TARIFA

DONNERSTAG, 2. OKTOBER

Die letzte Wegstrecke lag vor mir wie ein einsamer Bleistiftstrich direkt zum Meer. Ein militärisches Warnschild tauchte aus dem Nichts auf und verschwand wieder. In einer Felskluft klemmte ein halbverfallener Schafstall.

Hier endet es, dachte ich. Von hier führt kein Weg zurück.

Ich rutschte auf dem Sitz hin und her, änderte meine Position. Es half nicht. Mein Nacken und meine Wirbelsäule schmerzten, und mein Hintern war steif nach einer Nacht in einer Reihe von Bussen, erst von Lissabon zur spanischen Grenze, dann weiter nach Sevilla, wo ich in einen älteren, rumpligen Bus nach Algeciras umstieg und schließlich in diesen Nahverkehrsbus mit harten Sitzen für die letzte Strecke der Reise. Wenn nur mein Körper schmerzte, war das in Ordnung, ich wünschte mir diesen Schmerz sogar herbei. Die Orte, an denen ich vorbeifuhr, interessierten mich nicht. Ich hatte die Augen geschlossen, aber kaum geschlafen, sondern Bild für Bild von Patrick heraufbeschworen. Erinnerungen, die ich mir aufheben, an denen ich festhalten musste, denn wenn ich das verlieren würde – wie er mit einem Mundwinkel lächelte, die Wärme seiner Augen und die Berührung seiner Hände, den Tonfall seiner Stimme –, wenn ich nicht jedes dieser Details speicherte, bliebe mir nichts.

Mir war übel. Weißbrot mit Schinken am Vorabend, ich konnte mir vorstellen, wie sich das Kind zwischen den aufgeschwemmten Kohlehydraten wälzte, und auch das war mir schnurz. Ich hatte nicht um einen Eindringling gebeten, der nach Essen schrie und mich zum Weiterleben zwang.

Eine alte Frau stieg aus, mitten in der gelblichen Landschaft aus Hügeln mit verdorrtem Gras und verbrannten Büschen. Auf einem Bergkamm stand eine Reihe Windräder. Ihre Rotoren kreisten wild am Himmel, sie sahen aus wie die Arme von Ertrinkenden, die versuchten, sich an der Wasseroberfläche zu halten.

Ich schloss die Augen und versank erneut in den Bildern mit Patrick.

Zu Lebzeiten.

Wie er mit einer Tasse Kaffee zum Sofa im Wohnzimmer kam. Genau die richtige Menge an Milch darin. Seine weichen Lippen an meiner Stirn. American Idol im Fernsehen. Eine scherzhafte kleine Diskussion darüber, wer rausfliegen sollte. Für Amanda Overmyer sah es nicht gut aus, und Patrick fieberte mit Carly Smithson, er fand grundsätzlich am Europäischen Gefallen, während ich bei dieser Staffel eine Schwäche für das Herzchen David Archuleta entwickelte. Patrick zog mich damit auf, dass ich alt wurde und deshalb auf zuckersüße Sechzehnjährige stand. Wir hatten uns Essen vom Chinesen auf der Neunzehnten Straße geholt und saßen in unseren Sofaecken, ich mit der Zeitung und Patrick mit einem Buch, während das Programm weiterlief und die Stimmen gezählt wurden und die Zeit unendlich war. Und so hätte es bleiben sollen.

Der Bus bog zweimal hintereinander ab und bremste, und obwohl ich es nicht wollte, musste ich die Augen öffnen.

Tarifa.

Als Erstes begegnete mir der Wind. Er schlug mir mit all seiner Kraft entgegen, als ich aus dem Bus stieg, und blies mich fast um, trocken und heiß und unversöhnlich peitschte er mir ins Gesicht, zerrte an meinem Haar und zerzauste es.

Dies ist das Ende der Welt, dachte ich.

Der eigentliche Busbahnhof war ein Baucontainer aus Wellblech, den man auf eine windgepeitschte Brache geworfen hatte. Ein Bagger stand verlassen und schief zwischen Steinen und Gestrüpp. Weiter entfernt lagen viereckige Wohnblocks, Wäsche flatterte von den Balkons. Ich blinzelte gegen die weiße Sonne. Hinter den Häusern war ein Streifen vom Meer zu sehen.

