Aufprall aus zwanzig Metern Höhe wären dieselben, egal, ob man springt oder gestoßen wird.« Er öffnete die Tür in dem Moment, als ein Klingelton zu hören war, und nahm ein kleines Tablett mit Kaffee und einer Keksschale entgegen. Die Person, die sie brachte, war von meinem Platz aus nicht einmal zu sehen. Ferreira stieß die Tür mit dem Absatz zu und stellte das Tablett vor mir ab.

»Sie sagten, Ihr Mann wäre verschwunden?«, fragte er.

Ich biss von einem Keks ab, der unerträglich süß war. Dann erzählte ich die Geschichte in voller Länge, während Kommissar Ferreira Marmeladenplätzchen in sich hineinstopfte.

»Er wurde jedenfalls nicht gefunden«, sagte er, als ich fertig war. »Alle Reviere wissen, dass wir einen schwarzen Mann suchen, der am Tatort gesehen wurde. Wenn er irgendwo in Lissabon aufgetaucht wäre, hätten wir es also garantiert erfahren.«

»Sind Sie sicher?«, fragte ich.

Er wischte sich einige Krümel vom Hosenbein.

»Alle verdächtigen Todesfälle außerhalb des privaten Raums landen auf meinem Schreibtisch. Und verstorbene ausländische Mitbürger sind ausnahmslos meine Angelegenheit. Ich bin der Einzige in der Abteilung, der Englisch spricht.« Ferreira schielte zu dem Bild von Patrick, das vor ihm lag. »Außerdem haben wir nach dem Mord an Jetjenko auch in den Krankenhäusern angefragt.«

Ich lehnte mich zurück. Ließ die Worte ankommen und spürte trotzdem keine Erleichterung. Der Kommissar wischte sich die Finger an der Hose ab und deutete auf seinen Block, wo er zu meinem Bericht Notizen gemacht hatte.

»Ich werde versuchen, der Sache nachzugehen«, sagte er, »aber ich zweifle daran, dass wir weiterkommen. Es sei denn, Jetjenkos Witwe liefert ein paar neue Hinweise. Ein oder zwei Namen zum Beispiel.«

»Seine Witwe?« Ich starrte Ferreira an. Der Gedanke, dass Josef K. verheiratet sein könnte, dass es jemanden gab, der ihn vermisste, war mir nie in den Sinn gekommen. »Ist sie hier, in Lissabon?«

Er nickte.

»Sie hat ihn identifiziert. Sie wollten eine lange Reise unternehmen, sagte sie, nach Brasilien. Deshalb hatten sie hier einen Zwischenstopp gemacht. Ihr Mann sei auf der Terrasse gewesen, weil er die Aussicht bewundern wollte, mehr konnten wir ihr nicht entlocken.«

»Ist sie noch in der Stadt?«

»Soweit ich weiß ja.« Ferreira zuckte mit den Achseln. »Sie möchte ihn hier beerdigen, aber noch liegt der Gatte im Kühlschrank.«

»Wissen Sie, wo sie wohnt?«

»Das darf ich natürlich nicht sagen.«

»Ich möchte nur mit ihr sprechen. Vielleicht weiß sie etwas über Patrick.«

Er verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.

Ich holte Luft.

»Ich bin schwanger«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. Mir war, als würde der Inhalt meines Bauchs langsam etwas deutlichere Konturen annehmen. Es muss einen Namen bekommen, dachte ich. Eines Tages ist es nicht mehr es.

Der Ausdruck des Mannes mir gegenüber wurde weicher, und er betrachtete mich mit einem väterlichen Blick, der mir unter die Haut ging. Ich bückte mich und hob meine Tasche vom Boden auf, hängte sie mir über die Schulter und stand auf, um zu gehen. Ich hätte einfach den Mund halten sollen.

»Vielleicht wollen Sie den Ort sehen, an dem Jetjenko starb«, sagte Helder Ferreira hinter meinem Rücken.

Ich stoppte auf dem Weg zur Tür und drehte mich um. Der Kommissar zeigte mit seinem Stift nach Norden, wenn ich die Himmelsrichtung korrekt deutete. »Nehmen Sie die Straßenbahnlinie 28 nach Alfama und steigen Sie am Largo das Portas do Sol aus. Wenn Sie die Treppe neben dem Aussichtspunkt hinabsteigen, kommen Sie dort vorbei, wo Jetjenko aufschlug.« Er warf einen Blick in seine Papiere. »An der Gasse, die nach unten führt, gibt es eine Pforte mit der Nummer 62. Die Straße lässt sich nur schwer zuordnen, aber es wäre ohnehin nur verwirrend, in Alfama von Straßen zu sprechen. Sie sind auch auf keiner Karte eingezeichnet.«

»Danke«, sagte ich.

»Ganz am oberen Ende.« Er hielt seinen Stift senkrecht in die Luft.

»Und sollte sie Namen nennen ...«

»Dann werde ich es Ihnen erzählen«, sagte ich.

»Richten Sie Vera Jetjenkova aus, dass sie ihren Mann bald beerdigen kann.«

»Patrick Cornwall?« Der Hotelchef stand auf, nachdem er meine Angaben zur Reservierung eingegeben hatte. »Sie meinen den Amerikaner?«

Er ist hier, dachte ich. Er muss hier sein. Ich spürte ein Flattern in der Brust. Eigentlich war es ganz logisch. Hier hatte er sich die ganze Zeit versteckt, in einem muffigen, drittklassigen Hotel in Lissabon, in einem Viertel, wo sich die Häuser an den Hang schmiegten und die Bars mit peep shows lockten.

»Ja«, sagte ich und lächelte. »Er ist mein Mann.«

Der Hotelchef senkte den Kopf und ging langsam auf mich zu, wie ein Boxer in Angriffsstellung.

»Sind Sie gekommen, um die Rechnung zu bezahlen?«

Instinktiv wich ich zurück.

»Was? Was meinen Sie?«

»Er ist abgereist, ohne zu zahlen.« Der Mann zeigte auf den Schlüssel in meiner Hand. »Wenn Sie die Rechnung nicht übernehmen, kann ich Ihnen kein Zimmer geben.«

Meine Hand schnellte zu meiner Brust, ich atmete und hatte doch das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Es war ein körperliches Gefühl – die Hoffnung, die aus mir herausgerissen wurde, die Leere, die zurückblieb.

»Wir haben nicht sofort bemerkt, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, also sind es insgesamt vier Nächte.«

Der Portier pfefferte einen Ausdruck auf den Tresen und zeigte auf die Ziffern ganz unten, 144 Euro. Ich starrte auf den Namen oben auf der Rechnung, Patrick Cornwall. Darunter unsere Adresse in New York. Datum: Dienstag, der sechzehnte, bis Freitag, der neunzehnte September. Die Tage verschwommen vor meinen Augen.

»Sonst können wir das gern im Beisein der Polizei erörtern«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf das Furnier des Tresens.

Ich wandte mich ab. Von der Rezeption aus konnte ich direkt in die Bar blicken. Ein Gemälde bedeckte die eine Wand, Schiffe im Hafen von Lissabon, Kanonen. Der Raum war leer: keine Gäste, keine Musik, nur eine zeitlose Stille, schwer wie die Möbel, die dicken Vorhänge vor den Fenstern, die wohl noch nie ausgewechselt worden waren. Die Flecken an der Decke, der Staub. Über allem lag eine Müdigkeit, etwas längst Vergangenes.