Die Guardia Civil war in einem braunen Steinkomplex untergebracht, der sich über einen ganzen Straßenzug erstreckte. Auf der Rückseite verlief hoch über den Mauern der Stacheldraht.

Die spanische Polizei bestand aus drei Einheiten, das hatte ich am Vortag in Lissabon im Netz gelesen. Die Guardia Civil war für die Sicherheit in den Grenzgebieten zuständig und wurde auch in dem Artikel über illegale Immigration erwähnt.

Im Wartezimmer hielt eine schwarz gekleidete Frau ein plärrendes Baby in eine Decke gehüllt an ihrer Schulter, neben ihr waren zwei Männer in ihren Stühlen zusammengesackt und eingeschlafen. Ich wurde vor ihnen aufgerufen.

»Sie sind also amerikanische Staatsbürgerin?« Der Polizist saß hinter seinem Schreibtisch, der mitten in dem kahlen Raum stand. »Auf dieser Seite von Gibraltar haben wir nicht viele amerikanische Touristen.«

»Ich bin keine Touristin«, antwortete ich und setzte mich, bevor er mich dazu aufgefordert hatte.

»Aha.« Der Polizist lehnte sich zurück und sah mich mit einer gewissen Aufdringlichkeit im Blick an. Hinter ihm hing ein Bild der Jungfrau Maria.

»Am vergangenen Montag wurde ein Mann hier am Strand von Tarifa tot aufgefunden«, sagte ich.

»Sind Sie Journalistin?«, fragte er misstrauisch.

»Nein«, sagte ich und holte tief Luft. »Ich bin seine Frau.«

Der Polizist lachte auf, ein lautes und dröhnendes Lachen, das genauso schnell wieder erstarb, wie es gekommen war.

»Nein, nein, Sie irren sich, señora. Es handelte sich um einen illegalen Immigranten, einen Schwarzafrikaner. Sie versuchen, in Booten hierherzugelangen, verstehen Sie, in kleinen, untauglichen pateras überqueren sie die Meerenge. Wir dachten, wir hätten dieser Art von Verkehr einen Riegel vorgeschoben, aber es gibt immer mal welche, die versuchen, sich durchzumogeln.«

Ich nahm das Bild von Patrick aus der Tasche und legte es vor ihn auf den Schreibtisch.

»Ist das der Tote?«

Der Polizist beugte sich erst über das Foto und sah dann wieder zu mir auf. Ein misstrauischer Blick. Missbilligend. Er hielt das Bild hoch und legte es anschließend wieder auf den Tisch.

»Wer ist das?«

»Dieser Mann heißt Patrick Cornwall und ist amerikanischer Staatsbürger und Journalist, wohnhaft in New York. Wir sind verheiratet.« Ich hatte mir die spanischen Sätze im Voraus zurechtgelegt, um Worte zu benutzen, die im Wörterbuch standen und nicht nur auf den Straßen von Losaida existierten.

Der Polizist musterte mich von oben bis unten.

»Sie klingen aber nicht wie eine Amerikanerin.«

»Ich bin im puertoricanischen Viertel von New York aufgewachsen«, antwortete ich, »da lernt man von allem etwas.«

»Und das soll Ihr Mann sein?«

Er klopfte mit dem Stift auf das Foto.

»Er ist vor zwei Wochen in Lissabon verschwunden. Er wurde ermordet.«

»Jetzt lassen Sie uns die Sache erst mal ein bisschen ruhiger angehen«, sagte er. Dann stand er auf und nickte dem Abbild der Jungfrau Maria zu, bevor er sich wieder an mich wandte.

»Wir wissen, dass in der vorausgegangenen Nacht ein Boot von der Küste Marokkos ablegte.« Er zeigte in Richtung Meer. »Wir wissen, dass es vermutlich unterging, oder sie sprangen vor der Küste ins Wasser. Manchmal werden sie dazu gezwungen, damit der Kapitän rechtzeitig abhauen kann, bevor wir ihn zu fassen kriegen. Vielleicht sind sie dieses Mal zu früh gesprungen.« Er umrundete den Schreibtisch und ging zu einer Wandkarte. »Eine der Leichen wurde hier angespült«, sagte er und schlug energisch mit dem Stift auf einen Platz auf der Karte, wo Land und Meer sich trafen. »Und am Tag davor hatten wir zwei in Cádiz, einen Mann und eine Frau. Sie war im sechsten oder siebten Monat schwanger. Insgesamt haben die marokkanische Küstenwache und wir in der letzten Woche sieben Leichen gefunden.«

Ich schälte mich aus meiner Jacke.