Patrick hätte sich nie davongeschlichen, ohne die Hotelrechnung zu zahlen. Dazu war er viel zu sehr Muttersöhnchen, wohlerzogen und stets darauf bedacht, das Richtige zu tun. Allerdings war das der Patrick, den ich kannte, bevor er voller Erwartungen aus New York abgereist war. Doch zwischenzeitlich, bevor er in diesem Dreckshotel eingecheckt hatte, war viel passiert.

»Wo sind seine Sachen?«, presste ich hervor. »Hat er sie mitgenommen, oder sind sie noch hier?«

Der Hotelleiter antwortete nicht. Er trommelte ununterbrochen mit seinen Fingern auf den Tresen.

»Ich bezahle das Zimmer natürlich«, sagte ich. »Ich bin mir sicher, dass auch er das vorhatte, aber ...«

Ich holte meine Geldbörse hervor und legte zwei Hundert-Euro-Scheine auf den Tisch. Am Flughafen hatte ich Tausend Euro abgehoben. Jetzt waren von unserem Geld nur noch rund dreitausendfünfhundert Dollar übrig.

Der Portier nahm das Geld und meinen Pass. Dabei kam mir der Gedanke, dass es Dinge gab, die man bei sich trug, wo auch immer man hinreiste, was man auch vorhatte.

»Haben Sie seinen Pass noch?«

»Nein, den hatten wir ihm zurückgegeben. Wir nehmen ihn nur beim Check-in vorübergehend an uns, um alle Angaben zu kontrollieren.«

»Und die anderen Sachen? Seine Kleidung, sein Computer?«

Der Portier nahm einen Schlüsselbund aus einer Schublade, dann klappte er ein Stück des Tresens hoch und kam dahinter hervor. »Folgen Sie mir«, sagte er und knallte die Platte wieder an ihren Platz.

Er führte mich an einer Reihe leerer Kisten vorbei, durch einen Korridor und eine schmale Treppe hinab und schloss eine Tür auf.

»Hier bewahren wir nicht abgeholtes Gepäck auf.« Er drehte an einem Lichtschalter, und eine nackte Glühbirne an der Decke flackerte auf. Eine Abstellkammer. Hinter klapprigen Stühlen und Farbeimern standen in einer Ecke verlassene Koffer, ein Rucksack und einige Plastiktüten, aus denen Kleidung herausquoll. Ich erkannte Patricks braunen Reisekoffer mit den Metallbeschlägen sofort. Mein Hals schnürte sich zu.

»Ich muss mich um die Rezeption kümmern. Knipsen Sie das Licht hinter sich aus.« Seine Absätze klapperten auf der Steintreppe, als er ging, und wurden vom zerschlissenen Teppich im Flur gedämpft, bis sie schließlich nicht mehr zu hören waren.

Ich stand wie angewurzelt da und starrte den Koffer an. Erinnerte mich daran, wie er geöffnet in der Wohnung gelegen hatte und Patrick um ihn herumwuselte, seine Sachen ordentlich gefaltet hineinlegte und den Deckel zuklappte.

Der Koffer war nicht abgeschlossen. Ich legte ihn auf den Boden und öffnete den Deckel. Da lagen seine Kleider, zusammengeknüllt und verknittert, seine grauen Chinohosen und fast neuen Jeans, das blaue Hemd und der Markenpullover aus rotem Kaschmir, den ich ihm zu seinem siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Alles war durcheinander, nicht ordentlich zusammengelegt. Ich hielt mir einen Pullover vor das Gesicht, bohrte meine Nase in die weiche Wolle und atmete den Duft ein. Olivenseife und ein wenig Aftershave, möglicherweise ein Anflug von Schweiß. Ich wusste nicht, was ich wirklich roch und was nur eine Erinnerung an seinen Geruch darstellte, und ich atmete vorsichtig, damit die letzten Spuren nicht ganz verschwanden. Und in meinem Kopf entstand ein Bild von Patrick, als er mich verließ, von seinem Rücken, der in einem weißen Nebel verschwand, in dem es nur noch Vergessen gab und Einsamkeit, und mir liefen die Tränen, aber ich kümmerte mich nicht länger darum, sie aufzuhalten.

Patrick hätte niemals ein solches Durcheinander hinterlassen. Er war der Typ, der die Socken in seinem Schrank nach Farben sortierte. Er war nicht freiwillig verschwunden. Und er war nicht zurückgekommen. Und ich konnte den schlimmsten aller Gedanken nicht mehr zurückhalten: dass er vielleicht tot war.

Ich weiß nicht, wie lange ich zusammengekrümmt auf dem kalten Steinboden saß und seinen Pullover an mich drückte. Fünf Minuten, zehn, eine Stunde, und ein Leben zieht vorüber, bis es plötzlich vorbei ist. Es war eine Lüge, dass etwas anderes übrig blieb als Einsamkeit.

Und Patricks Duft, mit jedem Atemzug, sein weicher Pullover an meinem Gesicht.

Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen ... ich vermisse dich so.

Schließlich setzte ich mich auf. Legte den Pullover behutsam zusammen und nahm nacheinander die anderen Sachen aus dem Koffer. Seinen Reiseführer über Paris. Ein Buch über Rimbaud, zwischen schmutzigen Unterhosen und Socken, die einen säuerlichen Duft verströmten, als ich sie hochhob. Ich nahm alle Kleidungsstücke einzeln heraus, legte sie zusammen und wieder in den Koffer. Eine schwarze Chinohose, die er fast immer trug, und ein graues Hemd fehlten. Das graue Jackett. Die Sachen, die er anhatte, als er verschwand. Außerdem fiel mir auf, dass auch der Computer nicht mehr da war, und es gab keinerlei Rechercheunterlagen. Ich klappte den Koffer zu und sperrte ihn mit dem Zahlenschloss ab. Kein anderer sollte in seinen Sachen wühlen. Dann stellte ich den Koffer wieder in die Ecke, machte das Licht aus und schloss die Tür hinter mir.

Anschließend ging ich nach oben und bezog mein Zimmer.

Ein schwacher Schimmelgeruch schlug mir entgegen, der Teppich sah aus, als wäre er in den 1960ern verlegt worden. Die Wände hatten die gleiche schmutzig gelbe Farbe wie im übrigen Hotel. Ich öffnete eine Glastür und gelangte auf einen schmalen Balkon, der zur Straße hinausging. Am Geländer hingen einige schlaffe Wimpel mit ausgeblichenen Rändern und Farbflächen. Ein Rollkoffer ratterte über das Kopfsteinpflaster.

Irgendwo dort draußen gibt es eine Erklärung, dachte ich.

Und jemanden, der es verdient hat zu büßen und in der Hölle zu schmoren.

»Wo ist der Laptop?«, fragte ich, als ich zwanzig Minuten später wieder an die Rezeption trat. Ich hatte eine Katzenwäsche gemacht und trug nun einen nahezu sauberen Pullover. »Er hatte einen Laptop bei sich, der nicht im Keller war.«

Der Portier reichte mir eine Rechnung, die ich nicht kontrollierte.

»Alles, was noch im Zimmer war, liegt in dem Koffer«, sagte er und prüfte misstrauisch meine Unterschrift. »Er hinterließ ein furchtbares Chaos, das das Reinigungspersonal beseitigen musste.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Wer behauptet das?«

Der Portier kniff die Augen zusammen.

»Alle, die in diesem Hotel arbeiten, sind durch und durch verlässlich«, sagte er.

Irgendjemand musste die Unordnung angerichtet haben, dachte ich. Jemand anderes als Patrick.

»Hatte er seinen Laptop dabei, als er das Hotel verließ?«

»Darauf habe ich nicht geachtet.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Keine Ahnung, daran erinnere ich mich nicht.«

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte ich und ahmte seine eigene Körperhaltung nach, senkte den Kopf und schärfte den Blick wie ein Stier oder ein Boxer vor dem Angriff.

»Möglicherweise sind Sie verstört, weil Ihnen beinahe, lassen Sie mal sehen, wie viel waren es ... «, ich nahm die Rechnung und untersuchte sie, »einhundertvierundvierzig Euro entgangen wären.« Ich knüllte den Zettel in meiner Hand zusammen. »Aber mein Mann ist verschwunden und sein Laptop ist weg. Morgen früh gehe ich zur Polizei. Wenn Sie mir nicht alles erzählen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass die Polizisten ihr Hotel auf den Kopf stellen und Fernsehteams von allen amerikanischen Sendern dabei sind.«

Er hob abwehrend die Hände.

»Es gab keinen Laptop, das sage ich doch. Ich war selbst dabei, als wir beschlossen, das Zimmer zu räumen. Er muss den Schlüssel selbst genommen und sich hineingeschlichen haben.«

»Warum glauben Sie das?« Merkwürdig, wie eine kleine Drohung mit den Medien die Menschen zum Reden brachte, es funktionierte wie in den Märchen aus meiner Kindheit: Nimm dich in Acht, damit der Wolf dich nicht frisst. Oder der Russe.

Der Portier erklärte umständlich und detailliert, dass das Zimmermädchen den Raum am Dienstag wie gewöhnlich geputzt hatte.

An jenem Tag, an dem Patrick sich mit Jetjenko treffen wollte, dachte ich.

Am darauffolgenden Tag, einem Mittwoch, hatte alles verstreut dagelegen, aber sie hatte erneut geputzt, und mehr war nicht passiert. Abgesehen davon, dass er nicht wieder aufgetaucht war. Das Zimmermädchen war sich sicher, dass er nicht in dem Bett geschlafen hatte. Am Freitag waren sie dann in das Zimmer gegangen und hatten es geräumt.

»Kann jemand anders im Zimmer gewesen sein?«

»Die Rezeption ist immer besetzt.«

»Als sie mir vorhin den Keller gezeigt haben, war das aber zum Beispiel nicht der Fall.«

»Ich meinte natürlich, dass immer jemand Dienst hat.«

Er verzog den Mund, wandte mir den Rücken zu und setzte sich wieder an den Computer. Eine mechanische Wanduhr zeigte an, dass es zehn vor zwei war. Mein Magen knurrte, und zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass ich Hunger hatte. Alles im Leben ging einfach weiter, als wäre nichts passiert.

Ich hielt mich an einer Lederschlaufe an der Decke fest. Die Straßenbahn war ein Oldtimer, sie ächzte, kreischte, hustete und klagte in den Kurven wie ein menschliches Wesen. Wir erreichten eine Bergkuppe, und die Straße wurde wieder eben und verwandelte sich in einen Platz. Gemeinsam mit einem schwarzhaarigen Mädchen mit einer Staffelei unter dem Arm und drei skandinavischen Touristinnen stieg ich aus.

Die Aussicht reichte kilometerweit. Die Stadt kletterte in einem Wirrwarr aus kleinen, weißen Häusern, schiefen Mauern und welligen, roten Ziegeldächern den Hang empor. Ich sah grüne Hinterhöfe, Katzen, wehende Wäsche, unter mir lag der Hafen, und der Fluss öffnete seine Mündung zum Atlantik.

In einem kleinen Bistro bestellte ich mir einen Kaffee und setzte mich auf einen wackligen Stuhl. Ein Paar im Studentenalter knutschte über seinem Bier, und das Mädchen fing an, seine Staffelei aufzubauen. Es war ein Ort, den jeder romantisch genannt hätte, nur ich nicht – in diesem Moment. Michail Jetjenko hatte es wahrscheinlich auch nicht als besonders romantisch empfunden, kopfüber in eine gepflasterte Gasse zu stürzen.

Ich sah auf die Uhr. 14:50 Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum exakten Zeitpunkt. Der doppelte Hamburger aus dem Hard Rock Café in der Avenida da Liberdade lag mir wie ein Stein im Magen.

Ich dachte: Hier sitzt Joana Rodrigues und liest ihr psychologisches Lehrbuch. Dort wird gleich Marlene Hirtberger über den Platz schlendern, um die Aussicht von der Terrasse zu genießen, unterwegs wird ihre Aufmerksamkeit jedoch von etwas anderem gefesselt. Einem richtigen Augenschmaus.

Ich sah Marlene Hirtberger vor mir, und ich sah Joana Rodrigues. Ich sah den Skateboard fahrenden Dreizehnjährigen, der gekommen war, um den Tod herauszufordern. Dann positionierte ich sie alle auf ihren Plätzen. Es war mir wichtig gewesen, zur richtigen Zeit zu kommen, wenn die Schatten so fielen wie an besagtem Tag. Erst nachdem alle Rollen besetzt waren, schickte ich Patrick auf die Bühne.

Ich leerte meine Tasse und stand auf, um mir den Ort näher anzusehen. Eine achtzehn Meter lange Brücke führte zum eigentlichen Aussichtspunkt, sie wurde an beiden Seiten von hohen, weißen Mauern begrenzt. Hier war der waghalsige Jorge Skateboard gefahren. Ich schielte auf der linken Seite nach unten. Bei einem Sturz wäre er entweder zehn Meter tief im Brennnesselgestrüpp gelandet oder beim Aufprall auf eine Steintreppe gestorben.

Die eigentliche Terrasse war zwölf Meter breit, zweiundzwanzig Meter lang und von einem niedrigen Geländer umgrenzt.

Eine Person über dieses Geländer zu stoßen, war keine große Kunst, stellte ich fest, als ich über den gepflasterten Platz bis zu der Ecke ging, in der Jetjenko gestanden hatte. Das Geländer war einen Meter hoch, es reichte mir bis zum Bauchnabel.

Hier stehe ich, dachte ich. Michail Jetjenko. Ich warte auf einen amerikanischen Journalisten. Er ist mein Ticket nach Brasilien, in die Freiheit, mein neues Leben, ich sehe seiner Ankunft entgegen, aber ich schaue nicht in die Richtung, aus der er kommen wird. An diesem Ort muss man sich dem Fluss zuwenden, der einzigartigen Aussicht auf das Fahrwasser, auf dem Eroberer und Pioniere von Lissabon aus gen Amerika segelten, und wenn ich tief einatme, kann ich den Atlantik als ewigen Duft von Salz und Träumen wahrnehmen.