»Er hatte hier eine Tätowierung«, sagte ich und zog den Ausschnitt meines Pullovers über die linke Schulter herunter. Der Blick des Mannes kroch auf meiner Haut entlang, als ich die Tätowierung entblößte: die beiden Blumenranken, die sich trafen und ineinander schlangen, der Name, der für immer eingeritzt war. Patrick.

»Auf seiner Tätowierung steht Alena«, sagte ich. »Ich weiß, dass der Mann am Strand genau so eine hatte.«

Der Polizist ging einige Schritte auf mich zu. Beugte sich herab. Drückte mit einem Finger auf meine Tätowierung, strich darüber. Sein Atem war dicht an meinem Ohr.

Mich schauderte, doch ich hielt still. Dann ging ich um den Schreibtisch herum und setzte mich wieder.

»War Ihr Mann ein Wassersportler?«, fragte er schließlich.

»Wie bitte?«

»Tarifa ist bei Surfern sehr beliebt.« Er lehnte sich zurück und kippelte mit dem Stuhl. »Kitesurfer und Windsurfer aus der ganzen Welt kommen hierher, aus England, Skandinavien, ganz Europa. Sie haben keinen Respekt vor den Winden und dem Wasser, sie glauben, alles wäre ein Spiel dort draußen auf dem Meer. Unter ihnen gibt es sicher auch ein paar Amerikaner.«

Patrick als Surfer. Die Idee war so idiotisch, dass ich mich erst kaum zu einer Antwort durchringen konnte. Wenn er vor etwas Angst hatte, dann waren es tiefe Gewässer. Ich schüttelte den Kopf.

»Er kann kaum schwimmen.«

Der Polizist beugte sich vor und drückte auf einen Knopf an der Seite des Schreibtischs. Die Tür wurde geöffnet, und ein junger Mann schaute herein.

»Holen Sie mal die Unterlagen über den Afrikaner vom letzten Montag.«

Als die Tür hinter dem jungen Polizisten zuschlug, lehnte sich der Beamte über den Schreibtisch, seine durchdringenden Augen hefteten wie Kletten an mir.

»Ich bin seit vierzehn Jahren bei dieser Polizeieinheit«, sagte er. »Ich kenne diese Grenze, ich weiß, was abläuft. Neue Ideen verbreiten sich auf beiden Seiten wie ein Lauffeuer. Eine Zeitlang hatten wir jede Woche überladene pateras, die auf unser Gebiet vordrangen, und dann, als wir die Radarüberwachung eingeführt hatten, kam es in Mode, sich unter die Autokarosserien auf der Fähre aus Tanger zu hängen. Anschließend waren es die Tankschiffe; ich habe schon fast alles erlebt.« Er lachte und verschränkte die Hände im Nacken. »Aber es ist das erste Mal, dass jemand behauptet, ein Amerikaner hätte versucht, die Meerenge zu überqueren.«

»Das habe ich doch auch gar nicht behauptet«, sagte ich. »Er wurde ermordet.«

Der untergebene Polizist kam mit einer Mappe herein, die er dem Chef überreichte. Er schielte zu mir herüber. Ich zog den Pulloverausschnitt, der noch immer unterhalb meiner Schulter hing, wieder zurecht.

Der Polizist hinter dem Schreibtisch schlug die Mappe auf und holte einige Fotos heraus. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Körper. Ich richtete mich halb auf, und er schob mir drei Bilder hin.

Das Erste zeigte Patrick in voller Größe, an einem Strand liegend. Er war nackt. Er hat geschrien, dachte ich, er schrie, als sie ihn ins Meer warfen. Mir schwirrte der Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Zwang mich hinzusehen, legte die Finger auf das Foto. Blanke Oberfläche. Tot.

Das nächste Bild war eine Nahaufnahme. Ich legte es schnell weg. Ich wusste es ja bereits. Wollte nicht, dass dies zu meinem letzten Bild von Patrick wurde, dass es sich vor den Kuss drängte, den er mir gab, bevor er ins Taxi stieg und nach Newark fuhr, um den Flug nach Paris zu nehmen. Ich trocknete mir das Gesicht mit dem Ärmel und zwang mich dazu, das letzte Bild anzusehen.