Ich beugte mich über das Geländer. Dort in der Tiefe lag die Gasse, zwanzig Meter unter mir. Kopfsteinpflaster. Mir schauderte, ich trat einen Schritt zurück.

Er hat nicht einmal bemerkt, dass sie kamen, dachte ich. Sie mussten hier stehen geblieben sein, höchstens einen Meter von ihm entfernt. Jetjenko, sagen sie, und er dreht sich um. Richten sie Grüße vom Chef aus? Lassen Sie von Monsieur Thery grüßen, bevor sie ihn über das Geländer befördern?

Was sieht Patrick, der just in diesem Moment auf dem Weg hierher ist, um den Mann zu treffen, der sich Josef K. nennt?

Ich ging rasch auf den Bürgersteig zurück, wo das Café lag. Wie war Patrick dorthin gekommen? Vermutlich mit der Straßenbahn, um in der Menge unterzutauchen, aber er war sicher so vorsichtig, eine Haltestelle früher auszusteigen, und war das letzte Stück auf dem schmalen Bürgersteig entlang der weißgekalkten Hauswand gegangen. Die Aufregung macht sich als dumpfes Klopfen in seinem Körper bemerkbar, all seine Sinne sind hellwach. Er sieht sich achtsam um und lauscht und nähert sich behutsam. Er nimmt das Quietschen der Straßenbahn und den Duft von gegrilltem Fisch wahr, den kühlen Schatten und die Musik, die aus irgendeiner Bar dringt; jetzt ist er seinem Ziel nahe. Aber dreht er sich um? Ahnt er, dass man ihm folgt?

Ich blickte den Hügel hinab, wo eine weitere Straßenbahn auftauchte und dann an mir vorüberfuhr, ein gebeugter, alter Mann mühte sich bergauf.

Falls sie Patrick gefolgt waren, hätte er vor den Angreifern auf der Terrasse sein müssen.

Sie mussten auf ihn gewartet haben.

Irgendwie hatten sie erfahren, dass Patrick Jetjenko treffen wollte. Der Ukrainer war auf der Terrasse gefangen wie ein Tier im Käfig, aber sie konnten nicht abwarten, bis Patrick ebenfalls dort war. Einen Mann über die Brüstung zu stoßen war einfach. Zwei waren ein zu großes Risiko.

Ich stellte mich an den Anfang der Brücke, dorthin, wo Jorge sein Skateboard in Bewegung gesetzt hatte. Hier hatte Patrick gestanden, als die Männer Jetjenko auf die andere Seite befördert hatten. Er musste gesehen haben, wie es geschah. Ich stellte mir vor, dass der Schock ihn wie eine Druckwelle traf. Die wenigen Sekunden, die die beiden Männer brauchten, um sich umzudrehen und wegzurennen, mit dem Skateboarder zu kollidieren und zu verschwinden, musste er erstarrt dagestanden haben. Patrick hatte sich nach ihnen umgedreht und direkt in Marlene Hirtberges lüsterne Augen geblickt.

Die Männer mussten ihn ebenfalls gesehen haben, und sie wussten, dass er auf die Terrasse kommen wollte. Sie wussten, dass er sie identifizieren konnte, sie vielleicht sogar aus Paris erkannte. Sie konnten ihn nicht einfach davonkommen lassen.

Sie mussten einen Plan gehabt haben.

Der junge Jorge hatte einen von ihnen in Richtung Mouraria flüchten sehen, den Stadtteil, der auf der anderen Seite des Hügels lag.

Aber den anderen?

Ein gewöhnlicher Mann, in einem gewöhnlichen Anzug.

Ich lehnte mich an die Mauer und sah, dass die junge Künstlerin auf ihrer Leinwand gerade die Ziegeldächer verewigte.

Was tut Patrick? Sekunden nach dem Tumult auf der Terrasse sind alle Zeugen damit beschäftigt zu erfahren, was geschehen ist, warum die Menschen kreischen, wer der Tote ist. Doch Patrick weiß es. Er braucht der Schar, die zur Terrasse strömt, nicht zu folgen. Er rennt in eine andere Richtung, und er wählt den ersten Fluchtweg, der ihm in den Blick kommt: die lange Treppe, die vom Largos das Portas do Sol hinab und in das Gassengewirr von Alfama führt. Genau dort, am oberen Treppenabsatz, begegnet er einem alten Mann mit Hund, einem Rentner, der im Viertel geboren und aufgewachsen ist und denkt, dass ein schwarzer Mann, der flüchtet, zwangsläufig der Schuldige sein muss.

António Nery, zweiundsiebzig, bemerkt allerdings nicht, dass der schwarze Mann von einem weißen Mann mit einem Anzug von der Stange verfolgt wird.

Langsam stieg ich die steile Treppe hinab. Was hatte Patrick gedacht, als er seinen wichtigsten Informanten tot am Fuß der Treppe liegen sah? Nahm er sich die Zeit, sich herabzubeugen? Er wusste, dass die Mörder Jetjenkos in der Nähe waren und dass es mehrere sein konnten. Er musste gerannt sein, direkt in das Wirrwarr der Gassen hinein.

Ich sank auf die letzte Treppenstufe. Blutspuren waren nicht mehr zu sehen. Ich stellte mir vor, wie Patrick verloren durch das Häusergewirr irrte und nicht mehr hinausfand, wie ein Geist, ein Verdammter, der zwischen Leben und Tod gefangen war. Ich stand auf und sah ein letztes Mal zu der Terrasse hinauf, die hoch über mir lag.

Gehen Sie weiter die Gasse entlang, hatte der Kommissar gesagt.

Haus Nummer 62 lag an einem kleinen Platz oder besser gesagt an einer Ausbuchtung, wo sich die Gasse etwas verbreiterte. In die Hauswand war eine kleine Fontäne eingemauert, ein Löwenmaul, aus dem Wasser tropfte. Darüber beugte sich eine Frau aus dem Fenster und hängte Wäsche auf eine Leine. Ein idyllischer Ort, hätten nicht einige der Häuser einsturzgefährdet gewirkt. Die Nummer 62 war eines von ihnen.

An der Eingangstür gab es zwei Klingeln, von denen keine mit einem Namen versehen war. Ich drückte beide gleichzeitig und hörte das Schellen durch die heruntergelassenen Jalousien im zweiten Stock. Durch die Schlitze konnte ich eine Bewegung erahnen. Einige Minuten verstrichen, dann klickte das Schloss, und die Tür wurde einen kleinen Spalt weit geöffnet.

»Wer sind Sie?«, zischte eine Frau in gebrochenem Englisch. Ich sah ein Auge und die Hälfte eines Mundes mit kräftigen Lippen. Das Treppenhaus hinter ihr lag im Dunkeln. »Sind Sie gekommen, um mich zu holen?«

»Sind Sie Vera Jetjenkova?«, fragte ich.

»Warum?«

»Ich möchte mit Ihnen über Ihren Mann sprechen.«

»Geht es um die Miete?«

Ein starker Parfümduft drang nach draußen.