Es zeigte die Tätowierung auf seiner Schulter, die Blumen, die sich um meinen Namen rankten, wie etwas, das Botticelli gemalt haben könnte. Sie leuchtete rot und grün. Nach dem ersten Besuch beim Chinesen hatte er zu einem anderen Tätowierer gehen müssen, um die Farben einsetzen zu lassen. Der Chinese hatte nur begrenzte Erfahrungen mit Tätowierungen auf schwarzer Haut. Helle Farbtöne verschwanden auf Patricks Teint, aber das tiefe Rot funktionierte, genauso wie Grün. Alena in Rot, die Blumenranken in Grün.

Mein Magen rebellierte, und ich murmelte etwas zur Entschuldigung, presste mir die Hand vor den Mund, sprang auf, rannte durch das Wartezimmer, wo ich die Frau mit dem Kind für den Bruchteil einer Sekunde als schwarzen Fleck am Rande meines Blickfeldes wahrnahm, und stolperte in die Damentoilette.

Ich warf mich über die Kloschüssel und übergab mich, Weißbrot und Schinken und Saft, ich bebte am ganzen Körper, als sich mein Magen zusammenkrampfte und das letzte Fünkchen Hoffnung zusammen mit dem Essen in einem Schwall aus mir herausbrach.

Ich spülte mir lange das Gesicht mit kaltem Wasser, klatschte die Handflächen gegen die Wangen. Trocknete mir das Gesicht mit Klopapier ab.

Der Polizist hatte sein Auftreten geändert, als ich zurückkam. Er saß aufrecht auf seinem Stuhl, ernst.

»Wie geht es Ihnen?«

Ich schüttelte nur den Kopf. Meine Beine zitterten, als ich mich setzte.

»Wir müssen ihn identifizieren«, sagte er und schob die Bilder zusammen. Ich sah nicht hin.

»Er ist es«, sagte ich und presste meine Handflächen auf die Oberschenkel, damit sie zu zittern aufhörten. »Das ist Patrick Cornwall, achtunddreißig Jahre alt. Amerikanischer Staatsbürger.«

Er kratzte sich am Hals. »Das reicht natürlich nicht, um ihn für tot zu erklären, in solchen Angelegenheiten müssen die Abläufe genau befolgt werden.«

»Was faseln Sie da?« Ich verfiel wieder in mein ungehobeltes Spanisch von früher.

»Sonst könnte ja jede hierherkommen und behaupten, das wäre ihr Mann, und das Erbe abräumen. Ich sage nicht, dass Sie das tun würden, aber es gibt auch andere Frauen.«

»Ich sage doch, dass er es ist.«

Der Polizist hob seine Augenbrauen, die über dem Nasenrücken komplett zusammengewachsen waren.

»Wir benötigen eine gesicherte Identifizierung«, sagte er und zog einige Papiere aus der Mappe.

»Und was meinen Sie damit?«

Ich legte mir die Jacke über die Schultern.

»Wenn wir einen marokkanischen Immigranten finden, informieren wir die marokkanische Polizei, die den Fall daraufhin übernimmt. Mit einem Einwanderer aus einem Land südlich der Sahara ist es nicht ganz so leicht.«

»Kapieren Sie denn gar nichts?« Meine Stimme überschlug sich, als sich meine Kehle zuschnürte. »Er ist kein verdammter Afrikaner, er ist Amerikaner in der siebten Generation!«

Der Polizist wedelte mit dem Papier und legte es vor sich auf den Tisch.

»Wir können diejenigen, die angeschwemmt werden, nicht alle identifizieren«, sagte er. »Wir wissen nicht einmal, aus welchem Land sie kommen, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, dem Senegal ... Wo sollten wir mit der Suche anfangen?«

Ich verschränkte die Arme und legte meine Hände in die Achselhöhlen, um sie zu wärmen.

»Es werden Fingerabdrücke und Blutproben genommen, dann werden die Leichen eine Zeitlang im Kühlraum aufbewahrt. Mir ist noch nie zu Ohren gekommen, dass jemals eine identifiziert wurde.«

Ich starrte ihn an, aber er faselte immer weiter von seinen dämlichen Immigranten. Normale Logik spielte an diesem Ort offenbar keine Rolle, und ich begriff, dass Patrick ein zweites Mal zu verschwinden drohte, in einer kafkaesken Bürokratie, die den Tod verwaltete. Mein Blick blieb an der Jungfrau Maria und dem Jesuskind auf ihrem Arm hängen. Ein absurder Gedanke inmitten des Ganzen: Hätte es zu dieser Zeit schon DNA-Analysen gegeben, dann hätte man beweisen können, wer der Vater war.

»Wo ist hier die nächste amerikanische Botschaft?«, fragte ich.

»In Sevilla.«

Ich will ihn nicht sehen, dachte ich. Will nicht in einem frostigen Kühlraum stehen, wenn sie ein Tuch von seinem Gesicht heben und »das ist er« sagen, will nicht in Tränen ausbrechen. Will nicht, dass mein letztes Wiedersehen mit ihm so kalt ausfällt.

»Können Sie diese Daten, Fingerabdrücke und so weiter an die amerikanische Botschaft mailen?«, fragte ich.

»Nein«, sagte der Polizist, »so was machen wir nicht.«

»Ja, aber ... cojones!« Ich schlug mit der Hand auf den Tisch und war kurz davor, ihn auch als Hurensohn zu beschimpfen, als der Polizist den Mund öffnete und lachte, dass man das Gold seiner Backenzähne aufblitzen sah.

»Aber wir können natürlich ein Fax schicken.«

Vor dem Polizeigebäude wählte ich die Nummer der Botschaft von Sevilla.

Am anderen Ende meldete sich ein Mann namens Tom McNerney, der dem Akzent nach aus dem mittleren Westen stammte.

»Es geht um etwas mehr als eine Passangelegenheit«, sagte ich.

»In Ordnung. Erzählen Sie mal, dann werde ich sehen, was ich tun kann.«

Ich fasste die Geschichte so kurz und sachlich zusammen, als ginge sie mich nichts mehr an. Den Blick auf die massiven Steinwände des Polizeigebäudes gerichtet. Jemand hatte ein Anarchiezeichen auf die Mauer geschmiert.

»Beruhigen Sie sich erst mal«, sagte Tom McNerney, als ich fertig war. »Ich werde Sie zurückrufen, sobald ich ein Fax aus Tarifa bekommen habe, und dann klären wir die Sache Schritt für Schritt, ja?«

»Ja.« Mein Herz schnürte sich zusammen. Endlich ein Mensch, dem die Sache nicht egal war.

»In Tarifa kann ich im Übrigen das Café Central in der Altstadt empfehlen, ein netter Ort für ein einfaches Mittagessen. Historische Umgebung, moderate Preise.«

»Danke«, sagte ich, »darauf werde ich zurückkommen.«

Ich bog um die Ecke, und der Wind schlug mir mit voller Kraft entgegen. Der peitschende Sand stach im Gesicht wie Nadeln. Vor mir lagen der Strand und das Meer, ein offener Horizont, der ins Unendliche reichte.

Dort irgendwo war er gefunden worden.

Ich sank auf eine Bank aus Beton. Suchte in meiner Anrufliste die zuletzt gewählten Nummern.

Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Hier ist nochmal Ally Cornwall«, sagte ich.

»Ach, Sie sind es«, antwortete Terese. »Sie waren letztens einfach weg. Hatten Sie aufgelegt?«

Ich beugte mich vor und zog mir die Jacke über den Kopf, zum Schutz vor dem Wind.

»Es gibt nur noch eine Sache, die ich wissen muss.«

»Mein Vater sagt, ich soll nicht mehr mit Journalisten sprechen. Sie drehen einem nur das Wort im Mund um, und am Ende kommt was Falsches dabei heraus.«

»Ich bin keine Journalistin.«

»Worum geht es denn dann hierbei genau?«

»Das ist etwas schwer zu erklären«, antwortete ich und scharrte mit den Füßen in dem feinen Sand, der auf die Steinplatten geweht worden war. »Ich sagte doch, dass ich möglicherweise den Mann kenne, den du am Strand gefunden hast, und jetzt weiß ich, dass meine Vermutung gestimmt hat. Ich habe Fotos von ihm gesehen.«

Terese rang nach Atem.