»Ich heiße Ally Cornwall. An dem Tag, als er starb, wollte Ihr Mann sich mit meinem Mann treffen.«

»Mein Mann, Ihr Mann«, sagte Vera Jetjenkova. »Und wer ist Ihr Mann?«

»Er heißt Patrick Cornwall und er ist ein amerikanischer Journalist.«

»Aha, was Sie nicht sagen.«

»Ich möchte doch nur mit Ihnen sprechen.«

»Aber ich nicht mit Ihnen.« Die Frau hustete. »Richten Sie denen das aus. Und verduften Sie endlich, bevor ich jemanden bitten muss, sie wegschaffen zu lassen.«

»Ich weiß, dass Ihr Mann ermordet wurde.«

Ich bildete mir ein, dass ich ihre Atemzüge hören konnte, oder war es nur irgendein Ventilator in der Nähe?

»Ich glaube, ich weiß, wer es war«, sagte ich.

Die Tür wurde um einige weitere Zentimeter geöffnet. Sie trug einen Morgenrock. Ihre Füße steckten in riesigen Pantoffeln, die ein Erbstück von ihrem Mann sein mussten.

»Ich bin noch nicht angezogen«, sagte sie und drehte sich um. Der Morgenrock flatterte, als sie eine schmale Treppe hinaufstieg. Als ich die Tür hinter mir schloss, wurde es schwarz. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich kletterte an einer Tür ohne Griff und Schloss vorbei und stieg eine weitere, schiefe Treppe hinauf. Die Tür zu Vera Jetjenkovas Wohnung stand offen, Licht drang heraus. Auf dem Treppenabsatz stand ein kleiner Kühlschrank und gab gurgelnde Laute von sich.

»Die Polizei behauptet, Micha hätte sich umgebracht. Als ob ich ihn nicht besser kennen würde.« Vera Jetjenkova stand im Flur und stemmte die Hände in die Hüften. Sie trug Lockenwickler. Ich schätzte sie auf Mitte sechzig. Um ihre wulstigen Lippen herum spannte die Haut, offenbar hatte sie schon ein oder zwei Faceliftings hinter sich.

»Also, wer hat den Amerikaner geschickt? War es der Slowake? Oder waren es die Russen?«

Ich stand noch immer im Treppenhaus und versuchte zu erraten, was sie meinte.

»Patrick hat Ihren Mann nicht umgebracht«, sagte ich. »Er wollte ihn interviewen. Sie waren verabredet.«

»Verabredet!« Vera Jetjenkova hob ihre Hand zu einer imaginären Ohrfeige und ließ sie durch die Luft schnellen. »Die Geschäfte sollten abgeschlossen werden und die Tickets kommen, und jetzt sitze ich hier. Wie ein Vogel im Käfig, aber wohin soll ich fliegen? Das müssen Sie mir beantworten!«

Sie deutete mit der ganzen Hand auf mich.

»Machen Sie die Tür zu«, sagte sie.

Ich betrat den Flur. Die Frau war kleiner als ich und ein wenig rundlich. Wie eine kleine, russische Omi, dachte ich und hatte mit einem Mal das Bild von den Holzpuppen im Kopf, die man ineinander stecken konnte. Doch Vera Jetjenkova kam aus der Ukraine, rief ich mir in Erinnerung, und wollte daher wohl kaum als Russin bezeichnet werden.

»Ich muss mir was anziehen«, sagte sie und verschränkte die Arme, »aber erst will ich wissen, warum Sie durch die Gegend rennen und von Micha reden.«

»Ich möchte nur wissen, was mit Ihrem Mann passiert ist«, sagte ich und sah mich schnell um. Auf der linken Seite gab es ein Badezimmer, in dem eine enge Dusche neben einer Toilette eingeklemmt war. Geradeaus lag eine gekachelte Küchenecke. Die Tür zu dem Zimmer, das wohl als Schlafzimmer diente, war angelehnt, drinnen war es dunkel. Ich lauschte konzentriert, konnte jedoch nichts hören, was darauf hingedeutet hätte, dass sich jemand darin aufhielt. Daneben gab es eine weitere Tür, sie führte ins Wohnzimmer. Insgesamt war die ganze Wohnung nicht größer als unser Schlafzimmer in Gramercy.

»Kennen Sie einen Mann namens Alain Thery?«, fragte ich.

»Sie meinen den Franzosen«, sagte Vera Jetjenkova. Sie zog den Gürtel des Morgenmantels enger, sodass ihre Taille eingeschnürt wurde. Sie war nicht so dick, wie ich zunächst angenommen hatte, aber unter dem Mantel wogte ein riesiger Busen.

»Ich glaube, dass er dahintersteckt«, sagte ich und lieferte eine schnelle Kurzversion dessen, was meiner Vermutung nach passiert war.

Vera Jetjenkova unterbrach mich mitten im Satz. »Habe ich ihm nicht gesagt, dass es schlimm enden würde? Warum wollte er plötzlich die Geschäfte kaputtmachen? Es lief doch so gut. Uns ging es gut.« Sie ging ins Wohnzimmer, und das Rattan krachte, als sie sich in einem Sessel niederließ. »Wohin soll ich jetzt gehen? Sagen Sie mir das doch bitte mal.«

Ich ging ihr nach und stellte mich in den Türrahmen.

»Wussten Sie, dass er Patrick Cornwall treffen wollte?«

»Er sprach nur von einem amerikanischen Journalisten.« Vera Jetjenkova zuckte mit den Schultern. »Dann sollten die Tickets kommen und die Pässe. Er versprach, dass wir nach Brasilien reisen würden, aber was sollte ich dort eigentlich? Wir hatten ein wunderbares Haus. Und dann kam er nicht zurück. Am Abend klopfte die Polizei an die Tür.« Sie schüttelte den Kopf und sah zur Decke. »Der dumme, dumme Micha, er hatte die Adresse in seiner Tasche, er konnte sich keine Zahlen merken und verirrte sich ständig.«

Sie wies auf einen der Sessel, ich betrat das Wohnzimmer und setzte mich. Auf dem Tisch lag ein Stapel Bücher, sonst gab es keine persönlichen Gegenstände. Das Zimmer wirkte, als wäre es von jemandem möbliert worden, der nicht darin wohnte. Eine Lampe verbreitete einen gelblichen Schein, der die Haut grau aussehen ließ.

»Mein Mann war Dichter, verstehen Sie. Tief in seiner Seele war er ein Poet.«

»Aha«, sagte ich und verkniff mir den Kommentar: Wie naiv von mir zu denken, er wäre Sklavenhändler!

»Dostojewski, Tschechow, Gogol, er las sie alle, sogar Pasternak und Kafka, obwohl der kein Russe war.« Sie strich mit der Hand über die kyrillischen Buchstaben auf den Buchrücken und lachte vor sich hin. »Er scherzte immer darüber, dass er sich das nächste Mal Puschkin nennen würde. Puschkin ist Ihnen wohl ein Begriff?«

Ich nickte, russischer Dichter, eine Art Nationalheiliger. Wie er schrieb, wusste ich nicht, aber mit Sicherheit schwermütig und eindrucksvoll.

»Wir sind Russen, verstehen Sie«, fuhr sie fort. »Es ist nicht leicht für uns. Die Ukrainer wollen die Geschäfte am liebsten selbst übernehmen und wären uns gern los – nichts ist mehr so, wie es einmal war.«

»Ihr Mann sollte Patrick einige Dokumente überreichen«, sagte ich. »Hatte er sie dabei, als er sich auf den Weg zu dem Treffen machte?«

Vera Jetjenkova stand abrupt auf.

»Es war mein Fehler«, sagte sie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, »der Treffpunkt war meine Idee.« Sie raufte sich die Haare, wobei ein Lockenwickler herunterfiel und auf dem schmutzigen, verblichenen alten Teppich landete. »Ich sagte, er solle sich einen bekannten Ort aussuchen. Damit er sich nicht verlief, mein armer Micha, er konnte sich ja nicht einmal in Kiew orientieren. Ihm fehlte dieser Sinn, wie heißt das noch?«

»Orientierungssinn«, sagte ich.

Vera Jetjenkova schüttelte den Kopf und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Platz vor ihrem Fenster.

»Du brauchst nur nach rechts zu gehen, sagte ich, nur die Gasse hoch, immer geradeaus.«

Sie schluchzte auf und begrub ihr Gesicht in den Händen.

»Es muss schrecklich für Sie gewesen sein«, sagte ich.

Vera Jetjenkova warf mir einen Blick zu.

»Was wissen Sie denn schon davon?«, fragte sie und verließ den Raum.

»Eine ganze Menge«, sagte ich leise ihrem Rücken hinterher.

Während sie in der Küche klapperte, ging ich zum Fenster. Das Tageslicht warf durch die Schlitze der Jalousien Streifen auf den Boden, es war bald achtzehn Uhr. Ich konnte draußen keine Feuerleiter sehen, sicherlich gab es in diesem mittelalterlichen Stadtteil gar keine.

»Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich die Jalousien hochziehe?«, fragte ich Vera Jetjenkova, als sie zurückkehrte.

Sie hielt eine Flasche Portwein und zwei Gläser in den Händen.

»Natürlich«, sagte sie. »Ich denke einfach nicht daran. Ich gehe erst raus, wenn es dunkel ist. Schlafe am Tag. So ist es, seit ...« Sie stellte die Gläser ab und goss einen Schluck ein. »Ich komme gleich«, sagte sie und verschwand wieder.

Ich zog die Jalousien hoch. Das Fensterbrett war grau von Ruß und Staub und anderem Schmutz. Die Frau aus dem Haus gegenüber rief einem Mann etwas zu, der den kleinen Platz überquerte, er schrie eine Antwort zurück. Irgendwo lief ein Fernseher, Geräusche von einem Fußballspiel. Warum bleibt sie hier?, dachte ich. Warum verlässt sie nicht den Ort, der für immer mit der Gasse verbunden ist, in der ihr Mann auf den Pflastersteinen zerschmettert wurde?

»Ich möchte, dass die Vereinbarung eingehalten wird«, sagte Vera Jetjenkova, als sie wieder da war. Sie ging schnurstracks zu ihrem Portweinglas und leerte es mit einem Zug. In bekleidetem Zustand hatte sie sich zu einer schicken, kleinen Dame verwandelt, wie aus einer Klatschzeitung über die Reichen und Berühmten auf Englands Gütern und Schlössern entsprungen. Sie trug ein elegantes, feinkariertes Kostüm mit Blazer und Dreiviertelhosen und hatte ein zweifarbiges Tuch um ihre Schultern drapiert. Ich hätte schwören können, dass ihre Haarspange aus echtem Gold war.

»Ich möchte hunderttausend Dollar oder Euro, das ist ja fast dasselbe.«

Sie langte nach der Flasche und füllte ihr Glas auf. Das Getränk hatte eine tiefbraune Farbe und passte zu ihrer Kleidung.

»Das haben Sie missverstanden ...« Ich nippte an dem Wein, ein strenger Geschmack legte sich auf meine Zunge, altes Eichenfass und Süße. »Ich habe nichts damit zu tun, ich suche nur meinen Mann.«

Vera Jetjenkova beugte sich vor und senkte die Stimme.

»Die glauben, dass wir tot sind«, sagte sie. »Ich kann nicht nach Hause zurück. Man soll nicht versuchen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, das musste mein armer Micha erfahren, aber ich werde denen ein Schnippchen schlagen, hören Sie?« Sie leerte ihr zweites Glas. »Jetzt, wo Micha fort ist, graben sie alles aus, was sie über ihn finden können. All die Lügen aus ihren Archiven. Aber ich sage Ihnen, er hat nur seinen Job gemacht. Er war ein leidenschaftlicher Mann.«

Sie packte den Flaschenhals und goss erneut nach.

»Er hat sich alles notiert. Jede Ziffer. Namen, alles. Damit haben sie nicht gerechnet. Haha.« Sie stellte die Flasche auf den Boden. »Er war gut im Dokumentieren, mein Micha.«

»Hatte er die Dokumente dabei, als er Patrick treffen wollte?«, fragte ich noch einmal.

»Natürlich hatte er.« Vera Jetjenkova sah mich an, als wäre ich minderbemittelt. »Der Journalist sollte die Papiere bekommen und wir die Tickets, um von hier wegfliegen zu können.« Sie wedelte mit den Händen, um das Letztgesagte zu unterstreichen. Dann ließ sie sich gegen die Rückenlehne fallen. »Und jetzt muss ich alleine fahren. Glauben Sie an das Schicksal?«

»Die Polizei hat nichts von Dokumenten erwähnt«, sagte ich. »Seine Mörder müssen sie genommen haben, es sei denn ...«

Ich verstummte mitten im Gedanken und sah wieder nach draußen. Irgendwo unten in der Gasse hörte ich einen klagenden Gesang. Es klang, als wollte jemand sein Herz durch die Kehle pressen.

Es sei denn, Jetjenko weigerte sich, die Papiere loszulassen, dachte ich und sah alles in Zeitlupe vor mir, den Mann, der durch die Luft segelte und noch im Tod die Dokumente an seine Brust drückte. Und in den Sekunden danach war Patrick die Treppe hinuntergerannt, zu der Leiche. Er könnte die Dokumente genommen haben, er war von seiner Geschichte besessen. Besessen genug, um Papiere aus der Hand eines toten Mannes zu reißen?

Jedenfalls war er anschließend gerannt, dachte ich und schaute auf den kleinen Platz hinab, wo sich die Gasse verbreiterte und nach fünfzehn Metern in eine weitere Treppe mündete. Dann machte sie einen Knick, verschwand aus dem Blickfeld und verzweigte sich mit den tausend anderen Gassen am Hang. Die nicht einmal auf der Karte verzeichnet waren, das hatte der Polizist gesagt.

Sie mussten ihm gefolgt sein.

Faire d’une pierre deux coups.

Aber Patrick hatte sie überlistet, sich die Dokumente geschnappt und war geflohen.

»Die Polizei hat angerufen«, sagte Vera Jetjenkova. »Sie sagen, dass ich meinen Micha jetzt beerdigen kann.« Sie legte ihre Hand auf die Brust. »Sechsunddreißig Jahre! Und dann wollen sie, dass ich ihn hier, in dieser fremden Erde begrabe?«

Erde ist Erde, dachte ich.

Und dann der nächste Gedanke: Ein Mensch kann nicht verschwinden.

Wenn sie Patrick hier in den Gassen umgebracht hätten, dann hätte die Polizei seine Leiche gefunden.

Ich ging zu meiner Tasche, die auf dem Stuhl lag.