»Ist das wahr?«, fragte sie und schwieg einige Sekunden. »Auf diese Weise hatte ich noch gar nicht über ihn nachgedacht. Dass jemand ihn kennen könnte, meine ich.«

»Ich muss wissen, wo er lag«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Ganz exakt.«

»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Terese.

»Erzähl es mir einfach. Bitte.«

Einige Sekunden lang war es still. Über meinem Kopf kreisten Möwen.

»Ich habe das bisher noch niemandem erzählen können«, sagte Terese schließlich und brach in Tränen aus. Sie schluchzte und schniefte. Und während aus ihr heraussprudelte, wie schlecht es ihr ging, und dass sie in der Nacht mit einem Mann am Strand gewesen war, den sie am selben Abend kennengelernt hatte – irgendeinem Surfertyp namens Alex aus irgendeiner unwichtigen Stadt in England, der ihr offenbar das Herz gebrochen hatte –, stapfte ich über die Dünen. Es gelang mir, ihr einige Fakten aus der Nase zu ziehen, bevor die Stimme am anderen Ende komplett in unkontrolliertem Schluchzen unterging.

Ein dunkler Pier mit Steinen reichte einige Meter ins Meer hinein.

»Genau dort lag er«, schluchzte Terese, »ich bin auf ihn getreten, verstehen Sie?«

Ich kletterte auf die Steine und setzte mich. Die Meeresoberfläche hob und senkte sich so stark, dass auch der Boden unter mir zu schwanken schien, es gab nichts Festes mehr, nichts Beständiges. Über meinem Kopf flog ein orangefarbener Drache, der einen Surfer im Neoprenanzug an einer Leine durch die Luft zog, er prallte mit seinem Brett auf dem Wasser auf und stürzte. Die Luft war salzig und heiß.

»Ich verstehe nicht, wie er mir so etwas antun konnte«, schniefte Terese.

Ich starrte das Telefon in meiner Hand an, hatte beinahe vergessen, dass sie noch da war.

»Wer denn?«, fragte ich verwirrt.

»Alex. Ich meine, wir hatten doch ...«

Das Wasser spritzte hoch, als eine neue Welle sich an den Steinen brach und weiter auf den Strand rollte. Die Wasseroberfläche schäumte. Irgendwo neben den Klippen, zwischen den Steinen eingeklemmt, hatte er gelegen. Ich brachte es nicht über mich, nach unten zu sehen.

»Ich hätte es nicht tun sollen, oder?«

»Was denn?«

»Na, mit ihm zu schlafen?«

»Was hat das denn mit der Sache zu tun?«

Meine Augen brannten von dem Sand und dem grellen Licht. Ich blinzelte zum Horizont im Westen und konnte nicht ausmachen, wo das Meer endete und der Himmel begann.

»Wenn ich doch nein gesagt hätte«, jammerte Terese. »Dann hätte er mich vielleicht gemocht.«

»Ach, Blödsinn«, sagte ich, und meine Gedanken wanderten zu unserem ersten Abend, als ich Patrick durch meine Haustür in East Village zog, seine Hand in meiner Hand, als ich ihn das dunkle Treppenhaus hinaufführte, in dem die Glühbirnen nie ausgewechselt wurden. »Manchmal muss man eben ein Risiko wagen.«

Ich strich mir eine Strähne aus den Augen, doch der Wind wehte sie sofort wieder zurück.

»Er hat meinen Pass geklaut«, klagte Terese. »Verstehst du, er hat ihn genommen, um ihn zu verkaufen, bloß fürs Geld. Und ich bin auch noch zurück in die Blue Heaven Bar gegangen, nur um ihn noch einmal zu sehen.«

»Auf welcher Seite der Klippen hat er gelegen?«

»Aber das habe ich doch gesagt. Auf der rechten, ungefähr bei der Hälfte des Piers.«

Und ich zwang mich, meinen Kopf zu drehen und nach unten zu sehen. Terese existierte nicht in diesem Bild, nur der Gedanke an Patricks Körper. An die Kälte des Wassers. Eine Welle überschlug sich in schäumende Wirbel, wühlte Sand vom Boden auf und hinterließ einige Muschelschalen, als das Meer sie zurückzog. Dann kam die nächste Welle und verwischte die Spuren der vorigen.