»Patrick ist geflohen, nachdem Ihr Mann ... er muss hier entlanggerannt sein«, sagte ich und zeigte ihr das Foto. »Haben Sie ihn gesehen? Oder sogar hereingelassen?«

»Wovon sprechen Sie? Hierher kommt niemand.« Vera Jetjenkova beugte sich vor und betrachtete blinzelnd das Foto von Patrick. Dann brach sie in heiseres Gelächter aus.

»Sind Sie etwa mit einem Bimbo verheiratet?« Der Inhalt des Glases schwappte in ihrer Hand.

Ich biss die Zähne zusammen und steckte das Foto wieder ein.

Immerhin hatte ihre Verwunderung echt gewirkt. Hier war er nicht gewesen.

»Ich will mein Ticket«, sagte Vera Jetjenkova. »Ich muss von hier weg.« Die letzten Sonnenstrahlen ließen einen sündhaft teuren Stein an ihrem Finger aufblitzen, als sie die Hand mit ihrem Glas drehte. Sie betrachtete es, als bemerke sie erst jetzt, was sie eigentlich trank. Zehnjähriger Tawny stand auf der Flasche. Abgesehen davon, dass man sie eigentlich aus kleineren Gläsern konsumierte, wusste ich nichts über Süßweine.

»Erst stirbt Anna, dann Micha. Ich werde nie wieder nach Hause zurückkehren.«

»Anna, war das seine Patentochter?«

Vera Jetjenkova stand auf und stellte sich neben das Fenster. Sie drückte sich an die Wand. Damit man sie nicht sehen konnte, dachte ich.

»Unsere Patentochter«, sagte sie und schloss die Augen. Draußen stieg der Gesang wie eine Welle zwischen den Häusern auf und ebbte ab. Es war eine Frauenstimme, die den Abend in ihren Blues hüllte.

»Hören Sie nur«, sagte sie. »Das ist die Musik der Nacht, der Fado. Sie singen von allem, was sie verloren haben.« Sie ließ ihre Finger im Takt der Melodie flattern, Töne in Moll, die sich ineinander rankten. »Es ist die Musik der freigelassenen Sklaven, der Betrüger und Huren in den Gassen, sie spricht zu meiner russischen Seele. Micha war da anderer Meinung. Solch ein Jammergesang, sagte er immer. Sie sagen, der Fado habe seine Melodien von den Meereswellen übernommen, hören Sie?« Sie schwang ihren Schal im Takt, vor und zurück, ihr enormer Busen schaukelte. »Es bedeutet Schicksal, wissen Sie. Das Schicksal, das die Liebenden voneinander trennt.«

Ein Schicksal, das von den früheren Gangsterkumpels deines Mannes gelenkt wird, dachte ich. Und begriff im selben Moment, dass es ein Schicksal war, was mich mit der bedauerlichen Vera Jetjenkova verband.

»Sechsunddreißig Jahre waren wir verheiratet.« Sie gab mir einen kleinen Stoß, sodass ich etwas Portwein verschüttete. »Müsste ich da nicht wissen, was in diesen Papieren steht?«

»Und, was steht drin?«, fragte ich.

»Tja, daran erinnere ich mich nicht. Das müssen Sie wohl selbst lesen.«

Ich starrte sie an. Sie musste zu viel getrunken haben.

»Aber er hat sie doch mitgenommen«, sagte ich. »Sie sagten, dass er die Dokumente mitnahm, als er Patrick treffen wollte.«

»Ja, ja, ja, natürlich.« Sie zeigte alle Zähne beim Lachen. »Aber nicht die Kopien. Ha, ha.«

»Sie meinen, es gibt Kopien? Die Sie hier haben? In dieser Wohnung?«

Plötzlich verstand ich, warum Vera Jetjenkova nicht gesehen werden wollte. Ich entfernte mich schnell vom Fenster und ging einige Schritte in den Raum hinein.

»Micha traute diesem Amerikaner nicht. Er glaubte, dass er die Papiere möglicherweise nehmen und damit abhauen und das Geld selbst verdienen wollte.« Vera Jetjenkova machte eine theatralische Geste. »Ihr Amerikaner denkt doch immer nur ans Geld.«

Sie verschwand im Schlafzimmer. Sag nicht, du versteckst sie unter der Matratze, dachte ich.

Doch genau das tat sie, in einer braunen Mappe. Vera Jetjenkova drückte sie an ihre Brust.

»Hunderttausend«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Euro.«

»So viel Geld habe ich nicht.«

»Dann muss ich mich wohl an jemand anders wenden.«

»Ja, tun Sie das«, sagte ich und ging in den Flur, »ehrlich gesagt pfeife ich auf diese Dokumente.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit.

Vera Jetjenkova folgte mir in den Flur. »Es gibt viele, die dafür zahlen würden.«

»Ja, dann bleiben Sie doch hier sitzen und warten Sie. Bleiben Sie hier im Dunkeln und warten Sie darauf, dass die kommen und Sie irgendeinen Abhang hinunterstürzen, so, wie sie es mit Ihrem Mann getan haben!«

»Fünfzigtausend«, sagte Vera Jetjenkova.

Ich war bereits an der Tür und drückte den Griff nach unten.

»Ich pfeife auf das, was da drin steht«, sagte ich. »Ich will meinen Mann finden, und hier scheint er jedenfalls nicht zu sein.«

Ihre Nägel bohrten sich in meinen Arm.

»Nehmen Sie sie für zwanzig. Ich möchte sie nicht länger hier haben. Ich träume jede Nacht davon, dass sie an meiner Tür klingeln und mir ein Ende bereiten, so wie sie meinem Micha ein Ende bereitet haben.«

»Fünfhundert«, sagte ich, »dann verspreche ich, dass Sie die nicht mehr wiedersehen müssen.«

»Tausend.«

Ich nahm zehn zusammengerollte Scheine aus der Vordertasche meiner Jeans. Den Rest hatte ich in der Geldbörse und im Hotel. »Das ist alles, was ich habe«, sagte ich.

Vera Jetjenkova murmelte etwas auf Russisch und streckte die Hand aus, griff nach den Scheinen. Im selben Moment nahm ich die Mappe und spähte hinein. Lange Zahlenkolonnen, eine Art Buchführung. Obwohl ich nun schon seit acht Jahren selbstständig war, verstand ich nichts davon. Es waren Überweisungen, Orte, Namen. Ich blätterte und nahm Papiere heraus. Die Jahre 2004, 2006, 2008. Namen und Orte, Daten in langen Reihen. Notizen vom Typ: Mann, Sudan, Frau, Kiew, Anzahl: sieben. Anzahl: acht. Gelder, die ihren Besitzer wechselten. Mehrere Hunderttausend in einer einzigen Überweisung. Alain Therys Name schrie mir in schwarzer Tinte entgegen. Daneben gab es noch andere französische Namen. Britische, deutsche und polnische Namen. Ich schlug die Mappe wieder zu. Umklammerte sie mit den Händen, spürte meine Erregung.

Was auch immer er Patrick angetan hatte, er würde dafür büßen. Dieser Verbrecher.

Vera Jetjenkova stopfte die Scheine in ihre Geldbörse. Sie hatte sich eine elegante Handtasche unter den Arm geklemmt, von Dior, wie ich registrierte. Aus dem Portemonnaie nahm sie eine kleine Visitenkarte und reichte sie mir. Goldkante und geprägte Buchstaben, Leinen.

»Die Adresse stimmt natürlich nicht mehr«, sagte sie, »aber meine alte Handynummer habe ich noch. Falls Sie mich erreichen wollen.«

Ich starrte verständnislos auf die Karte. Als Adresse war eine Parfümerie in Kiew angegeben.

»Ich dachte, Sie wären offiziell tot?«, fragte ich.

Vera Jetjenkova lachte kurz auf.

»Ja, stellen Sie sich mal vor! Ich frage mich auch, wohin die Lieferanten wohl die Rechnungen schicken werden.«

Ein zottiger Hund überquerte die Gasse, der Gemüsehändler war dabei, seine Kisten in einen Gang zu schieben. Ich presste die Mappe fest an den Körper und warf einen Blick über die Schulter. Ich konnte niemanden sehen. Als ich den Aussichtspunkt erreicht hatte, versank gerade die Sonne hinter den Hügeln, und die unzähligen Ziegeldächer schimmerten golden.

In der Straßenbahn rief ich Benji an. Ich dachte: Ich werde die ganze Fahrt über mit ihm sprechen. Dann gibt es jemanden, der weiß, dass ich es bin, wenn sie mich finden.

»Lissabon, ist das dein Ernst?«, rief er. »Oh mein Gott, wie romantisch, sag nicht, dass du auch Fado hörst. Amália war eine Göttin.«

Fast konnte ich hören, wie es schmerzte, als er sich auf die Zunge biss.

»Entschuldige«, sagte er. »Ich vergaß. Hast du ...?«

»Nein«, antwortete ich, »ich habe ihn nicht gefunden.«

Eine Kurve, fast wäre ich umgefallen, und erwischte gerade noch eine der Halteschlaufen. Benjis Stimme klang in meinem Ohr wie eine Injektion meines alten Lebens. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte; es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor. War es zwei Tage her oder drei? Bevor ich in Paris ausgecheckt hatte, waren viele Mails von ihm in meinem Posteingang gewesen. Irgendetwas zu einem Meeting, viel über die Arbeit, ich hatte mir nicht einmal gemerkt, worum es ging.

Die Bremsen kreischten vor Anstrengung, als die Straßenbahn ihre Nase nach unten richtete und abwärts rollte.

»Was sind das für Geräusche?«, fragte Benji. Seine Stimme war so wirklich und klar. Sie half mir, wieder zu mir selbst zu finden. Ally, seine Arbeitgeberin, seine Freundin.

»Du wirst es mir nicht glauben, wenn du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast«, sagte ich, »diese Stadt ist ein Museum, dessen Instandhaltungsabteilung geschlossen wurde.«

»Haben die deshalb kein Internet? Ich habe dir schon mindestens siebentausend Mal geschrieben.«

»Du hättest ein Telegramm schicken sollen. Was wolltest du denn?«

»Ach, eigentlich nur Lappalien. Zum Beispiel will dich das Cherry Lane Theatre in der nächsten Saison für ihre Medea buchen, und vielleicht auch noch für eine Herbstvorstellung. Sie brauchen bis Ende der Woche Bescheid.«

»Ist das alles?«, fragte ich.

»Soll ich zusagen, oder willst du es lieber selber tun?«

Die Straßenbahn machte eine scharfe Kurve um eine Kathedrale herum, und ich sehnte mich nach den geraden, nummerierten Straßen New Yorks. Ich versuchte mich zu erinnern, wie der Direktor des Cherry Lane Theatre aussah. Wie er hieß. Ich kam einfach nicht darauf.

»Das klären wir später«, sagte ich. »Bist du in der Nähe eines Computers?«

»Natürlich.«

»Kannst du mir bitte mal ein Postamt in Lissabon raussuchen?«

»Aber natürlich, wozu hat man als Bühnenbildnerin denn sonst einen Assistenten?« Ich hörte das Klappern der Tastatur. »Sie spielen übrigens Joyce vor ausverkauftem Haus. Duncan droht damit, von all seinen Aufträgen abzuspringen, weil er gerade in einer Lebenskrise steckt. Er hatte vorher noch nie einen Publikumserfolg, und jetzt muss er erst mal nach Indien, um nach dem tieferen Sinn zu suchen. Und Leia hat gerade beim American Ballet unterschrieben. Die Armen.«

Ich ließ sein Geplauder an mir vorüberziehen und sah mich im Waggon um. Touristen mit Reiseführern und Digitalkameras, junge Mädchen auf Shoppingtour, zwei sehr alte Männer, so alt, dass sie die Straßenbahn mitgebaut haben könnten, einige Portugiesen, die aussahen, als wären sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, eine schwarze Frau mit Zöpfen. Ich war mir völlig sicher, dass mir niemand folgte. War Patrick sich sicher gewesen?

Die Straße wurde eben, und ich war in Baixa, dem flachen Stadtteil zwischen den Hügeln Lissabons, wo Behörden und internationale Kleiderboutiquen lagen.

»Ich nehme an, du willst zu dem zentralen Postamt«, sagte Benji. »Praça dos Restauradores, Avenida da Liberdade, kommt dir das bekannt vor?«

»Perfekt«, sagte ich. »Da war ich schon mal, im Hard Rock Café. Stehen die Öffnungszeiten dabei?«

»Sie machen um sieben zu.«

Einer der sehr alten Männer zwinkerte mir flirtend zu. Ich sah auf die Uhr.

»Oh nein. Und wann öffnen sie?«

»Um neun.«

Die Dokumente scheuerten unter meiner Jacke. Ich war gezwungen, sie heute Nacht im Hotel aufzubewahren.

Ein Signal ertönte an der Haltestelle, wo ich aussteigen musste. Von dort waren es zu Fuß zehn Minuten bis zum Hotel. Belebte Straßen. Mit Benjis Geplapper an meinem Ohr bog ich auf die Via Augusta ab, die Fußgängerzone, die durch Baixa führte. Rote Schilder in den Fenstern informierten über den Schlussverkauf, salde.

Wahrscheinlich dramatisierte ich die Dinge. Niemand würde mich verfolgen, da niemand wusste, dass es Kopien der Dokumente gab. Und abgesehen von Vera Jetjenkova wusste niemand, wo sie sich befanden.

»Ich beneide dich«, sagte Benji.

»Um den Fado?«, fragte ich. »Oder darum, dass ich die bessere Bühnenbildnerin bin?«

»Um Patrick«, antwortete Benji. »Darum, dass du jemanden hast.«

»Er ist weg.«

»Du wirst ihn finden«, sagte Benji.

Ich umklammerte das Handy. Ich presste es an mein Ohr und hielt es mitten im Satz wieder weg.

» ... nie jemanden gehabt, den ich verlieren könnte«, hörte ich Benji sagen. »... es wagen, zu lieben und geliebt zu werden, aber das ist natürlich kein Trost.«

»Rede weiter mit mir«, sagte ich. »Erzähl einfach nur irgendwas vollkommen Uninteressantes.«

»Wie zum Beispiel etwas aus meinem Liebesleben?«

Ich lachte und spürte, wie die Tränen in meinen Augen brannten.

»Wahnsinnig gern.«